7.

Sie hatten fünfzehn Minuten bis zum Grandoppenheimer-Hospital gebraucht. Rays Herz hatte in dieser Zeit eine Geschwindigkeit angenommen, sodass es gefühlt schneller schlug, als die Flügel eines Kolibris. Seine Finger krallten sich während der Autofahrt in den rauen Stoff des Sitzes und seine Sicht trübte sich durch die vielen kleinen Tränen in seinen Augenwinkeln. Auch wenn Phineas immer wieder versucht hatte ein Gespräch zu führen, hatte Ray kein Wort gesprochen. Er war sofort aus dem Auto gestiegen, als Phineas den alten Volvo in einer Parklücke direkt vor der Notaufnahme zum stehen brachte. Seine müden Knochen trugen ihn durch die durchsichtige Glastür.

Phineas direkt hinter ihm.

Er konnte von der Entfernung schon den elendigen Haufen ausmachen, der seine Familie darstellte. Und ohne zu zögern war er zu ihnen getreten. Helene und Peaches saßen auf Stühlen an der Wand, während Laurel auf dem Boden saß und ihren Kopf daran abgelehnt hatte. Yorick lief aufgeregt von rechts nach links und auch Thilo stand etwas abseits an einem Getränkeautomaten da. Das Unbehagen, das er wohl gerade verspürte, konnte man nur zu gut aus seiner Mimik ablesen.

Yorick war der erste der Ray bemerkt hatte. Er blieb stehen. Seine schwarzen Haare waren durcheinander, seine Augen rot und seine Wangen noch nass. Für einige Sekunden stand er einfach da, sah zu wie Ray sich ihm näherte und ließ es einfach geschehen, als er ihn in den Arm nahm. Sein Gesicht wurde tief in Rays Halsbeuge gedrückt und dann konnte Yorick nicht anders, als einen tiefen unterdrückten Schluchzer aus seinem Mund entweichen zu lassen. Seine groben Hände klammerte sich in den zarten Stoff von Rays T-Shirt.

Und nun war es auch bei Ray soweit. Die Tränen verließen seine Augen, liefen über seine Wangen und hinterließen kleine nasse Schlieren. Er hielt seinen Bruder im Arm; er war sein rettender Anker und Yorick war auch seiner. All diese anwesenden waren sein Anker. Und Odette natürlich, aber sie konnte er leider nicht in den Arm nehmen.
Die beiden wussten nicht wie lange sie so da standen, aber nun kam auch Helene hinzu. Ihre zarte Hand legte sich auf Yoricks Schulter. Dieser löste die Umarmung und sah in die verweinten Augen seiner Schwester. Niemand sagte etwas. Niemand brauchte etwas zu sagen. Alles was jetzt zählte war, dass sie zusammen waren. Dass sie sich gegenseitig stützten.

Und irgendwann löste Helene sich von Yorick, ging ein paar Schritte nach vorne und drückte ihr Gesicht gegen Rays Brustkorb. Auch sie hielt er fest. Mehrere Minuten weinte sie still in sein T-Shirt hinein und auch Ray konnte es nicht zurück halten. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen und seine Atmung kam nur noch unkontrolliert. Helene ließ ihn los und sah ihn in die Augen. Die blauen Augen ihres Bruders waren glasig durch die Tränen und in Helene brach etwas. Sie wollte nicht, dass er leidete. Niemand sollte leiden.

Und allmählich kamen auch die anderen auf Ray zu, nahmen ihn in den Arm, hielten ihn und er hielt sie. Und ganz zum Schluss war da noch Thilo. Rays Hass war komplett verflogen. Er verspürte keine Wut mehr, nur noch unsagbare Dankbarkeit, dass er nun da war, um ihm zur Seite zu stehen. Auch ihn nahm Ray in den Arm. Länger als nötig, aber er konnte nicht anders. Er klammerte sich an allen fest,weil er Angst hatte unter zu gehen.

Ray ließ Thilo los, sah ihn ins Gesicht und entdeckte unendliche Reue.
»Es tut mir so unendlich Leid. Was ich... Was ich gesagt habe ging gar nicht, aber ich...« Thilo konnte nicht zu Ende reden. Seine Stimme war leise und zart und Ray unterbrach ihn. »Es ist ok, Thilo. Es ist alles ok.«

Doch Ray wusste selbst, dass es ganz und gar nicht so war. Klar hatte er Thilo verziehen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass seine Ma' heute Nacht noch sterben könnte.

Das war nicht ok.

Auch Ray hatte sich auf einen der Stühle niedergelassen, wartete zusammen mit den anderen. Sein Herz hatte sich auch in den nächsten drei Stunden, die er und die anderen warten mussten, nicht beruhigt. Es schlug immernoch unkontrolliert und ließ die Angst in sich dadurch nur noch wachsen. Er konnte kaum noch ordentlich Atmen und seine Gedanken waren durchgehend bei seiner Ma'. Er musste sich aber auch eingestehen, dass sie manchmal zu Odette abdrifteten. Das war sein einziger kleiner Lichtblick.

Heute Nacht waren diese Gedanken erlaubt. Er musste sie zu lassen.

Sonst... sonst würde er ertrinken.
Da war er sich sicher.

»Ich...«,Rays Stimme brach. Sie war nur ein elendiges Krächzen, dennoch verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Alle sahen ihn an. Warteten darauf, dass er weiter sprach. Und irgendwann nach einigen Sekunden hatte Ray das Gefühl, dass er halbwegs wieder sprechen konnte. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich...werde hier noch verrückt. Ich muss es wissen. Ich muss wissen, ob sie stirbt, oder wohlmöglich schon tot ist.« Er schluckte den steinharten Klos in seinem Hals hinunter, schloss erschöpft die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Er hatte nicht einmal mehr Kraft vor seelischen Schmerzen zu sterben. Da war nur noch diese beängstigende Stille in ihm. Helene saß neben ihm. Ihre zarte kleine Hand legte sich auf Rays große und zitternden Hand. Er sah zu ihr hinunter, sah in ihre Augen.
Und dann war da keine Stille mehr.
Für eine Sekunde flammte der Schmerz wieder auf. Er spiegelte sich aus Helenes Augen direkt in seine Seele. Und für eine Sekunde brachte es ihn um. Der neunzehn Jährige konnte seine Schwester nicht ansehen. Er konnte ihre Schmerzen nicht ertragen. Ray wollte, nein, er musste dieser Situation entkommen. Er konnte es nicht ertragen seine Familie zu sehen, wie sehr sie leideten und schon gar nicht, wenn er genauso sehr leidete. Also stand er auf, ging ein paar Schritte und erklärte sich mit einem »Ich geh aufs Klo.«

Dabei wollte er alles, außer auf die Toilette. Höchstens um ungestört zu weinen und zu schreien und bei zweiterem, würde er wohl unwahrscheinlich ungehört bleiben. Er ging den gelben langen Flur entlang. Seine Schritte hallten dumpf in sein Ohr und irgendwann, nach der fünften Zweigung, die er passiert hatte, hatte er endlich eine Ärztin entdeckt. Jemand der ihm hoffentlich weiter helfen konnte. Die junge Frau sah noch sehr grün hinter den Ohren aus und Ray hoffte inständig, dass sie seiner Ma' ordentlich helfen konnte. Sie lehnte an einem Tresen, las eine Patientenakte und drank einen Schluck aus einen Glas.Rays Herz schlug schneller. Das was er gleich von dieser Frau erfahren würde, konnte sein komplettes Leben verändern.Ray wusste nicht, ob er so eine Veränderung wollen würde. Um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen räusperte er sich kurz. Ihr Blick glitt zu ihm auf. Die Augen müde und das Gesicht fahl. Beinahe sah es so aus, als hätte sie eine schlimmere Nacht gehabt, als Ray es hatte. »Sie müssten eine Patientin hier haben. Anastasia Ford. Sie wurde nach einem Autounfall eingewiesen. Ich möchte wissen, wie es ihr geht.« Bevor Ray überhaupt die letzte Silbe aussprechen konnte, hatte die Ärztin schon mit dem Kopf geschüttelt. »Ich darf ihnen keine Informationen überlassen. So etwas nennt sich ärztliche Schweigepflicht.«Ihr Blick fuhr wieder zur Akte. Ray fuhr sich frustriert durch die Haare. »Ich...ich bin ihr Sohn. Also eigentlich ihr Enkel, aber sie hat mich groß gezogen und ich...«-»Mein Beileid Herr Ford. Ich werde sofort Doktor Shepard holen. Er ist der behandelnde Arzt ihrer Großmutter.« Ray machte es zwar ein wenig aus, dass sie ihn einfach so unterbrochen hatte, aber Hauptsache er würde informiert werden.
Sie hatte ihn stehen lassen, war einfach gegangen und um die Ecke gebogen. Wenige Minuten später kam sie zurück. Mit einem Mann. Er war so alt, dass er Rays Großvater hätte sein können, aber es beruhigte ihn. Er sah so aus, als wüsste er was er tun würde. »Guten Tag Herr Ford. Ich bin Richard Shepard und ich behandle ihre Mutter.« Er reichte Ray seine Hand und leicht überrumpelt nahm er sie entgegen und schüttelte sie. Bevor er ihn aber korrigieren konnte, tat es schon die andere, wesentlich jüngere, Ärztin. »Sir, sie ist nicht seine Mutter. Sie ist zwar seine Erziehungsberechtigte, aber es ist seine Großmutter.« Dr. Sheppard nickte. »Danke Olivia.« Ray ging es langsam zu weit. Konnte er ihm nicht einfach sagen, was Sache war?

»Also Doktor, wie geht es meiner Ma'?« Seine Stimme war dünn und man hörte nur zu gut, dass er geweint hatte und wieder kurz davor war. »Sie hat einen vierfachen Beinbruch erlitten. Zusätzlich wurden durch den Aufprall einige Rippen geprellt und Organe gequetscht. Aber was uns Sorgen macht ist die Schädelbasisfraktur, die sie durch die stumpfe Gewalteinwirkung erlitten hat.« Ray schluckte. Er hatte schon einige Male das Wort Schädelbasisfraktur gehört, aber war es tödlich? »Stirbt sie davon?«
Seine Tränen wollten ausbrechen. Sie mussten raus und wenn er mit ja antworten würde, würde er zusammen brechen. Jetzt gleich hier, ohne seine Familie und Freunde.

»Nicht zwingend.« Sein Herz explodierte. Da musste noch ein aber kommen. Dieser Satz war eindeutig ein aber-Satz. »Durch den Aufprall wurden Knöcherne Strukturen der vorderen Schädelgrube verletzt. Dabei sind Nase und Schädelbasis betroffen. Der Bruchspalt reicht bis in die Nasennebenhölen.
Normalerweise heilen Schädelbasisfrakturen ohne ärztliches zutun, aber ihre Großmutter hatte ein offenes Schädelhirntrauma. Wir haben eingeklemmte Strukturen entlastet und einige Bruchspalten gedeckt. Aber Anastasia ist noch nicht über den Berg,wenn ihr Hinrdruck weiter steigt,stirbt sie. Und selbst wenn sie wieder aufwacht heißt es nicht, dass sie überlebt. Es können Komplikationen auftreten. Sie kann im Nachhinein ihr Sehvermögen verlieren. Ein Bewusstseinsverlust ist auch nicht unwahrscheinlich. Wir werden ihr jetzt prophylaktisch Antibiotika verabreichen, um die Möglichkeit einer Meningitis zu verringern. Wenn ihr Gehirndruck diese Nacht noch sinkt, dann stehen die Chancen gut, dass sie aus dem Koma in das sie gefallen ist wieder aufwacht. Sie wird diese Nacht aber vielleicht nicht überleben.« Der letzte Satz schlug ihm ins Gesicht. Brachte ihm zum taumeln und als der Arzt seine Hand auf Rays Schulter legte war es mit ihm geschehen. Seine Augen tränten. Und irgendwann flossen die Tränen unaufhaltsam aus seinem Gesicht.

Er weinte. Er weinte, für alles was ihm wichtig war.
Seine Ma' würde diese Nacht vielleicht sterben.

Sie würde sterben.


Ich bin keine Ärztin. Ich weiß jeglich nur das was Doktor.net weiß, also gebe ich keine Garantie darauf, dass die ärztlichen Angaben richtig sind.

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