♦️ Zivilisierte Leute

We have always stood on the borderland.
I'm enjoying the view from here.
Eeny, meeny, miny, moe...
much the same

"Also...", Hatter räusperte sich und sah erwartungsvoll in die Runde seiner Führungsriege, während er sich weit über den Tisch hinweg beugte, "gibt es heute Abend etwas Wichtiges zu berichten?"

Ein kurzes Schweigen entstand und fragende Blicke wurden ausgetauscht. Als keiner das Wort ergriff, stand Ann geräuschvoll von ihrem Stuhl auf.

"Ja, ich habe eine Dringlichkeit", erhob sie ihre Stimme und musterte jeden einzelnen von uns mit todernster Miene. "Yamada-san, unsere einzige Ärztin im Beach, ist gestern bei einem Spiel ums Leben gekommen. Da ich es alleine nicht schaffe, mich um alle Einwohner im Beach zu kümmern, bin ich so schnell wie möglich auf der Suche nach tatkräftiger Unterstützung, am besten natürlich nach jemandem, der über fundierte medizinische Kenntnisse verfügt. Ihr wisst, dass ich selbst nur Forensikerin bin, daher spreche ich auch die an, die zumindest über die medizinischen Grundlagen verfügen, sprich Krankenpfleger, Physiotherapeuten, Heilpraktiker... Alles, was uns irgendwie nützlich sein könnte, damit eine medizinische Versorgung gewährleistet ist. Falls ihr also jemanden kennt, auf den das zutreffen sollte, bitte ich euch mir das umgehend mitzuteilen."

Erneut ließ sie ihren Blick aufmerksam über die Gesichter am Tisch schweifen, als erhoffte sie irgendeine erkennbare Reaktion auf ihre Rede. Als sich unsere Blicke kreuzten, versuchte ich ihrem mit so viel Gleichgültigkeit wie möglich zu begegnen.

Es war nicht das erste Mal, dass im Beach nach ärztlichem Personal gesucht wurde. Sie hatten es schon oft probiert. Aber entweder waren die meisten nicht qualifiziert genug oder sie waren genauso wenig wie ich darauf erpicht, sich für unseren selbst ernannten Guru die Hände schmutzig zu machen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Großteil der Leute hier ohnehin zum Tode verdammt war. Warum Energie darauf verschwenden Leute zu retten, die beim nächsten Spiel sowieso drauf gehen würden? Ich für meinen Teil riss mich nicht darum die Rolle des fürsorglichen Arztes zu mimen und hatte meine berufliche Vergangenheit daher in weiser Voraussicht nicht an die große Glocke gehangen als ich vor ein paar Wochen hier ankam.

Und auch heute hatte ich das nicht vor.

Stattdessen saß ich lieber hier und genoss die Show, die sich mir darbot- die allgemeine Verzweiflung. Das unkoordinierte Chaos, das mit Sicherheit schon sehr bald ausbrechen würde. Ich würde dabei zusehen wie der Beach direkt auf seinem Untergang entgegensteuerte und ich hatte Tickets in der ersten Reihe gebucht, um das Spektakel möglichst hautnah mitzuerleben. Fehlte eigentlich nur noch das Popcorn.

Hatter machte eine ausschweifende Handgeste und die Forensikerin ließ sich wieder zurück in ihren Stuhl fallen.

"Danke, Ann. Ich werde heute Abend nochmal einen Ausruf an alle machen. Gibt es irgendwelche Anmerkungen dazu?"

Er schaute erwartungsvoll über seine verdunkelten Brillengläser hinweg. Ich beobachtete Niragi dabei wie er sichtlich gelangweilt den Lauf seines Gewehres polierte, während Agunis Gesicht wie sonst auch fest zur Faust geballt war. Mira hatte wie gewohnt ihr grenzdebiles Lächeln aufgesetzt, bei dem ich sicher war, dass es nur eine Maske ist und Kuzuryu starrte tief in Gedanken auf sein Notizheft, das vor ihm ausgebreitet war. Hatter verschränkte plötzlich die Arme und lief dabei auf und ab ohne uns anzusehen.

"Nun denn. Dann habe ich euch etwas mitzuteilen. Womöglich habt ihr es schon selbst bemerkt, dass der Beach allmählich aus allen Nähten platzt. Wir haben kaum noch freie Zimmer und außerdem werden die Lebensmittelvorräte langsam knapp. Das heißt wir müssen wieder mal einen größeren Versorgungstrupp losschicken. Außerdem rufe ich hiermit einen vorübergehenden Rekrutierungsstopp aus. Es werden keine weiteren Leute zum Beach gebracht, so lange bis ich die Rekrutierungen wieder freigebe, verstanden?"

"Und was, wenn Ärzte unter ihnen sind?", fragte Ann berechtigterweise.

Hatter legte nachdenklich seine Hand unters Kinn.

"Das wäre natürlich eine Ausnahme."

"Ich hab 'ne viel bessere Idee", fuhr Niragi plötzlich dazwischen und stand abrupt auf um hämisch lachend mit seiner Waffe auf einige der Anwesenden zu deuten. "Wie wär's, wenn wir die, die nicht nützlich für den Beach sind einfach alle abknallen?"

Ich nahm die Hände aus den Taschen und applaudierte. Alle starrten mich verdutzt an.

"Wirklich brilliant, Niragi. Ich schlage vor du fängst gleich mit dir selbst an", sagte ich so herablassend wie möglich. Die Ader auf seiner Stirn fing bedrohlich an zu pulsieren und ich konnte quasi dabei zusehen, wie sein Blutdruck in die Höhe schoss.

"Chishiya" Er spuckte meinen Namen aus wie ein Schimpfwort. Sein Gewehr nahm mich ins Visier und ich hörte wie er die Sicherung löste. "Noch ein Wort, du dreckiger Bastard und ich schwöre ich mach dich k-"

Doch Hatter hatte seine Hand bereits auf Niragis Schulter gelegt und ihn bestimmt zurück auf seinen Stuhl gedrückt.

"Ich möchte sehr bitten. Wir sind doch alle zivilisierte Leute."

Aguni warf Niragi einen strengen Blick zu. Erst dann ließ er widerwillig die Waffe sinken, funkelte mich jedoch weiterhin an als wäre ich bereits auf seiner Abschussliste. Was ich mit Sicherheit auch war. Nicht, dass es mich sonderlich gekümmert hätte. Niragi fühlte sich nur überlegen solange Aguni wie ein treuer Wachhund hinter ihm stand und er mit seinem tödlichen Spielzeug vor den Augen anderer herumwedeln konnte. Wenn man ihm all das wegnehmen würde, bliebe nur noch ein kleiner verängstigter Junge mit einer großen Klappe übrig.

"Allerdings...", fuhr Hatter unbeirrt fort. "hätte ich tatsächlich nichts dagegen, wenn es nachher bei den Spielen ausversehen ein paar... mehr Opfer gibt als sonst. Einige von der Meute sind sicherlich entbehrlich, wenn wir dafür wieder neue fähige Einwohner für den Beach gewinnen können."

Niragis Miene verwandelte sich sofort in ein mordlustiges Grinsen, während ein paar Andere am Tisch regelrecht empört über Hatters Vorschlag wirkten. Allen voran Ann und Kuzuryu, obwohl dieser sich immerhin bemühte sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Die anderen Anwesenden jedoch schienen relativ gleichgültig über seine Äußerung zu sein oder konnten es anscheinend kaum erwarten seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Soviel zum Thema "zivilisiert". Meinetwegen konnten sie tun, was immer sie wollen, solange mir keiner von ihnen in die Quere kam.

Nach weiterem endlosen Geplauder über die Zusammenstellung eines Versorgungstrupps, war die Ratssitzung endlich beendet. Ich war der Erste am Tisch, der aufstand und den Raum verließ, weil mir nicht entgangen war, dass Niragi mich noch immer mit seinen Blicken massakrierte und ich ihm keinerlei Anlass bieten wollte seine Gedanken in die Tat umzusetzen. Mir war bewusst, dass ich mich besser zurückgehalten hätte, aber wieso musste er mir auch jedes Mal eine Steilvorlage bieten?

"Und? Gibt's was Neues?"

Kuina lehnte im Korridor an der Wand als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich ihr neue Insider-Informationen gab und knirschte nebenbei auf ihrem Plastikstiel herum.

"Niragi hat versucht mich umzubringen."

Sie gluckste amüsiert.

"Das ist jetzt nicht unbedingt eine Neuigkeit. Du solltest aufhören ihn zu provozieren. Irgendwann tut er es wirklich."

"Kann er gern versuchen."

"Du genießt das Leben am Limit, oder?", grinste sie und folgte mir dann aufs Dach. "Hast du denn eigentlich nie Angst?"

Ich schnaubte.

"Was würde es denn bringen, wenn ich welche hätte?" Als Antwort zuckte sie mit den Schultern. "Angst ist eine nutzlose Emotion, die einen in allem behindert und unfähig macht rationale Entscheidungen zu treffen. Angst ist was für Schwächlinge."

Ihr Lächeln wirkte etwas gequält, doch sie schob das schnell beiseite.

"Also was genau habt ihr denn nun besprochen?", versuchte sie es erneut und sah mich interessiert an.

"Das Übliche. Nichts, was von Bedeutung für unseren Plan ist."

"Verstehe..." Sie ließ eine dramatische Pause und starrte nachdenklich in die Abendröte, die sich langsam vor uns über den Himmel zog und den Beach in ein gold-oranges Licht tauchte. Diese Nacht wird wieder viel Blut vergossen werden. "Musst du heute nicht wieder spielen?"

Ich nickte.

"Ja."

"Na dann, ich hoffe wir sehen uns."

Ich grinste süffisant.

"Ganz sicher."

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