♦️ Wörter an den Wänden
Whatever it takes
′Cause I love the adrenaline in my veins
I do whatever it takes
'Cause I love how it feels when I break the chains
Die Registrierung ist abgeschlossen. Die Anzahl der Mitspieler beträgt 4.
Das Spiel beginnt nun!
Die vertraute Frauenstimme drang mit fast unbeschwerter Gelassenheit durch die Lautsprecher und durchschnitt dabei die drückende Stille, die sich über die Gruppe gelegt hat.
Erwartungsvoll starrte ich auf das Display des Smartphones, um weitere Informationen über das bevorstehende Spiel zu erhalten.
Schwierigkeitsgrad: Karo 3
Die erwähnte Karte ploppte augenblicklich auf dem grellen Bildschirm auf. Mir entwich ein leiser Seufzer. Wieder einmal musste ich mich mit den eher niedrigen Zahlen begnügen. Das Glück schien mir in letzter Zeit nicht hold zu sein. Wäre es doch wenigstens die fehlende Karo 4 gewesen, aber die 3 hatte der Beach inzwischen in mehrfacher Ausführung in seinem Repertoire.
Ein flüchtiger Blick zu Mira verriet mir, dass sie nicht so enttäuscht wirkte, wie ich zuerst angenommen hatte. Tatsächlich war ich ein wenig überrascht gewesen, dass ausgerechnet sie heute mit mir in einem Team eingeteilt war. Nachdem sie mir wieder einen ihrer wahnhaften Gesichtsausdrücke zugeworfen hatte, fiel es mir tatsächlich schwer zu glauben, dass es Zufall war, dass wir in der gleichen Gruppe gelandet waren. Irgendwas an ihrem Blick beunruhigte mich, auch wenn ich es nicht genau fassen konnte. Es kam mir beinahe so vor, als würde sie mit mir spielen. Fast wie eine Maus, die sich extra provokativ ins Sichtfeld der Katze begab, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Spiel: Wörter an den Wänden
Regeln: Entkommt aus der Lagerhalle, indem ihr den geheimen Zahlencode an der Tür knackt. Gelingt euch dies nicht innerhalb von 30 Minuten, wird ein tödliches Gas freigesetzt, das in die hermetisch verschlossene Halle strömt.
Unwillkürlich richteten wir unsere Blicke vor uns auf die große schwere Metalltür, die sich mit einem kläglichen Ächzen in Bewegung setzte und zur Seite schob, um den Weg in die hell erleuchtete Lagerhalle freizugeben.
"Eine 3 kann nicht so schwierig sein, oder?"
Der junge Mann mit Stirnband, stacheligen Haaren und weitem, bunt gemusterten Hemd, zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging tollkühn voraus. Er war ebenfalls ein Beach-Mitglied, sah jedoch aus, als hätte er gerade erst die Volljährigkeit erreicht. Blieb abzuwarten, ob er sich in dem Spiel tatsächlich so gut schlagen würde, wie es seine Überheblichkeit vermuten ließ.
Wie die Anderen ließ ich meinen Blick flüchtig durch die Halle schweifen. Sie schien vollkommen leer zu sein. Das Auffälligste an diesem Ort waren die lateinischen Buchstaben, die scheinbar willkürlich mit schwarzem Graffiti an die weißen Wände geschmiert worden waren. Die Schriftzeichen erstreckten sich vollständig über alle vier Wände der rechteckigen Halle von dem Boden bis hin zur Decke, die in der Mitte in einem spitz zulaufenden Dachgiebel endete. Auf den ersten Blick wirkte es wie das Werk eines Verrückten, die Zeichen schienen keinerlei erkennbaren System zu folgen, jedenfalls keinem, das ich auf Anhieb hätte ausmachen können.
"Verdammt, auch noch englische Buchstaben. Darin war ich noch nie gut", stöhnte eine kräftige junge Frau mit Kurzhaarschnitt und auffällig rot gefärbten Lippen. Soweit ich es vorhin auf dem Weg hierher mitbekommen hatte, war ihr Name Ueda.
"Genau genommen sind es lateinische Buchstaben, nur die Worte sind Englisch", entgegnete ich, während ich mich einer der Wände näherte, um sie genauer zu inspizieren.
Ein dumpfes unheilvolles Grollen zog jedoch plötzlich über uns hinweg, das mich kurzzeitig in meiner Tätigkeit innehalten ließ. Die massive Metalltür schepperte langsam geräuschvoll zurück Richtung Schloss und rastete mit einem hörbaren Klacken ein. Wir waren gefangen.
Ueda stieß hörbar Luft aus, ohne ihre weit aufgerissenen Augen von der Tür zu lösen. Mr. Stirnband steuerte währenddessen fast heldenhaft darauf zu. Mira hingegen schien fast ein wenig amüsiert zu sein, als sie die Reaktionen unserer Mitspieler beobachtete. Sie beäugte sie, als wären sie Laborratten in ihrer ganz persönlichen Versuchsreihe.
"Hier ist ein Gerät für den Türcode befestigt", informierte er uns, während er scheinbar wahllos darauf herum tippte. "Es verlangt nur 3 Zahlen. Das ist nicht viel. Wir könnten einfach alle Kombinationen durchprobieren."
Ich schnaubte abfällig auf und wandte mich dann wieder von ihm ab.
"Viel Spaß beim Probieren von 1000 Kombinationen. Selbst wenn du versuchst, in Höchstgeschwindigkeit zu tippen, ist es fast unmöglich, das innerhalb von 28 Minuten zu tun und dabei zufällig die richtige Zahl zu erwischen."
Aber wieso verschwendete ich überhaupt meine Energie an diesen Möchtegern-Einstein?
Mein Blick glitt stattdessen konzentriert an einer der Wände entlang, während ich versuchte, die kleinen Details darauf zu erfassen. Es waren völlig normale englische Worte, allerdings ohne jeglichen thematischen Zusammenhang.
Coldness Food
Bumblebee
Goal Spirit
Game
Heart
Candle Dance
Exit
Und das waren nur ein paar wenige, die ich aus dem Buchstabengewirr herausfiltern konnte. Rein vom Inhalt her schienen sie keinerlei Bezug zueinander zu haben. Doch etwas daran war auffällig.
Der Stirnband-Held gab ein resigniertes Seufzen von sich. Anscheinend hatte er es inzwischen aufgegeben, irgendwelche Zahlenkombinationen in das Gerät zu hämmern und kam stattdessen wieder zu uns herüber geschlendert.
"Ist dieser Buchstabe dort nicht verkehrt herum?", fragte Ueda stirnrunzelnd und deutete dabei auf das Wort Goal, bei dem das bauchige "a" in die entgegensetze Richtung zeigte.
Ich nickte nachdenklich.
"Ja, einige Buchstaben sind spiegelverkehrt oder stehen auf dem Kopf. Hat jemand von euch zufällig einen Stift dabei?"
"Uhh, ja", murmelte sie und begann hektisch in ihrer Jackentasche zu kramen. Als sie den gesuchten Gegenstand gefunden hatte, hielt sie ihn mir mit geröteten Wangen hin. "Also ähm... was Anderes hab ich nicht."
"Das dürfte ausreichen", sagte ich mit einem knappen Nicken und nahm ihr den roten Lippenstift ab.
Ich ging zielgerichtet in die Hocke und ließ meinen Blick wieder hinüber zu der Wand gleiten, während ich versuchte, alle Buchstaben, die aus der Reihe tanzten, auf den Boden zu kritzeln.
Nach nur wenigen Sekunden übernahm Ueda das Ansagen der Buchstaben, sodass ich, während ich schrieb, bereits über den nächsten Schritt sinnieren konnte.
"Ritasninoctislucteve? Was für ein Wort soll das denn sein?"
Mr. Stirnband hatte sich wieder zu Wort gemeldet und blickte irritiert auf die rote Schrift am Boden.
"Vermutlich ist es ein Anagramm", entgegnete ich, während mein Hirn versuchte, die Reihenfolge der Buchstaben zu vertauschen und dabei etwas Sinnvolles aus ihnen zu bilden. Dabei stach mir vor allem das Wort in der Mitte ins Auge.
Noctis. Ein lateinischer Begriff, der übersetzt nichts anderes als Nacht bedeutete. Allerdings war ich mir noch unsicher, ob das nicht nur ein seltsamer Zufall war.
"Ich glaube, wir haben etwas übersehen", murmelte ich, während mein Blick erneut wachsam durch die große Halle wanderte. Ich erhob mich und versuchte dann erneut jedes Detail im Raum mit den Augen zu abzuscannen.
Ich spürte, wie währendessen Miras eindringlicher Blick auf mir ruhte. Sie wirkte an dem Spiel fast unbeteiligt, fungierte lediglich als stille Beobachterin. Nur ein winziges Zucken ihrer Mundwinkel verriet, wie heiß sie darauf war, zu sehen, was als Nächstes geschehen würde, beinahe, als würde sie sich einen spannungsgeladenen Actionthriller im Kino ansehen und sich prächtig dabei amüsieren.
"Geh mal Beiseite!"
Mr. Stirnband wich mir mit irritierter Miene aus und gab damit die Sicht auf ein Zeichen am Boden frei, das direkt unter seinen Füßen zum Vorschein kam. Interessiert beugte ich mich darüber.
"Ah, jetzt verstehe ich", sagte ich lächelnd und verschränkte anschließend triumphierend die Arme vor der Brust.
"Was verstehst du?"
Ueda und Stirnband-Champion besahen sich meine Entdeckung im Boden jetzt ebenfalls genauer.
"Das ist ein eingeritztes N", stellte Ueda kurzerhand fest und klang dabei sichtlich überfordert.
"Korrekt", sagte ich und genoss für einen kurzen Augenblick ihre Ahnungslosigkeit.
"Ich check's nicht", seufzte der Kerl neben ihr und kratzte sich dabei am Hinterkopf.
"Seht ihr das kleine spitz zulaufende Dreieck unter dem N? Das ist eine Markierung."
Noch immer starrten beide stirnrunzelnd auf den Boden hinab.
"Klingelt's jetzt?", fragte ich schon fast ein wenig genervt.
Noch 15 Minuten.
"Oh, ich weiß", sagte Ueda plötzlich aufgeregt. "Das steht für Norden, oder?"
Ich musste mich beinahe davon abhalten, nicht demonstrativ in die Hände zu klatschen.
"Richtig. Setzen wir diesen Umstand mit den Buchstaben an der Wand in Verbindung, kann man wohl davon ausgehen, dass es uns die Reihenfolge der Zeichen vorgibt. Da man lateinische Buchstaben für gewöhnlich von links nach rechts liest, gehe ich davon aus, dass wir sie im Uhrzeigersinn lesen müssen, beginnend bei Norden", ich deutete in die jeweilige Richtung und blickte dann wieder auf die roten Lettern am Boden zurück. "Demzufolge beginnt der Satz nicht mit einem R, sondern mit einem I."
"Satz? Es ist also nicht nur ein Wort?"
"Für ein einziges Wort ist es vermutlich zu lang und ergäbe auch keinen Sinn. Meiner Ansicht nach müsste es...", ich ging wieder zurück in die Hocke und zückte den Lippenstift, während ich parallel die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge von der Wand abschrieb. "In Noctis Lucet Veritas heißen."
Ich blickte wieder zu den Anderen auf. Stirnband und Ueda warfen sich beeindruckte Blicke zu. Mira grinste währenddessen nur stumm in sich hinein.
"Und was heißt das?", traute sich Ueda kleinlaut zu fragen.
"Es ist Latein und wenn ich es richtig verstehe, heißt es frei übersetzt sowas wie In der Nacht liegt die Wahrheit."
"Boar, ich hasse Rätsel", stöhnte Stirnband-Held schwer.
"Nacht heißt soviel wie Dunkelheit. Könnte das nicht also vielleicht bedeuten, dass wir das Licht ausmachen sollen?", fragte die junge Frau vorsichtig und musterte mich unsicher.
"Genau das vermute ich auch", entgegnete ich und war froh, dass wenigstens sie dazu im Stande war ein wenig mitzudenken.
Noch 10 Minuten.
"Schön und gut, aber hier gibt's nicht mal einen Lichtschalter", sagte Stirnband, während er sich suchend in der Halle umsah.
"Stimmt. Da es auch keinen Stromkasten gibt, müssen wir wohl einen anderen Weg finden." Ich wandte mich von meinen Mitspielern ab und bückte mich um einen kleinen Stein vom Boden zu klauben. "Da die Decke wohl zu hoch ist, um heranzukommen, sollte es hiermit auch funktionieren."
Ich hielt den Stein kurz in die Höhe, um ihn vor den Dreien zu präsentieren.
"Der einzige Nachteil ist, dass wir das Licht dann wohl nicht mehr anbekommen, aber das Risiko müssen wir wohl eingehen. Wer von euch kann gut zielen?"
Wie bereits erwartet, meldete sich Stirnband eifrig, um die schwierige Aufgabe zu übernehmen. Er nahm mir den Stein ab und setzte ihn bereits zum Werfen an, doch ich griff rechtzeitig nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten.
"Versuche in die Mitte der LED-Panels zu zielen! Dort befinden sich die Kernverbindungspunkte, von wo aus die LEDs mit Energie versorgt werden. Mit viel Glück kannst du so das gesamte Panel auf einmal lahmlegen."
Er knurrte leise und machte sich dann wieder von mir los.
Alle sahen dem Stein hinterher, der Richtung Decke flog, jedoch knapp an den LEDs vorbeiging.
Ich stöhnte leise.
"Gib dir etwas mehr Mühe", grummelte ich, bevor er zum zweiten Versuch ansetzte.
Tatsächlich gelang dieser weitaus besser. Die Lampe wurde vom Stein getroffen, doch die Wucht des Wurfes reichte lediglich aus, um sie ein wenig zum Aufflackern zu bringen.
Ich sammelte weitere Steine vom Boden auf. Es waren nicht viele, aber ich war mir sicher, dass sie nicht zufällig da waren. Während Stirnband-Champion weiter probierte, versuchte ich mich bereits an der zweiten LED. Auch ich benötigte ein paar Anläufe, um sie an der richtigen Stelle zu erwischen. Dann plötzlich, nach einem letzten schwachen Flackern, wurde das Licht von Dunkelheit verschluckt und hüllte die gesamte Lagerhalle in undurchdringliches Schwarz. Doch genau genommen war nicht alles schwarz. Nachdem sich meine Augen ein wenig an die Dunkelheit angepasst hatten, kamen an den Wänden vereinzelt ein paar leuchtende Buchstaben zum Vorschein.
"Wow", brachte Ueda erstaunt hervor, während sie sich dabei mehrmals um sich selbst drehte.
Noch 5 Minuten.
Die bekannte Frauenstimme erinnerte uns mit fast schon dreister Freundlichkeit an die Zeit, die uns unaufhaltsam wie Sand aus den Händen rann.
"Fluoreszierende Farbe. Nette Idee", murmelte ich vor mich hin.
Gemächlich trottete ich zu der Wand hinüber und hielt nachdenklich inne, um mir die neuen Buchstaben genauer anzusehen.
Es waren nur 12 Lettern, aber alleine der Buchstabe I war gleich fünfmal vertreten.
C, D, E, I, I, I, I, I, N, V, V, V
In meinem Kopf versuchte ich bereits, mögliche andere Reihenfolgen durchzugehen. Ich war mir dieses Mal fast sicher, dass es sich um ein Anagramm handelte.
"Und? Was bedeutet das?"
Stirnband-Held schien zunehmend ungeduldiger zu werden und warf immer wieder einen Blick auf sein Smartphone-Monitor, auf dem nebenher der Timer lief. Doch eigentlich war das nicht nötig, denn die Durchsage erinnerte uns regelmäßig daran.
Noch 3 Minuten.
"Wie wär's, wenn du einfach deinen Rand hältst und mich in Ruhe nachdenken lässt?", entgegnete ich missbilligend.
Entrüstet über meine forsche Reaktion, verschränkte er die Arme vor der Brust.
"Pedantischer Wichtigtuer", grummelte er verschwörerisch vor sich hin. Ich ging nicht auf seine Beleidigung ein, denn im gleichen Augenblick hatte ich einen Geistesblitz.
"Hey, Stirnband. Geh zur Tür und tippe dann das ein, was ich dir sage!", wies ich den Angesprochenen an und drehte mich daraufhin zu ihm um.
Er zeigte überrascht auf sich selbst.
"Bitte? Warum denn ich?"
"Weil du gerade so aussiehst, als hättest du nichts zu tun", gab ich mit einem überheblichen Lächeln zurück.
"Das haben die anderen auch nicht", widersprach er störrisch.
"Mach, was ich dir sage oder willst du lieber hier drin krepieren?"
Er gab ein genervtes Stöhnen von sich, widersetzte sich jedoch nicht, bevor er sichtlich frustriert zur Tür marschierte, jedoch nicht ohne mir noch einen letzten finsteren Blick zuzuwerfen.
Das Tastenfeld neben der Tür war hell erleuchtet, als Stirnband darauf wartete, dass ich ihm die korrekten Zahlen durchgab.
"1" Ich hielt kurz nachdenklich inne. Erwartungsvoll warf er einen Blick zu mir hinüber und wartete dann geduldig darauf, dass ich weitersprach. "1... und nochmal 1."
Bei der letzten Zahl konnte ich deutlich erkennen, wie er zögerte. Dann ertönte das Signal, dass die Zahl vom System abgelehnt wurde.
Ich schnaubte belustigt, als er sich verärgert zu mir herum drehte.
"Sehr witzig."
Zugegeben war sein angepisster Gesichtsausdruck es wert gewesen. Ueda neben mir trat währenddessen ein wenig unruhig auf der Stelle und Mira hielt es immer noch nicht für nötig irgendwas zu tun, außer uns mit stiller Belustigung zu beobachten.
"Okay, probiere 137."
Trotz seines skeptischen Gesichtsausdrucks wandte er sich wieder dem Kombinationsschloss zu und tippte den Code mit bebenden Fingern in das Tastenfeld.
Der kurze Piepton verriet mir, dass meine Vermutung scheinbar falsch gewesen war.
"Jetzt hör auf mit den Scherzen", meinte Stirnband nun deutlich aufgebrachter. "Wir haben keine Zeit mehr für dumme Witze."
"Beruhig dich und lass mich kurz nachdenken."
Ich versuchte eine andere Methode und begann erneut zu rechnen. Ein Stück Papier wäre zugegeben hilfreich gewesen.
"Mach mir mal bitte Licht", wies ich Uena an. Sie nickte bereitwillig und zog ihr Smartphone hervor, um den Boden auszuleuchten.
Ich positionierte mich im Schneidersitz, zog erneut den Lippenstift hervor und begann ein paar Zahlen auf den Linoleumboden zu kritzeln, während ich sie im Kopf bereits miteinander addierte. Das aufkommende Andrenalin ließ mich fast auf Hochtouren laufen.
Noch 1 Minute.
"Versuche 187", rief ich Richtung Tür.
Als das Gerät den Code erneut abwies, besah ich mir ein weiteres Mal nachdenklich die Buchstaben.
Was könnte ich noch versuchen?
Was hatte ich übersehen?
"Was soll ich eingeben?", durchbrach mich Stirnbands panische Stimme. Er klang inzwischen als wäre kurz vorm Durchdrehen.
Ich antwortete nicht, sah nicht einmal auf, stattdessen kritzelte ich fieberhaft erneut etwas auf den Boden. Es war mein letzter Versuch. Sollte ich diesmal falsch liegen, war es endgültig vorbei.
Noch 30 Sekunden.
"Verdammt, wir werden sterben, wenn du nicht bald fertig wirst", fuhr er mich an. Ich blickte geringschätzig auf und sah schon, wie er mit wütender Miene auf mich losgehen wollte.
"Geh sofort zurück zur Tür!", sagte ich scharf. Entgeistert hielt er mitten in seiner Bewegung inne.
10...9...8...7
"Gib 620 ein", sagte ich ruhig.
Auch wenn man ihm ansehen konnte, dass er mir am liebsten an die Gurgel springen wollte, machte er zähneknirschend kehrt und tippte die genannten Zahlen ein.
Diesmal gab es kein Signal, stattdessen tönte eine kurze fröhliche Melodie durch die Lautsprecher, beinahe als hätten wir den Sieg in einem Video-Spiel errungen.
Das Spiel ist beendet. Gratulation. Alle Spieler haben Game Clear erreicht und erhalten ein 3-Tages-Visa.
Erst als die Stimme wieder verstummt war, setzte sich die schwere Metalltür mit einem schrillen Quietschen wieder in Bewegung.
"Du verdammter Bastard."
Stirnband kam bedrohlich auf mich zu und drückte mich mit unerwarteter Wucht gegen die nächstbeste Wand und zerrte dabei am Kragen meines Shirts.
Ich zog etwas erstaunt eine Augenbraue nach oben.
"Redet man so mit jemandem, der einem gerade das Leben gerettet hat?", entgegnete ich mit ahnungsloser Unschuldsmiene und hob dabei unbescholten die Hände.
Ein wenig überfordert versuchte Ueda ihn von mir wegzuzerren, während er mich weiterhin mit verengten Augen anknurrte.
Dann klatschte plötzlich jemand. Wir wandten unsere Köpfe verdutzt zur Seite um, wo Mira stand, die während sie enthusiastisch applaudierte ein glucksendes, fast irres Kichern von sich gab.
"Wie wundervoll. Das war wirklich brilliant", sagte sie freudestrahlend. "Wie bist du nur darauf gekommen?"
Ihr Ton klang seltsam aufgesetzt und ihre Augen funkelten vergnügt, beinahe so, als würde sie sich über uns lustig machen. Ihr Lächeln war so falsch wie eine Spielmünze aus einem Monopoly-Spiel.
"Ich würde es ja erklären, doch ich kann nicht vernünftig denken, wenn jemand im Begriff ist, mir Gewalt anzudrohen", konterte ich und setzte ein triumphierendes Lächeln dabei auf. Mit einem letzten widerwilligen Murren lockerte Stirnband seinen Griff um mein Shirt und ging einen Schritt zurück.
"Das würde mich aber auch interessieren", schloss Ueda sich mit neugieriger Miene an. Sie schien ein wenig erleichtert, dass der Kerl von mir abgelassen hatte.
"Na schön", seufzte ich ergeben und stieß mich dabei von der Wand ab. Gemeinsam verließen wir die Halle, um auf den runden weißen Tisch zuzusteuern. "Die leuchtenden Buchstaben waren ein Anagramm. In richtiger Reihenfolge ergeben sie ein bekanntes lateinisches Zitat: Veni, Vidi, Vici. Übersetzt heißt das soviel wie: ich kam, sah und siegte. Aber das ist eigentlich irrelevant, denn das Wichtige war in dem Augenblick nur, wie man mit Hilfe dieses Satzes einen dreistelligen Zahlencode erhalten kann. Ich habe also die üblichen Entschlüsselungsmethoden aus der Kryptographie durchprobiert. Da wir keinen Schlüssel vorgegeben hatten, habe ich die klassischen Methoden probiert wie die numerische Substitution. Diese stellten sich allerdings als falsch heraus."
"Numerische Substitution? Kannst du das auch für Normalsterbliche erklären?"
"Wenn man jeden Buchstaben durch eine Zahl im Alphabet ersetzt, nennt man das Substitution. Bei der klassischen Methode wird das A durch 1 ersetzt und das Z durch 26. Dadurch erhält man eine Zahlenfolge. Die Quersumme daraus ergab eine dreistellige Zahl. 137. Diese stellte sich jedoch als falsch heraus, daher habe ich versucht die Methode umgekehrt durchzuführen, sodass Z der 1 und A der 26 entspricht."
Ueda nickte verstehend, während Stirnband-Held sich etwas überfordert am Kopf kratzte.
"Aber wie kamst du letztendlich auf die richtige Zahl?", wollte Ueda jetzt wissen.
"Nun, mir ist aufgefallen, dass fast alle Buchstaben in dem Zitat einer römischen Zahl entsprechen, abgesehen von E und N. Demzufolge habe ich die römischen Zahlen Wort für Wort in die richtige Reihenfolge gebracht und daraus eine Summe gebildet. Das Ergebnis dessen war 620."
"Klingt für mich, als wäre es nichts als Glück gewesen", grummelte Stirnband miesepetrig, als er nach der Spielkarte auf dem Tisch griff.
"Ein bisschen Glück gehört wohl immer dazu", entgegnete ich süffisant.
"Ich finde Chishiya sollte die Karte haben", sagte Ueda, als sie beobachtete wie er sich die Karte heimlich einstecken wollte. "Nur wegen ihm, sind wir schließlich überhaupt noch hier."
"Nimm sie meinetwegen. Sie ist sowieso wertlos", sagte ich schulterzuckend und schlenderte dann gemächlich zum Wagen zurück, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ein helles Leuchten, gefolgt von einem bedrohlichen Grollen, lenkte meinen Blick stattdessen zum Himmel hinauf. Ein Gewitter schien im Anmarsch zu sein. Noch war es weit genug entfernt, doch es sah aus, als ob es genau in unsere Richtung zog. Nach kurzer Zeit merkte ich, wie Mira mich einholte und neben mir auftauchte. Sie lief eine Weile schweigend neben mir her und auch ich hatte nicht das großartige Bedürfnis, mit ihr zu Reden.
"Ich bin wirklich schwer beeindruckt", durchbrach sie irgendwann die bedrückende Stille zwischen uns. "Wer hätte gedacht, dass du sogar Lateinisch beherrschst? Eine Sprache, die ja eigentlich fast ausgestorben ist."
"Von Können kann keine Rede sein. Ich hab da nur mal was aufgeschnappt", widersprach ich, doch Mira grinste nur verschlagen, als hätte sie meine Lüge sofort durchschaut.
"So, so...wie interessant."
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