❤️ Rad des Schicksals (2)

I can feel the fire when I breathe in
Waking up the giant that′s been sleeping
Playing this game for a reason
Been playing this playing this game

Das Bild auf dem Monitor schaltete zurück zu der Grafik, die das Riesenrad zeigte, begleitet von einer Zeitanzeige, die unaufhaltsam die Sekunden, beginnend bei 30, herunterzählte. Mein Herz trommelte fast schmerzhaft gegen meinen Brustkorb, während ich mühevoll versuchte, die bohrenden Blicke, die noch immer auf mir lagen, so gut wie möglich zu ignorieren.

Wie sollte ich so eine Entscheidung überhaupt treffen? Wovon sollte ich sie abhängig machen?

Bis auf Makoto und die Leute, mit denen ich hierher gekommen war, kannte ich schließlich keinen dieser Menschen. Erschreckend stellte ich fest, dass ich nicht einmal wusste, welche Nummer Makoto bei der Registrierung zugewiesen worden war. Ich spähte flüchtig hinaus durch die Fensterfront, doch konnte ihn auf die Schnelle nirgends entdecken.

Ein warnender Piepton ließ mich wieder panisch innehalten.

10...9...8

Ich hatte keine Gelegenheit mehr, um es herauszufinden. Die Zeit saß mir im Nacken und der Druck in meinem Inneren wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Ich musste handeln. Tat ich es nicht, würden alle meine Mitspieler auf einen Schlag sterben. Also beschloss ich spontan meiner Intuition zu folgen. Mein Finger berührte zögerlich eine willkürliche Zahl auf dem Display.

Spieler Nr. 3 wurde vom Schicksal auserwählt. Die Herausforderung wird eingeleitet.

Ich hörte wie die Spielorgelmusik draußen kurzzeitig ein wenig schneller wurde. Die bunten Lichter des Riesenrads bewegten sich plötzlich ringsherum wie der Zeiger einer gigantischen Uhr bis sie schließlich auf der 3 zum Stehen kamen. Mit einem beklemmenden Gefühl starrte ich wieder vor mir auf den Monitor und beobachtete, wie die Kabine langsam Richtung Boden fuhr und genau am Fußende Halt machte.

Ich wagte es währenddessen kaum, meinen Blick von dem Bildschirm zu lösen, wollte am liebsten nie erfahren, über wessen Schicksal ich entscheiden sollte. Doch ich konnte das Unaufhaltsame nicht aufhalten, das wusste ich. Widerwillig löste ich meinen Augen von dem Monitor und zwang mich dazu, stattdessen einen Blick auf die Kabine zu richten, die ich auserwählt hatte. Sie war einige Meter von mir entfernt, aber dennoch konnte ich erkennen, dass es sich um einen Mann handeln musste, der sich in der Gondel befand. Er sah noch sehr jung aus, aber die Entfernung machte es schwer, sein genaues Alter zu schätzen. Was ich jedoch ohne Zweifel erkannte, war die Hilflosigkeit, die sich in seinen Augen widerspiegelte, als er zu mir hinübersah.

Der Herausforderer hat 60 Sekunden Zeit das Schicksal um Gnade zu bitten.

Erneut erschien die Zeitanzeige auf dem Monitor und ein leises Knistern drang daraufhin an meine Ohren, gefolgt von einem angespannten Atemgeräusch.

"Hallo? Hörst du mich?", sprach ich unsicher in das Mikrofon des Headsets.

"Jj-a", stammelte eine zitternde Stimme, die weitaus jünger klang als ich zuerst vermutet hatte. "Bb-itte lass mich l-leben."

In jedem seiner Worte war die Angst überdeutlich spürbar.

"Beruhige dich! Ich habe nicht vor dir etwas zu tun", versuchte ich ihn zu beschwichtigen, denn immerhin war es die Wahrheit.

"Ich w-will noch nicht sterben. Bitte", wimmerte er, während er sich verzweifelt gegen das Fensterglas der Kabine presste. Der weinerliche Klang in seiner Stimme zerriss mir fast das Herz.

"Wie heißt du?", wollte ich von ihm wissen.

Er zögerte kurz.

"T-tanaka Haruki."

"Und wie alt bist du?"

"Sechzehn."

Ich schluckte. Er war also tatsächlich erst ein Teenager. Vermutlich hatte dieser Junge noch nicht einmal die Schule abgeschlossen.

"Mein Bruder ist nur ein Jahr älter als du", sagte ich, ohne genau zu wissen, warum ich ihm das erzählte. Vielleicht weil er mich irgendwie an ihn erinnerte.

"Ist er auch hier?", fragte er nun ein wenig gefasster und klang dabei fast ein wenig neugierig.

"Nein, glücklicherweise nicht."

"Ich habe im letzten Spiel meine jüngere Schwester verloren. Sie war gerade mal 11", gab er mit erstickter Stimme von sich. Ein hörbares Schluchzen drang durch die Kopfhörer. Dann kündigte das Warnsignal bereits die letzten 10 Sekunden an.

"Hab bitte keine Angst, Tanaka-kun. Alles wird wieder gut", versicherte ich ihm und klang dabei zuversichtlicher, als ich mich fühlte. Mit einem weiteren Knistern wurde die Verbindung wieder unterbrochen, doch ich hatte bereits eine Entscheidung getroffen.

Die Zeit ist abgelaufen. Eine Entscheidung ist fällig.

Das Bild auf dem Monitor wechselte wieder und offenbarte jetzt die vier Tarotkarten, die mir zur Auswahl standen. Ohne lange zu zögern, wählte ich eine aus, indem ich sie mit dem Finger antippte.

'Die Stärke' wurde ausgewählt: Das Schicksal hat Gnade walten lassen. Spieler 3 hat die Herausforderung erfolgreich gemeistert. Herzlichen Glückwunsch!

Ich atmete erleichtert aus. Die erste Runde war überstanden. Fehlten nur noch 12. Mit einem tonlosen Lachen schloss ich die Augen und begann meine Schläfen zu massieren, weil sich ein leichter Schmerz in meiner Stirn breit machte.

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren.

Das Schicksal muss als Strafe einen Tribut zahlen.

Verdammt, das hatte ich fast verges-

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fuhr ein heftiges, schmerzhaftes Kribbeln durch meinen gesamten Körper, als würden glühend heiße Nadeln durch jede meiner Nervenfasern schießen. Der Schmerz breitete sich gnadenlos wie eine intensive Flutwelle von meinem Kopf aus bis hin zu meinen Fingerspitzen. Ein unkontrolliertes Zucken erfasste meine Muskeln und lähmte meine Lunge. Mein Atem stockte. Ein dunkler Schatten legte sich über mein Sichtfeld, während ich das Gefühl hatte, von innen heraus zu verbrennen.

Als ich langsam wieder zu mir kam und meine Umgebung allmählich wieder Konturen und Farben annahm, merkte ich, dass meine Finger leicht vibrierten, als wollten sie noch nicht gänzlich von den Schmerzen ablassen. Das eng anliegende Metallband um meinen Hals fühlte sich an, als hätte es sich direkt in meine Haut eingraviert.

Ungläubig schnappte ich nach Luft. Ich vermutete, jeder hatte in seinem Leben schon einmal einen leichten Stromschlag bekommen und kannte das blitzartige Kribbeln, das es in den Fingerspitzen hinterließ. Doch das hier war eine völlig andere Dimension. Selbst nachdem der Schmerz bereits verklungen war, spürte ich noch, wie die Wucht des elektrischen Schlags in mir nachhallte. Mein Herz hatte für einen kurzen Moment ausgesetzt, doch jetzt trommelte es energisch weiter, als wollte es mich wieder zurück in die Realität holen. Ich blinzelte vor Verwirrung und versuchte mich wieder ein wenig aufzurichten, doch mein Körper fühlte sich plötzlich so unendlich schwer an, während ich Mühe hatte, meine Orientierung wieder zurückzugewinnen.

Runde 2:
Ein zufälliger Spieler wird ausgewählt.

Ich hasste dieses Spiel schon jetzt. Gnade bedeutete zwar einerseits, dass das Leben des Spielers verschont wurde, aber es bedeutete für mich im Gegenzug auch Schmerzen und dass ich keinen Einfluss auf die Wahl des nächsten Spielers hatte. Es war meine Strafe, weil ich es gewagt hatte, nicht den Tod zu wählen. Das Spiel jedoch schien zu wollen, dass ich den Tod wählte. Es wollte, dass ich an meine Schmerzgrenze ging.

Erneut blinkten die Lichter des Rads auf und bildeten eine Art Pfeil, der sich mehrmals verheißungsvoll im Kreis drehte, bevor er an einer der oberen Kabine Halt machte. Es war die Nummer 24. Mein Herz klopfte automatisch schneller, während ich ein stummes Gebet zum Himmel schickte, dass es nicht Makoto sein würde. Langsam fuhr die ausgewählte Gondel nach unten. Sobald sie in mein Sichtfeld gelangte, erkannte ich jedoch, dass es eine Frau war, schätzungsweise im mittleren Alter. Es knisterte wieder kurz an meinem Ohr und eine Verbindung wurde hergestellt, während nebenher der Timer gestartet wurde.

"Bitte sei gnädig mit mir! Ich habe Kinder", schrie sie hysterisch, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. "Ich muss doch zurück zu meiner Familie."

Ich hörte im Hintergrund ein lautes vehementes Klopfen und als ich zu ihrer Kabine hinüber sah, erkannte ich, dass sie energisch mit den Fäusten gegen die Scheibe trommelte, während sie mich eindringlich mit ihren Blicken durchbohrte.

Für einen kurzen Moment, versuchte ich mich zu sammeln und schloss dabei die Augen. Dann richtete ich sie wieder zurück auf den Monitor.

"Wie viele Kinder haben Sie?", fragte ich ruhig, weil ich unschlüssig war, was ich sonst tun sollte. Meine Frage schien sie sofort ein wenig zu besänftigen.

"Zwei Mädchen. Und ich habe außerdem einen Ehemann. Sie machen sich bestimmt schon große Sorgen um mich. Sie fehlen mir so sehr. Ich will sie endlich wiedersehen", jammerte sie und gab ein hörbares Schniefen von sich.

"Das werden Sie ganz bestimmt", sagte ich zuversichtlich. "Sie dürfen nur die Hoffnung nicht verlieren."

"Bitte hab Gnade mit mir! Ich habe nie etwas Unrechtes getan und ich bin eine gute Mutter."

"Das glaube ich. Haben Sie bitte keine Angst. Ich werde nicht zulassen, dass Sie sterben."

Schon alleine der Gedanke, zwei Kinder zu Waisenkindern zu machen, erfüllte mich mit einem nagenden Schuldgefühl, das ich nicht einfach ignorieren konnte. Auch, wenn ich im letzten Spiel jemanden im Affekt getötet hatte, war ich noch längst keine Mörderin.

Als der Warnton einsetzte, schwebte mein Finger bereits über der Tarotkarte mit dem Löwenkopf. Ein Tier, das Stärke repräsentierte. War ich stark, nur weil ich mich dazu entschied, Mitleid zu haben und ein Leben zu retten, obwohl es bedeutete, dass ich dafür Schmerzen erdulden musste? Aber was war ein kurzer Schmerz gegen ein Menschenleben? Niemand sollte auf diese Art sterben müssen, bettelnd um sein eigenes Leben in der Hoffnung, dass das Schicksal gnädig sein würde. Das Schicksal, welches ich verkörperte.

In der echten Welt, da hatte ich mich auch stets auf andere Menschen verlassen müssen und mein Leben in die Hände Fremder gelegt, allen voran in die der Ärzte. Mein gesamtes Leben war von einer dummen Liste abhängig gewesen, die darüber entscheiden sollte, ob und wann mir ein Spenderhez zustehen würde. Aber wer entscheidet darüber, wem eine neue Chance zusteht und wer zum Sterben verurteilt wird? Wer verdiente es weiterzuleben? Und vor allem, wie kann man so leichtfertig über das Leben anderer entscheiden, ohne sie zu kennen? Die Kriterien, um ein Spenderorgan zu bekommen, waren jedoch gänzlich andere als die, die ich jetzt zu Rate ziehen musste, um eine Entscheidung zu fällen. Wenn es nach mir ginge, würden alle weiterleben.

Die Zeit ist abgelaufen. Eine Entscheidung ist fällig.

Ich stöhnte leise. Diese unerträglich, gleichbleibend freundliche Frauenstimme mit ihrer verfluchten Gelassenheit würde mich sicher noch in meinen Alpträumen Heim suchen, falls ich diesen Ort je lebend verlassen sollte.

Ich berührte entschieden das Löwensymbol, diesmal mit einer deutlich stärkeren inneren Anspannung. Ich verkrampfte mich ein wenig und klammerte meine Hände fest um den Stuhl, um auf meine verdiente Strafe zu warten. Als sie kam, durchzuckte mich der Schmerz mit unbeschreiblicher Intensität. Meine Muskeln krampften sich so heftig zusammen, dass ich dachte sie würden jeden Moment zerreißen. Ein dumpfer Schrei drang aus meiner Kehle, während sich meine Finger automatisch immer fester in die Lehnen des Stuhls krallten. Als der Schmerz endlich verklungen war, seufzte ich vor Erleichterung und legte mir eine zittrige Hand auf die Brust. Das Hämmern meines Herzens hatte eine fast besorgniserregende Geschwindigkeit angenommen und in meinen Ohren brummte es. Benebelt von dem Schmerz versuchte ich den Kopf zu heben, doch das tödliche Halsband schien ein wenig schwerer geworden zu sein. Es drückte sich erbarmungslos um meine Kehle und schnürte mir dabei fast die Luft ab. Der Drang es mir gewaltsam herunter zu reißen, wurde jede Sekunde größer.

Doch meine Aufmerksamkeit wurde schnell wieder auf die kühle elektronische Stimme gelenkt. Mühevoll hob ich den Kopf und blickte direkt in ein vertrautes Augenpaar.

Makoto.

Schwächelnd zog ich mich hoch und lehnte mich vor, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch das Riesenrad drehte sich erbarmungslos weiter, während mein Blick ihm folgte. Ich sah wie er seine Hände fest gegen die Glasscheibe drückte. Sein gequälter Gesichtsausdruck erschütterte mich bis ins Mark. Er versuchte mir ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, doch seine Augen verrieten Mitgefühl und Unsicherheit. Es fühlte sich an, als würde er mich bemitleiden, genauso wie damals, als wir noch zusammen gewesen waren und ich erfahren hatte, dass ich nicht mehr lange leben würde. Doch ich wollte nicht bemitleidet werden. Ich hatte mich vor allem nach emotionalem Beistand und einer Flucht vor meinen düsteren Gedanken an den nahenden Tod gesehnt. Stattdessen hatte ich Makoto aufbauen müssen, den die Nachricht zu dem Zeitpunkt fast härter getroffen hatte, als mich selbst.

Mein Blick richtete sich schnell zurück auf den Monitor, um Makotos Nummer ins Auge zu fassen.

Er hatte die 4.

So wie ich ihn kannte, würde ihn das garantiert beunruhigen, denn er war, seit ich ihn kannte, schon immer recht abergläubisch gewesen.*

Runde 3:
Ein zufälliger Spieler wird ausgewählt.

Ich holte tief Luft und ließ mich dann wieder entschieden zurück in den Stuhl sinken, während ich versuchte, die restliche Angst abzuschütteln. Immerhin blieb mir auf diese Art erspart, selbst jemanden auswählen zu müssen, dennoch machte ich mir immernoch Sorgen, dass die Wahl auf Makoto fallen würde.

Egal, wer letztendlich ausgewählt wird. Niemand würde heute sterben müssen.

Das Schicksal muss als Strafe einen Tribut zahlen.

Als ich den Satz bereits zum fünften Mal hörte, hatte ich mich fast schon an den Schmerz gewöhnt... dachte ich zumindest, doch als ich diesmal mein volles Bewusstsein wiedererlangte, fand ich mich am ganzen Körper zitternd auf dem Boden wieder. Verwirrt sah ich mich um. Ich schwitzte aus allen Poren und mein Atem ging nur noch stoßweise. Halt suchend tastete ich nach dem Stuhl neben mir, doch ich merkte, wie die Energie Quäntchen für Quäntchen aus meinem Körper gesaugt wurde.

Inzwischen war ich mir sicher, dass die Stromstöße mit jeder weiteren Runde an Intensität gewannen. Mein Herz, das anfangs noch schnell und kräftig weiter geschlagen hatte, schien jetzt schon fast schmerzhaft in meiner Brust zu stolpern. Lange würde ich das nicht mehr durchstehen und wir waren noch nicht mal bei der Hälfte angelangt.

Sie wollen, dass ich den Tod wähle. Sie wollen, dass ich an meine Grenzen gehe. So wurde dieses Spiel konzipiert.

Diese Erkenntnis trug ich schon seit einiger Zeit mit mir herum, aber nun war es eine unbestrittene Gewissheit. Ich würde in diesem Spiel jemanden töten müssen, um weiterzuleben. Ob ich wollte oder nicht.
Das war mein Schicksal. Ein Schicksal, das mir wie eine schwere Bürde auferlegt wurde.

Im Moment war ich mir vor allem einer Sache sicher: ich wollte leben. Um jeden Preis. Ich hatte es endgültig satt, dem Tod ins Gesicht zu blicken. Lieber wollte ich ihm entschlossen begegnen und ihm in den nicht-vorhandenen Hintern treten.

Angestrengt rappelte ich mich wieder auf. Mein gesamter Körper schmerzte, doch es war schwer den Ort der Schmerzen genau zu lokalisieren. Sie schienen mich gänzlich eingenommen zu haben. Schwächelnd ließ ich mich wieder in den Stuhl zurück sinken.

Auch in Runde 6 wurde ein zufälliger Spieler ausgewählt. Diesmal fiel die Wahl auf einen Mann, der eher kräftig gebaut war und aussah wie jemand, der in Pik-Spielen einen immensen Vorteil hatte. Aber womöglich trügte dieser Eindruck auch. Er wirkte im Gegensatz zu den Anderen jedoch relativ gefasst. Womöglich wiegte er sich in Sicherheit, weil er bemerkt hatte, dass ich bisher ausnahmslos jedem Gnade gewährt hatte.

Inzwischen hatte ich mir überlegt, dass es wohl taktisch cleverer wäre, andere Fragen zu stellen. Mit dem Namen und dem Alter kam ich ohnehin nicht sonderlich weit, um eine sinnvolle Entscheidung zu treffen.

"Haben Sie schon mal jemanden getötet?"

Meine Frage ließ den Mann kurzzeitig irritiert innehalten.

"Meinst du im Borderland oder davor?"

"Ich meine, ob Sie absichtlich jemanden getötet haben, völlig egal wo."

"Definiere absichtlich."

Ich rollte etwas genervt mit den Augen.

"Mit Vorsatz."

"Nein, aber ich habe Menschen in den Spielen getötet, weil ich überleben wollte."

Diesmal war ich diejenige, die für einen kurzen Moment innehielt. Genau genommen hatte ich das auch. Wie könnte ich ihn also dafür verurteilen? Und immerhin versuchte er nicht mich anzulügen, um sich zu retten.

"Erzählen Sie mir etwas von sich, was mich überzeugt, Sie am Leben zu lassen."

Er lachte kurz tonlos auf.

"Du wirst mich doch sowieso nicht umbringen. Dazu hast du doch gar nicht den Mumm, Kleine."

"Sie kennen mich nichtmal!", fuhr ich ihn an. Für einen Augenblick war ich von mir selbst überrascht.

Seit wann ließ ich mich so leicht provozieren?
Vielleicht nur, weil er Recht hatte.

Das akustische Signal setzte wieder ein. Die Minute schien gefühlt mit jeder Runde kürzer zu werden und ich hatte noch immer keinen Schimmer, wie ich mich entscheiden sollte.

Sollte ich diesen Mann zum Tode verurteilen , weil er die Wahrheit ausgesprochen hatte? Oder sollte ich ihn umbringen, um mir selbst zu beweisen, dass ich durchaus in der Lage dazu war, jemanden zu töten? Und was sagte das über mich aus?

"Du wirst dich umbringen, wenn du alle am Leben lässt. Das ist dir klar, o-?", seine Worte wurden abrupt von der Verbindung gekappt.

Er hatte Recht.

Ich würde mich umbringen, wenn ich mich weitere 7 Runden von diesem Halsband malträtieren ließ. Aber was sollte ich sonst tun?

Als die vier Karten auf dem Bildschirm erschienen, glitt mein Blick nachdenklich über sie hinweg. Mein Finger schwebte zögerlich über der Karte mit dem menschlichen Herzen.

Der Narr.

Normalerweise war auf jedem Tarotblatt, das ich kannte, auf dieser Karte ein Mann im Narrenkostüm abgebildet. Sie war die erste Karte der großen Arkana. Auch das hatte ich von Makoto gelernt. Doch diese Version der Karte wirkte so, als wäre sie speziell für mich gemacht worden.

War ich närrisch, weil ich ein Herz hatte? Auch wenn das Herz in meiner Brust defekt war, so hatte ich dennoch ein Herz für Andere.

Das Warnsignal wurde lauter und lag in den letzten Zügen. Bevor ich eingehender darüber nachgedacht hatte, hatte mein Finger die Karte mit dem Herz berührt.

'Der Narr' wurde auserwählt. Das Leben des Herausforderers wird verschont.

Augenblicklich erlosch die Karte auf dem Monitor. Ich hatte tatsächlich leichtfertig meinen einzigen Joker aufgebraucht, den ich zur Verfügung hatte. Doch immerhin ereilte mich diesmal keine Strafe. Dennoch bereute ich die Entscheidung ein wenig, als ich sah, wie der Mann sich kopfschüttelnd und mit geringschätziger Miene von mir abwandte. War es das wirklich wert gewesen? Er wirkte jedenfalls nicht sonderlich dankbar. Vermutlich hielt er mich tatsächlich für eine Närrin.

Diesmal konnte ich selbstständig jemanden wählen. Da ich jedoch ohnehin nicht wusste, wen ich hätte auswählen sollen, landete mein Finger wieder auf einer zufälligen Zahl, die 4 ausgenommen.

In der Gondel, die zu mir hinunterfuhr, saß wieder ein Mann, diesmal eher mit schlaksiger Statur. Da die Gondel eine der wenigen war, die vollständig von Glas umgeben und damit komplett durchsichtig war, konnte man ihn gut erkennen, allerdings hatte er sich fast provokativ von mir abgewandt. Er sah mich nicht an, obwohl ich mir sicher war, dass er genau wusste, dass er von mir gewählt worden war. Nur ein paar Gondeln entfernt, sah ich, wie jemand mir hektisch zuwinkte. Als ich Makoto erkannte, lächelte ich und hob ebenfalls meine Hand. Irgendwie beruhigte es mich ein wenig zu wissen, dass er in der Nähe war, auch wenn ich ihn nicht hören konnte.

Es knisterte wieder kurz in meinem Ohr.

"Haben Sie schon mal jemanden mit Vorsatz getötet?", fragte ich erneut.

Eine längere Pause entstand.

"Hallo, hören Sie mich?"

Meine Stimme wurde automatisch ein wenig lauter.

"Ich höre dich sehr gut", entgegnete er mit fast emotionsloser Stimme.

"Dann beantworten Sie meine Frage!", forderte ich ihn auf.

"Ich wüsste nicht wieso."

Ich schnaubte.

"Vielleicht, um Ihr Leben zu retten."

"Du hast nicht mal diesen ungehobelten Kerl vor mir getötet. Hast sogar deinen einzigen Joker für diesen Idioten verschwendet. Wieso solltest du mich dann töten? Außerdem könnte ich dich genauso gut auch anlügen."

"Sie sorgen jedenfalls nicht gerade dafür, dass ich mich für Sie entscheide", knurrte ich ein wenig verärgert. "Und es ist unhöflich, Menschen nicht in die Augen anzusehen, mit denen man spricht."

"Ich halte es für schlauer, dem Schicksal nicht meine Schwächen zu offenbaren."

Ich stöhnte leise auf.

Dieser Kerl brachte mich noch an den Rand der Verzweiflung. Mein Blick jedoch wurde erneut von Makotos wild umher wirbelnden Armen abgelenkt. Mit gerunzelter Stirn sah ich zu ihm auf und beobachtete, wie er in die Richtung des Mannes in der transparenten Gondel deutete, während er stumm seine Lippen dazu bewegte.

Was wollte er mir mitteilen?

Anhand seiner inbrünstigen Gesten musste es etwas Wichtiges sein. Ich versuchte genauer auf seine Lippenbewegungen zu achten. Dann wieder auf seine Armbewegungen. Diesmal griff er sich an den Hals, als würde er sich selbst erdrosseln und zeigte dann wieder in die Richtung des Mannes.

Als ich endlich begriff, welches Wort er mir mitzuteilen versuchte, weitete ich vor Entsetzen meine Augen und sah dann wieder ungläubig zurück zu dem Mann, der mir noch immer den Rücken zugewandt hatte. Und jetzt wurde mir auch endlich klar, wieso.
Er war ein Mörder.

Offensichtlich auch einer, den man kennen sollte. Zumindest schien Makoto ihn zu kennen.

Die Zeitanzeige erschien wieder auf dem Monitor.

"Haben Sie noch irgendwelche letzten Worte?", fragte ich und versuchte dabei, das Beben in meiner Stimme zurückzuhalten. Das, was ich gleich tun würde, würde mich eine Menge Überwindung kosten, aber ich vertraute Makoto.

"Als könnte ein Gutmensch wie du mit der Schuld leben, jemanden umzubringen. Leere Drohungen", entgegnete er abschätzig.

"Das wollen wir mal sehen", murrte ich. Als das akustische Warnsignal wieder verklang, legte sich mein Finger mit energisch klopfendem Herzen auf die Karte mit dem Sarg.

'Der Tod' wurde auserwählt. Den Herausforderer ereilt die Strafe des Schicksals.

In dem Moment sah ich, wie der Kerl sich langsam zu mir umdrehte und mir einen letzten vernichtenden Blick zuwarf, bevor er vor meinen ungläubigen Augen in tausend Stücke zerfetzt wurde.

Vollkommen gelähmt starrte ich auf die Gondel, die sich innerhalb von Sekunden blutrot gefärbt hatte. Das Blut bahnte sich seinen Weg in dünnen Rinnsalen an der Scheibe hinunter. An manchen Stellen hingen lose Fleischfetzen. Nun wusste ich immerhin, wozu die Halsbänder der Anderen dienten.

Unwillkürlich wandte ich den Blick von der fürchterlichen Szene ab und begann zu würgen.

Was hatte ich getan?

Das war allein meine Schuld.

Resigniert stützte ich mich mit den Ellenbogen auf dem Tisch vor mir ab, während ich versuchte, meinen rasselnden Atem unter Kontrolle zu bringen.

Ich durfte jetzt bloß nicht in Panik verfallen.

Das Spiel war noch nicht zu Ende.

Meine Augen fingen Makotos Gestalt ein, als wäre sie mein Rettungsanker, an den ich mich klammern konnte. Er nickte mir diesmal ermutigend zu und zeigte einen Daumen nach oben.

Warum fühlte es sich trotzdem nicht so an, als hätte ich das Richtige getan?

Ich hatte leichtfertig ein Menschenleben ausgelöscht. Ich hatte mit Vorsatz getötet, was mich selbst zu einer Mörderin machte. Doch ich hatte keine Zeit länger darüber nachzudenken. Die Zeit tickte gnadenlos weiter und zwang mich erneut zu einer Entscheidung. Ich wünschte, ich hätte mit Makoto reden können, doch dafür hätte ich ihn auswählen müssen.

Die nächsten Runden verlangten alles von mir ab. Ich wollte verhindern, dass erneut jemand auf diese grausame Art sterben musste und erteilte jedes Mal Gnade, so lange, bis ich nur noch wie ein zusammengekauertes Bündel auf dem Boden lag. Inzwischen fühlte sich mein Körper fast taub an von den Schmerzen. Die elektrischen Stöße schienen immer noch wellenartig durch meinen Körper zu gehen, selbst nachdem die Stromzufuhr längst unterbrochen war. Kläglich wimmernd versuchte ich mich wieder aufzurichten. Doch ich war zu schwach, um mich wieder auf den Stuhl zu ziehen. Stattdessen versuchte ich mich daran festzuklammern, um nicht den Halt zu verlieren und wieder auf den Boden zu sacken. Das Bild auf dem Monitor verschwamm ein wenig vor meinen Augen, als sich das Riesenrad wieder in Bewegung setzte, um eine neue Nummer auszuwählen.

Die wievielte Runde war das eigentlich?
Ich wusste es nicht.

Ich hatte die Ansage zu Beginn nicht mehr mitbekommen und versuchte jetzt stattdessen mühevoll die Zahl auf dem Bildschirm zu entziffern.

4.

Nein.

Bitte nicht!

Und doch war eigenartigerweise ein winziger Teil in mir froh darüber, seine Stimme hören zu können.

"Tsuki, ich bitte dich inständig: Hör auf, den Leuten Gnade zu erteilen! Du kannst nicht alle retten. Du bringst dich noch um, wenn du damit weitermachst. Bitte sei doch vernünftig! Nur dieses eine Mal."

In diesem Moment konnte ich nicht mehr länger an mich halten. Die Tränen brachen wie ein heftiger Tsunami aus mir hervor, während ich am ganzen Leib unkontrolliert zitterte.

"Was soll ich denn machen? Ich will das alles nicht", schluchzte ich und vergrub meinen Kopf hilflos in meinen Armen, während meine Tränen unschöne Flecken auf dem Sitzpolster hinterließen. "Ich kann nicht mehr."

"Es gibt noch eine andere Option als den Tod."

"Aber dann sterben gleich drei Menschen. Das kann ich nicht machen."

"Du kannst, Tsuki. Du musst. Außer du möchtest mich töten. Dann kann ich dich auch nicht davon abhalten. Aber du musst weiterleben. Für deine Eltern und deinen Bruder. Ich habe keine Familie, die mich vermissen wird. Du bist meine Familie, Tsuki."

"Das kann nicht dein Ernst sein?", brachte ich nur fassungslos hervor. "Ich könnte dich nie... niemals..."

Ich schluckte schwer.

"Es ist deine Entscheidung, aber wähle nicht Gnade! Ich kann nicht mit ansehen, wie du dich quälst und dich selbst umbringst, nur um Andere zu retten."

In seiner Stimme war wieder ein inständiges Flehen herauszuhören.

Die nervtötende Spielorgelmusik draußen wurde wieder schneller, je weiter die Sekunden voran rückten. Als das Signal ertönte, wurde ich von innerer Panik erfasst. Ich versuchte mich mühsam ein wenig nach oben zu ziehen, um den Bildschirm mit dem Finger zu erreichen. Er schwebte bereits aus Gewohnheit über dem Löwenkopf, hielt jedoch einen kurzen Moment zögerlich inne, während ich mir Makotos Worte noch einmal genauer durch den Kopf gehen ließ.

In letzter Sekunde entschied ich mich für eine andere Karte.

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*die 4 ist laut japanischem Aberglaube eine Unglückszahl

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