❤️ Neuanfang

Can we start over?
Can we get closer?
Can we start over?
Before it's over, over?

Come alive, come alive, come alive again

"Du hattest wirklich verdammtes Glück, Izumi", sagte Ann beinahe vorwurfsvoll, als sie mir ein großes Pflaster auf die Stirn klebte. "Du solltest wirklich Abstand nehmen von diesen Leuten, zu deiner eigenen Sicherheit. Niragi gehört nicht nur zum Militär, er ist auch Ratsmitglied. Das heißt, er kann dir dein Leben hier zur Hölle machen, wenn er will."

"Du bist auch Ratsmitglied, oder nicht? Genau wie Chishiya", fragte ich, obwohl ich die Antwort darauf bereits kannte.

"Wenn Niragi sich etwas in den Kopf gesetzt hat, können auch Chishiya oder ich nichts mehr gegen ihn ausrichten. Das Militär hat die komplette Waffengewalt im Beach. Niemand legt sich ohne Weiteres mit ihm an! Geh ihm also, wenn möglich aus dem Weg, verstanden?"

Ihre Stimme hatte jetzt einen warnenden Unterton angenommen. Offensichtlich schien Ann sich ernsthaft Sorgen um mich zu machen, auch wenn sie es auf ihre übliche schroffe Art tat.

Ich nickte einsichtig, um sie ein wenig zu besänftigen, aber auch, weil es etwas anderes gab, auf das ich sie gern ansprechen wollte.

"Ich bin fertig. Du kannst gehen", sagte sie und stand von dem Drehhocker auf, um ihrer Arbeit nachzugehen. Statt jedoch aufzustehen, blieb ich zögerlich auf der Untersuchungsliege sitzen.

"Also Ann", begann ich vorsichtig, als sie mir den Rücken zugewandt hatte, um ihre Utensilien wieder in dem Schrank zu verräumen. Sie hielt für einen Augenblick inne, ohne mich anzusehen. "wenn du möchtest, könnte ich versuchen, dich ein wenig bei deiner Arbeit zu unterstützen. Ich habe zwar nicht viel Ahnung von dem ganzen medizinischen Kram, aber vielleicht kannst du es mir ja beibringen?"

Langsam drehte Ann sich wieder zu mir um, ihre Stirn hatte sich deutlich in Falten gelegt.

"Wieso solltest du das tun wollen?", fragte sie und musterte mich argwöhnisch dabei.

Mit einem nervösen Lächeln faltete ich meine Hände im Schoß zusammen.

"Ich weiß nicht...ich dachte, es könnte mich vielleicht auf andere Gedanken bringen. Davon abgesehen würde ich mich gern etwas nützlich hier machen. In der Küche bin ich nicht wirklich zu gebrauchen und der Militärtrupp ist definitiv auch nichts für mich..."

Ich lachte etwas verlegen. Ann hingegen verzog keine Miene, sondern schien in ihre eigenen Gedanken vertieft zu sein.

"Ann?", fragte ich, als sie nach einer gefühlten Minute noch immer keine Antwort gegeben hatte. Ihr Name schien sie wieder in die Realität zu befördern.

"Bist du dir sicher, dass dieser Job etwas für dich ist, Izumi?"

Ihre Frage traf mich unvorbereitet.

"Nun, ich kann es nicht herausfinden, wenn ich es nicht versuche, oder?", fragte ich schulterzuckend, legte den Kopf zur Seite und grinste sie ein wenig an.

"Du solltest starke Nerven mitbringen, und keinen Ekel vor Blut oder Innereien haben. Außerdem solltest du sorgfältig und präzise arbeiten können und dazu bereit sein, auch Nachtschichten einzulegen."

Ich nickte entschlossen.

"Das bekomme ich schon hin", versicherte ich ihr, obwohl ich eine gewisse Nervosität nicht verleugnen konnte, allerdings versuchte ich, mir das vor Ann nicht anmerken zu lassen. Ich hatte mir diese Sache im Voraus mehr als einmal durch den Kopf gehen lassen. Womöglich war das die einzige Möglichkeit, wie ich mein schlechtes Gewissen wieder reinwaschen konnte, nicht nur, weil ich das mit Chishiya geheim halten musste, sondern auch, um meine vergangenen Taten wieder gutzumachen. Ich war mir bewusst, dass ich sie nicht ungeschehen machen konnte, aber ich konnte zumindest versuchen, andere Menschen vor dem Tod zu bewahren und ihnen beizustehen. Hoffentlich würde mir das in Zukunft dabei helfen, nachts etwas ruhiger zu schlafen.

Ann schien immer noch mit sich zu ringen, das konnte ich ihr ansehen.

"Bitte, Ann!"

Mein Blick wurde automatisch ein wenig flehender, doch Ann blickte nach wie vor ins Leere. Nach einiger Zeit gab sie schließlich ein schweres Seufzen von sich.

"In Ordnung, wir werden es versuchen, aber ich weise dich erst morgen ein. Dein letztes Spiel liegt kaum zwei Tage zurück, und es besteht immer noch das Risiko von Spätfolgen nach deinen Verletzungen. Gönn dir vorher noch etwas Ruhe!"

"Danke, Ann, ich werde dich nicht enttäuschen", sagte ich bereitwillig, sprang auf und hob meine Faust, als wäre ich bereit zum Kampf. Das entlockte ihr tatsächlich ein winziges Lächeln.

"Das werden wir dann sehen."

Beinahe beschwingt vor Freude hüpfte ich zurück zu meinem Zimmer. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich diesmal die richtige Entscheidung getroffen hatte. Auch, wenn mir eine weitere Begegnung mit diesem Niragi zugegeben ein wenig Bauchschmerzen bereitete, war ich insgesamt erstaunlich zuversichtlich. Zumindest zuversichtlicher, als man es in einer Welt, in der man jederzeit sterben könnte, wohl erwarten würde. Vielleicht hatte ich mich aber inzwischen auch einfach an den Gedanken gewöhnt, dem Tod ins Auge zu blicken. Statt mich selbst zu bemitleiden, wollte ich vielmehr anfangen, die Tage, die mir noch blieben, zu genießen und so sinnvoll wie möglich zu nutzen. Und was konnte es Sinnvolleres geben, als anderen Menschen zu helfen?

In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal durch, seit meiner Ankunft hier - zumindest, wenn man die Nacht in Kuinas Zimmer außer Acht ließ. Aber dort war ich auch mit Beruhigungsmittel vollgepumpt gewesen. Auch, wenn diese Gemeinschaft nach wie vor eigenartig und auch beängstigend war, gewöhnte ich mich langsam an das Leben im Beach. Bis hier jedoch ein Gefühl von zu Hause aufkommen würde, würde wohl noch einige Zeit ins Land gehen, falls es überhaupt jemals dazu kommen sollte. Im Moment erschien das fast unvorstellbar. Vielmehr hatte ich mich mittlerweile damit arrangiert, hier zu sein. Diese Situation erschien mir jedenfalls allemal besser, als draußen in der Wildnis völlig auf mich allein gestellt zu sein. Zudem empfand ich eine gewisse Erleichterung, dass ich zumindest Makoto in Sicherheit wusste, wenn ich schon keine Ahnung hatte, was mit meinen Eltern passiert war.

Nach dem Aufstehen löste ich vorsichtig den Verband um meinem Hals. Die Wunde zeigte bereits eine deutliche Besserung im Vergleich zum Vortag und auch das Jucken hatte erheblich nachgelassen. Nur die obere Hautschicht war noch ein wenig aufgeraut. Wie Ann vermutet hatte, würde wohl eine sichtbare Narbe an der Stelle zurückbleiben: ein bleibendes Andenken an meine Taten.

Im Anschluss entfernte ich auch das Pflaster von meinem Kopf. Auf der Wunde hatte sich mittlerweile getrocknetes Blut gebildet. Vorsichtig strich ich meinen Pony über die Stirn, um die Verletzung zu kaschieren. Schließlich mussten Makoto und Kuina nicht alles erfahren.

Ich lächelte Makoto an und winkte, als ich ihn kurz nach dem Frühstück auf unseren Tisch zukommen sah.

"Ich geh dann mal besser und lasse euch Turteltauben alleine", wisperte Kuina mir mit verschwörerischem Grinsen zu.

"Du kannst ruhig bleiben", widersprach ich, doch da war sie bereits aufgesprungen und hatte ihr Tablett geschnappt.

"Wir sehen uns", flötete sie und war kurz darauf, wie vom Erdboden verschluckt.

"Sie scheints ja eilig zu haben", sagte er verwundert, als Kuina wie eine Rakete an ihm vorbeizischte.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

"Vermutlich absolviert sie ihr alltägliches Sportprogramm. Ich bekomme immer ein schlechtes Gewissen sie so zu sehen. Andererseits bin ich auch viel zu faul für Frühsport."

Makoto lachte und setzte sich dann mir gegenüber an den Tisch.

"Schön, dass du dich nicht verändert hast."

"Was ist denn mit meinem Nachtisch?", fragte ich und blickte mit einem amüsierten Grinsen auf seine leeren Hände hinab.

Makoto kratzte sich verlegen an der Wange.

"Ist leider nichts übrig geblieben heute, ansonsten hätte ich dir gern eine Schüssel Obstsalat mitgebracht."

"Ich finde es schon ungerecht, dass nur die Ratsmitglieder frisches Obst bekommen. Du glaubst nicht, was für einen Heißhunger ich auf Wassermelone hab", seufzte ich sehnsüchtig.

Er lachte wieder und zwinkerte mir dann auffällig zu.

"Ich werd mal sehen, was ich tun kann", entgegnete er feixend. Dann wurde er plötzlich wieder ernster: "Geht es dir inzwischen etwas besser? Du hast gestern nichts mehr von dir hören lassen."

Er schob seine Hand zu mir über den Tisch, zögerte jedoch, meine zu ergreifen und hielt stattdessen inne, um meine Antwort abzuwarten.

Ich nickte kräftig.

"Ja, es geht mir gut", sagte ich schnell und griff nach meiner Tasse Kaffee, um einen tiefen Zug zu nehmen.

"Du weißt, du musst damit nicht alleine klar kommen, Tsu."

Ich hielt meinen Kopf vehement gesenkt, während er mich forschend musterte. Es fiel mir schwer, seinen Blick zu erwidern, vielleicht weil ich wusste, dass er mich dann auf Anhieb durchschauen würde.

"Mach dir nicht so viel Sorgen. Ich bin stärker als ich aussehe", gab ich mit leichtfertiger Stimme zurück.

"Ich weiß", sagte er mit einem sanften Lächeln und zog seine Hand wieder zu sich zurück. Ein kurzes Schweigen entstand, in dem jeder in seine eigenen Gedanken vertieft war. "Hey, hast du nicht Lust, nachher eine Runde mit mir Schwimmen zu gehen? Um die Uhrzeit ist es noch nicht ganz so überfüllt."

Etwas erstaunt hob ich den Kopf.

"Du meinst...", ich schluckte kurz. "nur wir beide?"

Er nickte euphorisch und strahlte mich an wie ein Kind im Süßwarenladen.

"Ja, so wie in alten Zeiten. Was meinst du?"

Mir entwischte ein kleines Kichern über seine Begeisterung.

"Also gut, wieso nicht?", gab ich mich geschlagen. Schließlich konnte ich der Gesellschaft anderer Menschen nicht ewig aus dem Weg gehen.

"Gut, ich werde nur noch meine Arbeit hier beenden. Treffen wir uns in einer Stunde am Pool!"

Mit diesen Worten war er aufgesprungen und wieder in die Küche verschwunden. Mein Blick streifte ein weiteres Mal eingehender in dem Restaurant umher, während ich nachdenklich an meinem Kaffee nippte. Von Chishiya keine Spur. Vermutlich war er schon früher hier gewesen, so wie Kuina es gesagt hatte. War er ein Frühaufsteher oder wollte er wirklich nur dem alltäglichen Trubel entkommen? Und warum interessierte es mich eigentlich?

Mit unsicheren Schritten betrat ich das Außengelände des Hotels, unbewusst Ausschau haltend nach einem Mann mit gemusterten Hemd und einem Gewehr über der Schulter, denn eine erneute Begegnung mit diesem Niragi stand nicht gerade oben auf meiner Wunschliste. Doch die Anlage war recht übersichtlich, was mich erleichtert aufatmen ließ. Nur ein paar wenige Frauen genossen das Sonnenbad auf den Liegen. Auf dem Beachvolleyballfeld hingegen waren lediglich zwei Männer zu sehen, die sich den Ball pingpong-mäßig übers Netz zu spielten. Meine Aufmerksamkeit ging zum Pool hinüber. Auch dort herrschte nur wenig Betrieb. Die meisten hier mieden für gewöhnlich die Mittagssonne, da das Risiko einen Sonnenbrand zu bekommen, um diese Uhrzeit fast doppelt so hoch war. In weiser Voraussicht hatte ich mich vorher großzügig mit Sonnencreme eingeschmiert. Glücklicherweise hatte diese Maki, die zuvor mein Zimmer bewohnt hatte, eine umfangreiche Sammlung an Drogerieprodukten hinterlassen. Auch, wenn es mir manchmal noch immer wie Diebstahl vorkam, ihre Sachen zu verwenden, versuchte ich inzwischen nicht mehr, zu viele Gedanken daran zu verschwenden. Schließlich machte mein schlechtes Gewissen sie auch nicht wieder lebendig.

Mit einem souveränen Lächeln schob ich mir eine Sonnenbrille auf die Nase und steuerte den Pool an, auch wenn Makoto noch nicht in Sichtweite war. Vermutlich war er noch in der Küche beschäftigt. Entspannt ließ ich mich auf eine der zahlreichen Liegen nieder und tankte kurz ein wenig Wärme in der prallen Sonne. In dieser friedlichen Atmosphäre konnte man beinahe vergessen, dass außerhalb dieser Mauern nur Tod und Verzweiflung herrschten. Stattdessen fühlte ich mich, als hätte ich einen Sommerurlaub auf Okinawa gebucht. Gut, das Klima war vielleicht weniger tropisch, aber mit ein wenig Vorstellungskraft konnte man sich, zumindest kurzzeitig, fast wie im Paradies wähnen. Doch ich wusste auch, dass dieser Schein trügerisch war. Ich war zwar erst wenige Tage hier, doch ich hatte bereits hinter die Fassade dieses angeblichen Utopia geblickt, von dem Hatter der festen Überzeugung war, dass es existierte. Der Militärtrupp war nur eine von den vielen Schattenseiten, die ich bisher kennengelernt hatte. Auch diese bescheuerten Ränge und die drei goldenen Regeln gehörten dazu. Hinter dieser perfekten Kulisse war der Tod genauso allgegenwärtig wie er es außerhalb dieses Hotels war. Die meisten Leute hier waren mir überaus suspekt, allen voran Hatter und dieser aufdringliche Niragi. Aber immerhin gab es auch Menschen, die ich in der kurzen Zeit bereits ins Herz geschlossen hatte, wie Kuina oder Ann. Und dann gab es noch die, die irgendwie in kein Schema passen wollten. Chishiya erschien mir zwar auf den ersten Blick nicht so gefährlich zu sein wie die Typen von dieser Militär-Brigade, doch er wirkte dafür unnahbar und geheimnisvoll, als hätte er etwas zu verbergen. Vielleicht wusste er sogar mehr über unsere Situation in Borderland, als er zugab.

Während ich die Menschen am Pool beobachtete, strich ich mir den Pony aus der Stirn. Der Schweiß lief mir bereits übers Gesicht, obwohl ich erst wenige Minuten in der Sonne gesessen hatte. Träge von der Hitze streifte ich den Yukata ab und suchte mir einen Platz im Schatten. Das Verlangen nach einer Erfrischung im Pool wurde jede Sekunde größer, doch ich wollte fairerweise warten, bis Makoto seinen Weg hierher gefunden hatte.

Als er endlich auftauchte, streifte sein Blick suchend über das Gelände. Ich hob meine Hand und winkte ihm lächelnd zu. Sein Gesicht hellte sich merklich auf, als er mich bemerkte. Hastig sprintete er zu mir hinüber, in der Hand hielt er eine kleine Box mit einem Henkel.

"Hey", er stützte sich leise schnaufend auf seinem Knie ab, "ich hoffe, du wartest noch nicht zu lange."

"Alles gut. Ich bin auch erst seit ein paar Minuten da. Wozu brauchst du denn diesen Eimer?", fragte ich mit einem skeptischen Blick auf die Plastikbox in seiner Hand.

"Das ist der Grund für meine Verspätung", er öffnete den Deckel und hielt mir den Behälter unter die Nase. Im Inneren konnte ich rotes Fruchtfleisch erkennen, das in feine Scheiben geschnitten war.

Verblüfft ging mein Blick zu ihm zurück. Makoto grinste nur schelmisch.

"Du hast Wassermelone besorgt? Woher?"

"Geheimnis, aber Pssst", er senkte seine Stimme und hielt sich den Finger an die Lippen. "Posaun das nicht so herum, sonst bekomme ich Ärger."

Ich kicherte leise.

"Du dealst also mit Obst? Dass du dich nicht schämst." Meine Hand langte in die Kühlbox und fischte ein kleines rotes Dreieck hervor. "Du bist der Beste", schmatzte ich, als ich herzhaft in das saftige Fruchtfleisch gebissen hatte. Eine bessere Erfrischung konnte es bei diesen Temperaturen kaum geben.

Makoto lächelte sanft und ließ sich dann auf die Liege nebenan fallen, während er mich fast vergnügt beim Essen beobachtete.

"Wie erhofft ist nicht viel los. Nach dem Mittag kann man entspanntes Schwimmen hier im Pool vergessen."

"Musst du nicht helfen, das Mittagessen vorzubereiten?", fragte ich neugierig.

"Heute habe ich frei bis Abends. Dafür bin ich morgen wieder fürs Mittag- und Abendessen eingeteilt", erklärte er und nahm sich ebenfalls ein Stück Melone aus der Box heraus.

"Dann kannst du wenigstens mal ausschlafen."

"Ja, zumindest etwas."

"Ich hab jetzt auch endlich einen Job", erklärte ich mit leichtem Stolz in der Stimme. "Heute Abend fange ich an."

"Tatsächlich? Wo denn?", fragte er sichtlich erstaunt.

"In der Krankenstation. Ich habe Ann gefragt, ob ich ihr bei ihrer Arbeit helfen darf, weil sie ja so viel zu tun hat und sie hat tatsächlich zugestimmt", freute ich mich und stibitze mir ein weitere Ecke Wassermelone aus dem Kühlbehälter.

"Wow, und ich dachte, du kannst keine weißen Wände mehr ertragen und jetzt willst du sogar dort arbeiten? Wie kommt's?"

Er klang aufrichtig interessiert und wenn ich mich nicht irrte, sogar ein klein wenig besorgt.

"Hmmm", ich lehnte mich ein wenig nachdenklich zurück, "ich dachte, so könnte ich wenigstens etwas Sinnvolles tun."

Er nickte zögerlich.

"Das verstehe ich. Ganz ohne Arbeit würde mir hier irgendwann die Decke auf den Kopf fallen. Es ist eine gute Ablenkung von der grausamen Realität."

"Ja, ich hoffe, es bringt mich vielleicht auf andere Gedanken. Zudem tue ich damit etwas Gutes. Ich kann Ann unterstützen und den Menschen helfen. Vielleicht kann ich mich sogar um ihre Psyche kümmern, wenn es ihnen schlecht geht."

"Nun, deine Selbstlosigkeit ist beeindruckend, aber ich finde du solltest dich in erster Linie um deine eigene Psyche kümmern. Du solltest lernen über das zu reden, was dich bedrückt, Tsu. Du musst nicht mit allem alleine fertig werden. Das habe ich dir damals schon gesagt."

Ich spürte Makotos eindringliche Blicke auf mir. Er schien auf eine Reaktion meinerseits zu warten, doch stattdessen starrte ich ungerührt zum Pool hinüber, während ich angestrengt versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich bereits in meinen Augen ansammelten.

Als es unerträglich wurde, sprang ich schlagartig von der Liege auf.

"Also ich wäre jetzt bereit für eine Abkühlung. Wer zuletzt im Pool ist, hat verloren."

Rasch schlüpfte ich aus meinen Flip-Flops und rannte übermütig Richtung Wasser. Makoto schien für einen Moment verdutzt zu sein, zog sich dann aber fix sein T-Shirt über den Kopf und war mir kurz darauf dicht auf den Fersen. Lachend drehte ich mich um und legte nochmal an Geschwindigkeit zu. Kurz bevor ich am Beckenrand ankam, hielt ich mir die Nase zu und wagte einen Sprung ins kühle Nass. Das Wasser war im ersten Moment noch kälter als erwartet und das Chlor brannte mir sofort unangenehm in den Augen. Als mein Kopf wieder aus dem Wasser auftauchte, war Makoto bereits neben mir aus dem Wasser getaucht. Ich kniff die Augen fest zusammen und rieb mir feixend das Wasser aus den Augenwinkeln, um wieder eine klare Sicht zu gewinnen.

"Das war eine ziemlich unfaire Aktion", beschwerte er sich, lachte jedoch dabei.

Ich streckte ihm frech die Zunge heraus und bespritzte ihn mit Wasser.

"Unglaublich dieses Mädchen", echauffierte er sich künstlich und kam direkt auf mich zu. Schnell wirbelte ich herum und versuchte mich mit rudernden Armen durch das Wasser zu kämpfen, doch Makoto war ein ausgesprochen guter Schwimmer und holte mich innerhalb von Sekunden wieder ein. Doch so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben und setzte alles daran, wieder aufzuschließen. Kurzzeitig gelang es mir, doch dann merkte ich, dass ich bereits keuchend nach Luft schnappen musste. Makoto überholte mich ein weiteres Mal und hielt dann plötzlich unerwartet an, sodass ich geradewegs in seine Arme driftete. Mein Herz stockte kurzzeitig, als er mich mit festem Griff an sich heranzog.

"Wo willst du denn hin, kleiner Fisch?", raunte er leise an mein Ohr. Mein nervöses Kichern verhallte, als ich mich leicht von ihm löste, doch Makoto ließ nicht locker. Er drückte seine Wange an meine und verharrte einige Zeit in dieser Position, während ich ein wenig überfordert von seiner plötzlichen Annäherung war. Makoto war normalerweise nicht der Typ für solche offensiven Gesten, zumindest damals hatte es eine halbe Ewigkeit gedauert, bis wir überhaupt zum ersten Mal Händchen gehalten hatten, geschweige denn uns umarmt. Möglicherweise lag es daran, dass wir schon vor dieser ganzen Situation vier Jahre lang eine intensive Beziehung geführt hatten. Und vielleicht wollte er jetzt keine Zeit mehr verlieren, aus Angst, im nächsten Spiel sterben zu müssen. Das alles war nachvollziehbar und doch fühlte ich mich zunehmend unwohl in seiner Umarmung. Ich entwand mich seinem Griff, zögerlich, aber auch entschieden genug, um es ihm begreiflich zu machen.

"Ist alles in Ordnung?", fragte er beklommen, als ich zurück an den Beckenrand schwamm.

Ich setzte ein falsches Lächeln auf.

"Ja, klar. Ich... bin nur ein wenig aus der Puste. Ich bin das hier nicht mehr gewohnt."

"Verständlich. Vielleicht solltest du doch etwas trainieren, für den Fall, dass du nächstes Mal wieder in ein Pik-Spiel gerätst", gab er zu Bedenken und folgte mir zum Beckenrand.

"Ja, sicher keine üble Idee", sinnierte ich, lehnte mich mit dem Rücken gegen die kalten Fliesen und blickte dann zum Himmel auf, während ich meine Beine im Wasser dahintreiben ließ.

"Ich bin wirklich froh, dich hier wieder getroffen zu haben", sagte er und lehnte sich ebenfalls ein wenig zurück, ohne seinen Blick von mir zu lösen. "Ich verstehe bis heute nicht, warum du es beendet hast, aber ich habe es akzeptiert...weil ich wollte, dass du glücklich bist. Du weißt, ich wäre bis zum bitteren Ende an deiner Seite geblieben, wenn du es gewollt hättest. Nur ein Wort von dir..."

"Ich weiß, Makoto", unterbrach ich ihn und sah mit ernster Miene zu ihm hinüber. "Ich habe nie daran gezweifelt."

"Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät, um dich irgendwie umzustimmen", murmelte er, diesmal deutlich zurückhaltender. "Ich habe nie aufgehört, an dich zu denken, weißt du."

Sein Blick schweifte beinahe verträumt zu mir hinüber, während ich fieberhaft nach Worten suchte, die ihn nicht verletzen, aber auch nicht zu viele Hoffnungen machen würden.

"Ich hab auch oft an dich gedacht", entgegnete ich wahrheitsgemäß, meine Worte vorsichtig abwägend. "aber auch, wenn es mir hier gesundheitlich an nichts fehlt - diese Welt...ich glaube es wäre einfacher hier keine tiefergehende Beziehung einzugehen. Das würde alles noch viel schlimmer machen, als es ohnehin schon ist."

Als ich ihn musterte, konnte ich ihm ansehen, dass er mit meiner Antwort nicht zufrieden war.

"Ich verstehe, warum du das so siehst, aber vielleicht ist genau das Gegenteil der Fall. Vielleicht gibt es uns auch Hoffnung und das nötige Selbstvertrauen, um das alles hier zu überstehen."

"Das ist sehr optimistisch gedacht."

"Nun, sonst warst du doch immer diejenige, bei der das Glas immer halb voll ist. Was ist passiert?"

"Ich versuche nur realistisch zu sein", erklärte ich knapp und wandte mich dann ab, um noch eine Runde zu drehen.

"Die Menschen hier versuchen alle ihr Leben zu genießen, weil es jeden Tag vorbei sein könnte. Was wäre denn dabei, wenn wir es nochmal miteinander versuchen?", rief er mir hinterher und folgte mir mit hastigen Schwimmzügen.

Ich seufzte und drehte mich dann zu ihm um.

"Gib uns...doch noch ein wenig Zeit, ja? Wir haben uns gerade erst wieder getroffen."

Er schüttelte den Kopf, verständnislos.

"Du bist ein harter Brocken, echt. Aber meinetwegen, ich kann warten. Weil du es bist."

Sein Lächeln war ein wenig quälend, aber er schien nicht verärgert zu sein, höchstens enttäuscht. Danach wurde unser Gespräch wieder belangloser, worüber ich froh war. Ich weiß nicht, wie lange ich seinen Fragen noch standgehalten hätte. Im Moment fiel es mir schwer meine Entscheidung rational zu begründen. Es war vielmehr ein inneres Gefühl, dass mich davon abhielt, wieder eine Beziehung mit ihm einzugehen.

Ich hatte nach wie vor Gefühle für ihm, ohne Zweifel, doch die Zeit hatte mich auch verändert. Das, was mir widerfahren war, hatte mich verändert. Ich war nicht mehr die gleiche Person, die ich war, als ich mit ihm zusammenkam. Die Umstände, allen voran meine Krankheit, hatten mich eingehender über mein bisheriges Leben nachdenken lassen und ja, vielleicht wollte ich auch einfach einen kompletten Neuanfang wagen, ohne die bisherigen Einschränkungen. Ich wollte alles auskosten, all die Dinge, zu denen ich noch vor wenigen Monaten nicht mehr in der Lage gewesen war, weil das Risiko, dass ich an der mangelnden Sauerstoffversorgung zugrunde gehen würde, zu groß gewesen war. Zudem hatte mir auch die nötige Energie für diese Tätigkeiten gefehlt.

Doch hier war ich frei.

Hier konnte ich mein Leben noch einmal neu beginnen und es nach meinen Vorstellungen gestalten. Nur eines war geblieben: der Umstand, dass es jeden Tag vorbei sein konnte - mit dem einzigen Unterschied, dass mein Schicksal diesmal nicht von einer bescheuerten Liste abhängig war, sondern ausschließlich von mir selbst.

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