6.
Ray war einfach wieder nach Hause gefahren. Er hatte sein Handy nicht mehr angeschaltet. Er hatte sich in seinen Volvo gesetzt und war um halb ein Uhr in einer regnerischen Nacht nach Hause gefahren. Das Lächeln lag auch noch auf seinen Lippen, als er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Eine Stille umhüllte Ray. Er war an diesem Abend schon einmal nach Hause gekommen und da hatte ihn fröhliches und heiteres Gelächter und Gerede empfangen.
Aber dieses Mal war da rein gar nichts. Nur das sanfte warme Licht, das aus dem Wohnzimmer strahlte und den Flur ein wenig erhellte, ließ darauf schließen, dass noch jemand in dieser Wohnung sein musste.
Ray dachte sich nichts dabei. Wahrscheinlich waren die anderen gegangen, oder sind schlafen gegangen. Und wahrscheinlich saß nur noch seine Ma' auf der Couch und las ein Buch oder war sogar auf der Couch weggenickt.
Er zog sich seine schwarzen Schuhe aus und auch seinen braunen Pullover zog er ebenfalls über seinen Oberkörper. Darunter blitzte das helle weiße T-Shirt auf.
Er fuhr sich durch seine rostbraunen Haare und seufzte einmal. Schon die ganze Zeit dachte er an Odette. An ihre sanfte Stimme und an diesen schönen Abend. Und heute, nur eine einzige Nacht, wollte er diese Gedanken zu lassen.
Nur ein einziges Mal.
Seine dumpfen Schritte hallten durch den blauen Flur. Und bevor er überhaupt das Wohnzimmer erreichen konnte, vernahm Ray ein Poltern und kurz darauf streckte Phineas auch schon seinen blonden Schopf durch die offene Wand. Dieses Mal war seine dunkelblaue Kappe nicht auf seinen Haaren und für Ray sah dieses Bild ein wenig befremdlich aus. Der große neunzehn jährige Junge ging an Phineas vorbei und ließ sich auf die Couch fallen. Er streckte seinen müden Glieder von sich und schloss kurz die Augen. »Schlafen die anderen schon?«, wollte Ray wissen. Als er seine leicht heisere Stimme vernahm, musste er unweigerlich an die Darth Vader tiefe Stimme von Thomas denken und gleichzeitig erklang die sanfte liebliche Stimme seiner Ziehtochter.
Und dann war da noch etwas seltsames, denn während er an die Klangfarben dieser beiden Stimmen dachte, vernahm er nicht die klare Stimme seines besten Freundes.
Er hatte ihm nicht geantwortet.
Ray musste seine Augen öffnen, um zu sehen,dass Phineas immernoch mit dem Rücken zu ihm an der selben Stelle stand. Er stand Stocksteif da, seine Schulter angespannt und seine Hände hilfesuchend in seine Jeanshose gekrallt. In Ray wuchs Unbehagen. Diese Nacht hatte einen seltsamen Flair. Sie fühlte sich so leicht an und gleichzeitig hatte sie irgendetwas schweres, schlechtes, an sich. Etwas dessen Existenz Ray sich noch nicht bewusst war.
Etwas dessen Existenz Ray auch nie kennen lernen wollen würde.
»Hast du die anderen etwa alle umgebracht und deshalb bist du jetzt so seltsam?« Auf Ray's Lippen lag ein amüsiertes grinsen. Er war jemand der sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ. Jemand der immer einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte und dessen amüsiertes Grinsen täglich zu sehen war.
Aber auch dieses Mal antwortete Phineas nicht. Das einzige was er tat war sich zu Ray umzudrehen. Sein Gesicht war mit einem leichten Schweißfilm benetzt, seine Augen waren aufgerissen und seine Mundwinkel waren tiefer gesunken als die Titanic. Jetzt meldete sich doch allmählich die Unruhe in Ray. »Phineas, was ist los?Hast du sie wirklich umgebracht?« Es war der klägliche Versuch seinerseits diese Stimmung doch noch ins gute zu bringen. Vielleicht war es überhaupt nicht so schlimm, wie es aussah. Vielleicht hatte Phineas sich bei Odette angesteckt und sah deshalb so aus.
Ray wollte sich an dieser Vermutung festhalten. Es musste einfach so sein.
»Wieso bist du nicht dran gegangen, als Yorick dich angerufen hat? Er hat es sicherlich zwanzig mal versucht.« In dem glatten Gesicht von Phineas bildete sich eine tiefe Sorgenfalte. Seine Stimme war weich, schwach und sie zitterte leicht. In Ray lief die Angst nun beinahe über und wenn Phineas nicht gleich mit der Sprache rausrücken würde, dann würde sie überlaufen und das hatte sie schon eine Ewigkeit nicht mehr und Ray wusste nicht ob er impoldieren oder explodieren würde. »Ich war noch kurz bei Odette und Yorick hatte angerufen, als sie gerade eingeschlafen war. Ich wollte sie nicht wecken, also hab ich mein Handy ausgeschaltet.« In seiner Stimme lag eine leichte Unsicherheit. Er wusste nicht in welche Richtung dieses Gespräch ging und er hatte eine heidenangst davor. »Wir.. «Phineas' Stimme brach und ein ersticktes Keuchen verließ seine offenen Lippen.
Gleich würde die Angst überlaufen.
Sie würde überlaufen, wenn Phineas weiter so verängstigt reden und aussehen würde. »Wir dachten dir wäre auch etwas passiert.« Er würgte die Wörter aus seinem Mund.
Gleich war es so weit.
Nur noch ein beängstigender Satz von Phineas und die Angst würde überlaufen.
Dieses kleine Wörtchen »auch« ließ zu, dass Ray sich die schlimmsten Szenarien ausmalte. Von Raubüberfall mit Mord über Vergewaltigung bis zu einer Apokalypse von der er noch nichts mitbekommen hatte. Sein Atem stoppte und sein Herz schlug dreifach so schnell.
»Phineas.«,hauchte er.
Das hier würde nicht gut enden.
»Die anderen sind im Krankenhaus.«
Gegen seiner Erwartungen lief die Angst noch nicht über. Erst als die nächsten ersticken Worte Phineas' Lippen verließen. »Anastasia wurde angefahren. Die anderen... Sie sind als ins Krankenhaus und ich bin hier geblieben, um es dir zu sagen. Du bist ja nicht an dein Handy ran gegangen.«
Jetzt.
Jetzt schwappte die Angst über und sie drohte Ray komplett zu verschlucken. Sie hüllte ihn ein, zerquetschte seine Lungen und fraß sein Herz auf. Dennoch schlug es fünfmal so schnell. Seine Sicht verschwamm und Ray befand sich schon lange nicht mehr in seinem Wohnzimmer. Da war nur noch diese schwärze.
Andere nannten es Panikattacken er nannte es temporäres sterben.
Er würde bald keine Luft mehr bekommen und einfach sterben.
So einfach war es leider nicht, denn es fühlte sich nur so an, als würde er vor Angst sterben. Er hatte solche Angst seine Ma' zu verlieren. Die Frau, die ihn aufgezogen hatte. Sie war nicht seine Oma, sie war seine Mutter und er würde untergehen, wenn sie sterben würde. Er würde Teil dieser Angst werden. Er würde aufhören zu atmen und er würde ebenfalls sterben.
Dennoch flammte still und leise, so zart wie ein Windhauch, ein kleiner goldener Funken in ihm auf. Er war so schwach, dass Ray ihn nicht wahrnahm. Aber er war da, er war so präsent, dass er anfing Wirkung zu zeigen. Denn dieser Funken war eine Hoffnung, die sich Odette nannte. Es war die Sehnsucht sie in den Arm zu nehmen und ihr die Last von den Schultern zu nehmen. Nur dieses Mal war sie eben umgekehrt. Er wollte, dass sie ihn in den Arm nahm, seine Schultern entlastete und ihm sagte, dass seine Ma' wieder zurück kommen würde. Und es war ihr lächelndes Gesicht, das vor seinen inneren Auge auftauchte und ihm sagte, dass er nicht in dieser Panik ertrinken durfte.
Dass er verdammt noch einmal fragen sollte, wie schlimm es mit seiner Ma' aussah und dass er verdammt noch einmal sofort zu ihr sollte.
Und das tat er auch.
Es war ein schleppendes Gespräch mit Phineas. Seine Antworten waren karg und minderten nicht wirklich die Angst.Phineas wusste nicht wirklich viel. Aber was er wusste war, dass Anastasia gerade operiert wurde und Rays Familie und Freunde planlos in der Notaufnahme auf eine Antwort, eine Entwarnung warteten und diese ebenfalls nicht erhielten.
Anastasia durfte nicht sterben und Ray wollte zu ihr. Und wenn er das nicht konnte wollte er wenigstens wissen, was Sache war.
Und dann wollte er noch unbedingt umarmt werden.
Von Odette.
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