♦️ Flucht vor dem Unvermeidlichen
My shadow's the only one that walks beside me
My shallow heart's the only thing that′s beating
Sometimes I wish someone out there will find me
′Til then I walk alone
Entspannt schloss ich meine Augenlider und atmete tief ein um meine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen. Die Ruhe hier oben auf dem Dach war wohltuend. Nur hier war man weitesgehend abgeschirmt von den Menschen, der Musik... der gesamten Welt. Nur hier war es möglich den Kopf frei zu bekommen und die Gedanken ungehindert schweifen zu lassen.
Eine leichte Windböe fuhr durch meine Haare und sofort lag der vertraute Geruch von salzigem Meerwasser in der Luft. Für einen kurzen Moment hielt ich inne, um die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht wirken zu lassen. Dann öffnete ich die Augen wieder und beobachtete eingehend das rege Treiben der Leute unten auf dem Gelände, welche von hier oben alle nur wie winzige Ameisen erschienen - ein dummes manipulierbares Ameisenvolk, das fleißig Karten sammelte und treu seinem Anführer hinterherlechzte, ohne jemals die Dinge zu hinterfragen, die er tat.
Die Hoffnung, dass sie irgendwann nach Hause zurückkehren könnten, machte sie blind dafür zu begreifen, wie hirnrissig das Ganze überhaupt war und sie merkten nicht wie sehr das System bereits wankte.
Nur ein winziger Schmetterlingsschlag könnte einen unzähmbaren Tornado auslösen und den Beach ein für alle mal dem Erdboden gleich machen. Doch bevor es soweit war, musste ich es schaffen meinen Plan in die Tat umzusetzen. Doch dazu fehlte mir nach wie vor ein letztes entscheidendes Puzzleteil.
Die ausführende Hand.
Nur mit ihr würde ich mein Ziel erreichen und an die Karten kommen, die Hatter wie seinen Augapfel hütete. Ich brauchte nur jemanden, der naiv genug war und mir blauäugig vertraute ohne weitere Fragen zu stellen. Am besten jemand, der diesem Ort genauso entfliehen wollte wie ich oder Kuina.
Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Schritte näherten sich. Ich wandte den Kopf ein wenig zur Seite und sah die junge Frau mit den Dreadlocks neben mir auftauchen. Als hätte sie mich denken gehört.
"Sag mal lungerst du schon den ganzen Tag hier oben herum?"
Ihr Ton klang ein wenig vorwurfsvoll, während sie wie üblich ihren Plastikstiel mit den Zähnen bearbeitete.
"Hast du dir etwa Sorgen gemacht?", fragte ich belustigt.
Sie schnaubte abfällig.
"Ich mach mir höchstens Sorgen, dass du dir hier oben einen Sonnenbrand holst."
"Kann mir so schnell nicht passieren. Ich habe eine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50."
Sie rollte kopfschüttelnd mit den Augen.
"Du hast dich heut den ganzen Tag nicht blicken lassen, noch nichtmal beim Abendessen. Das ist selbst für dich ungewöhnlich. Hast du dich wieder in der Stadt rumgetrieben um nach irgendwelchen Bauteilen für deine Bastelarbeiten zu suchen?"
Ein amüsiertes Grinsen glitt über meine Lippen. Kuina kannte mich inzwischen zu gut. Allerdings nicht gut genug, um den wahren Grund für meine heutige Abwesenheit im Beach zu kennen.
"Du weißt doch. Vorbereitung ist alles."
"Ich glaube du solltest dich manchmal etwas mehr mit Regel Nummer 2 auseinandersetzen."
Ich runzelte fragend die Stirn.
"Du meinst ich soll stattdessen wie die anderen wilde Partys feiern, Sexorgien veranstalten und mich bis zur Besinnungslosigkeit zudröhnen?"
"So krass vielleicht auch nicht. Ich rede eher davon dein Leben zu chillen. Und ja, wieso nicht? Bei dir klingt das so als wäre es was Schlimmes mal etwas Spaß zu haben."
"Nicht alle Leute haben die gleiche Definition von Spaß wie du, Kuina. Und wenn ich mich so gehen lassen würde, würden wir wohl für immer hier in diesem Nest versauern."
Sie seufzte und ihr Blick wurde ein wenig finsterer.
"Warum bekomme ich eigentlich immer so ein schlechtes Gewissen in deiner Gegenwart?"
Ich antwortete nicht auf ihre rhetorische Frage, sondern grinste nur in mich hinein und ließ meinen Blick wieder schweigend in die Ferne schweifen. Die rote Sonne näherte sich allmählich dem Horizont, was bedeutete, dass die Spiele bald wieder beginnen würden.
"Hast du eigentlich schon die brandheißen Neuigkeiten gehört?", durchbrach Kuina die einträchtige Stille.
"Du meinst die Pik 4?", fragte ich, weil ich mir ziemlich sicher war, dass es letztendlich darauf hinauslief. Ich wusste, dass ich diesem Thema auf Dauer nicht entrinnen konnte, also konnte ich es auch gleich selbst zur Sprache bringen.
"Ja, aber ich meine eher die Neuigkeiten über die Frau, die uns diese Karte gebracht hat. Die Frau, die plötzlich mysteriöserweise bei uns in der Krankenstation aufgetaucht ist und sich angeblich nicht mal daran erinnert wie sie dorthin gekommen ist."
"Hab davon gehört. Nun, sie kann sich glücklich schätzen so eine seltene Karte bei sich gehabt zu haben."
"Ich hab sie heute auf dem Gelände herumgeführt und mit allem vertraut gemacht. Ann hat mich darum gebeten."
Ich horchte auf, aber versuchte äußerlich nach wie vor gleichgültig zu wirken.
"Warum erzählst du mir das?"
"Mich würde nur deine Meinung dazu interessieren. Du hast doch bestimmt schon einen Verdacht wer das gewesen sein könnte. Ich kenne dich doch, Chishiya."
Ja und genau aus diesem Grund bin ich mir sicher, dass du mich nicht verdächtigen wirst, Kuina. Genauso wenig wie alle Anderen im Beach. Weil es nichts ist, was ich für gewöhnlich tun würde.
Allerdings hing mein Schicksal dennoch am seidenen Faden. Sollte der Newbie mich verraten, sah es eventuell nicht mehr so rosig für mich aus. Wenn alle Stricke reißen, hatte ich immer noch die Möglichkeit meine medizinischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, um sie davon zu überzeugen, dass ich für den Beach unabkömmlich war.
"Du denkst also ich wüsste wer ein Interesse daran hätte eine schwer verletzte junge Frau zu retten, anstatt sich einfach selbst die Spielkarte unter den Nagel zu reißen und das Lob dafür einzuheimsen? Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich weiß nur eines: wer auch immer es war, muss ein kompletter Vollidiot sein", sagte ich missbilligend.
Wer hätte gedacht, dass ich mich je so leichtfertig als Vollidiot bezeichnen würde? Aber ich hatte Recht. Leider war es längst zu spät für Reue.
Kuina sah mich kurzzeitig mit irritierter Miene an.
"Ich dachte nur vielleicht es könnte jemand sein, der ebenfalls andere Interessen als der Beach hat. Jemand, der uns bei unserem Plan von Nutzen sein könnte."
"Unwahrscheinlich", versuchte ich ihren Vorschlag abzuwiegeln. Sie musterte mich kurz etwas argwöhnisch, widersprach jedoch nicht.
"Wie du meinst. Ich leg mich jetzt aufs Ohr. Es war ein langer Tag und ich muss morgen wieder Spielen." Ich nickte nur knapp. "Apropos, in was für einem Spiel warst du eigentlich neulich?", fragte sie dann beiläufig.
"Herz 4."
Die Lüge kam mir leicht von den Lippen. Ich hatte mich auf so eine Frage schon vorbereitet. Nur wenige Sekunden später war Kuina verschwunden, und mit ihr auch die rötliche Sonne hinterm Horizont.
Die Dämmerung brach über Tokyo herein. Die Geräusche von unten wurden allmählich wieder lauter. Der Beach erwachte zum Leben und das Gröhlen der Menschen, die sich um die Uhrzeit für gewöhnlich in der Eingangshalle einfanden, um auf Hatters abendliche Rede hinzufiebern, erreichte seinen Höhepunkt.
Ich hatte allerdings nicht vor mich dort unter die Leute zu mischen. Nicht nur weil es ohnehin jeden Tag das gleiche sinnlose Geschwafel war, sondern auch, weil ich nicht unbedingt das Risiko eingehen wollte von ihr erkannt zu werden.
Mein Blick glitt wieder hinauf zum Himmel, wo sich allmählich eine dunkle Decke über die Stadt legte. Mit der Dunkelheit kamen auch vereinzelt ein paar leuchtende Sterne zum Vorschein.
Nur kurze Zeit später war der Himmel übersäht von den kleinen funkelnden Lichtpunkten. Der Anblick eines sternenklaren Nachthimmels über der einst lichtverseuchten Metropole war noch immer ungewohnt. Es war ein Anblick, an dem man sich nur schwer satt sehen konnte.
Ich seufzte leise auf und trennte mich dann von der nächtlichen Kulisse, um wieder hinunter zu gehen.
♢
Am nächsten Morgen war ich einer der ersten unten beim Frühstück. Bevor ich mich jedoch bei der Essensausgabe anstellte, sah ich mich prüfend in dem ehemaligen Hotel-Restaurant um. Die junge Frau jedoch war nirgends zu entdecken.
Stattdessen sah ich Ann alleine an einem der hinteren Tische sitzen.
Vollkommen abwesend starrte sie aus dem Fenster und rückte dabei ihre riesige dunkle Sonnenbrille zurecht. Das Essen vor ihr wirkte beinahe unangerührt. Sie sah aus als hätte sie eine schlaflose Nacht hinter sich gehabt. So wie ich sie kannte hatte sie nach ihrem Spiel noch Patienten behandelt.
Ich nahm mir ein Tablett weg, auf dem man mir wie üblich eine Portion Reis, eine kleine Misosuppe und einen Obstsalat kredenzte. Das Essen war streng rationiert, da es nicht absehbar war, wie lange wir hier in dieser Welt noch ausharren mussten.
Inzwischen hatte man im Beach aber immerhin angefangen in einem Gewächshaus etwas Gemüse und Obst anbauen, doch da es davon ebenfalls nur begrenzte Mengen gab, war dieses bisher ausschließlich den Ratsmitgliedern vorbehalten.
Mit meinem Tablett in den Händen steuerte ich Anns Tisch an und setzte mich ungefragt auf den Platz ihr gegenüber. Ann schaute etwas entgeistert über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg.
"Was willst du denn hier?", fragte sie mit geringschätzigem Unterton, als wäre ich nur ein lästiges Insekt, das ihr vorm Gesicht herumschwirrte.
"Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Ann", entgegnete ich zynisch. "Harte Nacht gehabt?"
"Was kümmert es dich?"
"Ich dachte nur ich versuche etwas Konversation zu betreiben", sagte ich unschuldig und griff dabei nach den Stäbchen.
"Seit wann interessiert dich denn, was Andere machen?", fragte sie verbittert und richtete ihren Blick dabei wieder aus dem Fenster.
Ja, seit wann interessiert es mich überhaupt? Vermutlich seit sie diejenige war, welche die junge Frau, deren Leben ich neulich gerettet hatte, auf der Krankenstation vorgefunden hatte.
Doch das konnte ich ihr natürlich nicht sagen, also zuckte ich nur mit den Schultern.
"Wir müssen auch nicht reden", sagte ich unbekümmert und nahm etwas Reis mit den Stäbchen auf.
Anns Blick glitt langsam wieder zu mir hinüber und obwohl ich ihre Augen nicht sah, konnte ich sehen wie es in ihrem Kopf arbeitete.
"Ich frage mich noch immer, wer die junge Frau hergebracht haben könnte. Es lässt mir keine Ruhe. Irgendjemand hier verheimlicht uns etwas", sagte sie schließlich.
Ich nickte ruhig.
"Vermutlich ein Verräter."
"Schon, aber was mich stutzig macht, ist die Tatsache, dass derjenige sein eigenes Leben aufs Spiel setzt um eine Frau zu retten, die gerade erst in Borderland angekommen ist und dann noch dafür sorgt, dass sie hier bei uns aufgenommen wird, indem er die Pik 4 bei ihr zurücklässt. Wer würde so etwas tun und vor allem wieso?"
"Ich denke da solltest du eher jemand anderes fragen. Wie du schon richtig bemerkt hast, interessiert mich recht wenig, was andere Leute aus welchen Gründen tun, noch verstehe ich ihre unlogischen von Emotionen getriebenen Handlungen."
Hatte ich gerade zugegeben, dass mein Handeln von Gefühlen geleitet wurde?
Ann seufzte schwer.
"Ich muss irgendwie herausfinden, wer es war, aber offensichtlich war derjenige auch clever genug keine Fingerabdrücke zu hinterlassen."
"Du hast Fingerabdrücke genommen?", fragte ich und versuchte möglichst überrascht zu klingen. Innerlich jedoch grinste ich siegessicher. Ich wusste, dass Ann versuchen würde mir auf diese Art auf die Schliche zu kommen, weshalb ich in weiser Voraussicht keinerlei Spuren hinterlassen hatte. Selbst durch ihre dunklen Brillengläser hindurch erkannte ich, dass sie mir gerade einen vernichtenden Blick zuwarf. "Ich meine du legst dich ganz schön ins Zeug um denjenigen zu finden. Das hat mich lediglich überrascht."
"Falls du es vergessen hast: wir brauchen noch immer dringend jemanden mit medizinischer Erfahrung im Beach. Das ist der einzige Grund, warum es mich interessiert."
"Sobald herauskäme wer es war, würde Hatter denjenigen sowieso hinrichten lassen."
"Ich würde dafür sorgen, dass das nicht passiert. Der gesellschaftliche Nutzen überwiegt in diesem Falle den Verrat."
Ich schnaubte leise.
"Und du denkst Hatter sieht das genauso?", fragte ich mit amüsiertem Unterton.
Ann lächelte nicht.
"Ich hoffe es. Wenn ich weiterhin alleine auf diesem verfluchten Job sitzen bleibe, dann streike ich. Ich bin Forensikerin, keine Ärztin, also sollen die Leute doch zusehen wie sie ihre Wunden selbst behandeln."
Das ist die richtige Einstellung.
"Ist die junge Frau auch noch auf der Krankenstation?", fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte, doch ich wollte das Gespräch damit unauffällig in die richtige Richtung lenken.
"Nein, hab sie gestern entlassen. Aber sie sagt sie erinnert sich an nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann."
"Warum sollte sie lügen?"
"Vielleicht weil jemand sie dazu bringt."
"Du meinst sie wurde gezwungen?"
"Keine Ahnung. Möglicherweise", seufzte sie. Dann stand sie abrupt von ihrem Stuhl auf und griff nach ihrem Tablett mit dem unangetastetem Essen. "Ich bin hier fertig."
Ich nickte lediglich und ließ sie gehen. Nachdenklich stocherte ich in dem Obstsalat herum. Die junge Frau behauptete also tatsächlich sich nicht daran zu erinnern wer sie hergebracht hatte. War das die Wahrheit oder eine Lüge?
Wenn es die Wahrheit war, dann hatte ich nichts zu befürchten. Falls nicht, dann sah die Sache schon ganz anders aus. Dann stellte sich mir vor allem die Frage, ob sie nur gelogen hatte, weil ich sie darum gebeten hatte den Mund zu halten oder ob sie es aus anderen unerfindlichen Gründen tat.
Aber was sollte sie dazu veranlassen einem völlig Fremden zu vertrauen?
♢
Für den Rest des Tages verzog ich mich auf meinem kühlen Zimmer, um mich ein paar angefangenen Bastelprojekten zu widmen, die noch unfertig auf meinem Wohnzimmertisch herumlagen. Und davon hatte ich inzwischen so einige.
In einem der Mülleimer in der Stadt hatte ich ein paar leere Dosen gefunden, die sich perfekt zu ein paar Handgranaten umfunktionieren lassen würden. Das einzige, was mir noch fehlte, war ein Sprengstoff. Doch auch da hatte ich bereits eine Idee.
Das Arzneimittel Nitropenta oder auch umgangssprachlich PETN genannt, wurde normalerweise als gefäßerweiterndes Medikament verschrieben, das vor allem gegen Angina Pectoris, also Brustenge bei koronaren Herzkrankheiten, verschrieben wurde. Die Wenigsten wussten jedoch, dass Nitropenta bereits seit dem ersten Weltkrieg auch als Sprengstoff eingesetzt wurde. Allerdings war es nicht so leicht an das Medikament heranzukommen.
Der Beach hatte fast alle Apotheken und Krankenhäuser im näheren Umfeld geplündert, um die Krankenstation hier vor Ort aufzubauen. Natürlich hätte ich versuchen können sie zu stehlen. Da fast alle Zimmer im Beach frei zugänglich waren, wäre es ein Leichtes gewesen an sie heranzukommen, allerdings wurden die meisten wertvolleren Arzneien in einem speziellen Medikamententresor aufbewahrt zu dem momentan nur Ann Zugriff hatte. Ich hatte schon unheimliches Glück gehabt wenigstens einen kleinen Restvorrat an Betäubungsmittel zu finden, um die Schmerzen der jungen Frau etwas zu lindern.
Möglicherweise wäre es doch eine Überlegung wert mich als Medizinstudent erkennen zu geben, um für den Beach zu arbeiten. Somit könnte ich ungehindert an den Tresor gelangen, ohne das Risiko einzugehen dabei erwischt zu werden. Wenn da nur nicht die unglückliche Tatsache wäre, dass ich ein Verräter war.
Ich ließ das Mittagessen ausfallen und verleibte mir stattdessen nebenher ein paar Butterkekse ein, die ich gestern unterwegs aus einem Konbini hab mitgehen lassen. Als sich jedoch der Abend näherte, kam ich nicht länger gegen den nagenden Hunger an, sodass ich beschloss dem Restaurant nochmal einen Besuch abzustatten, bevor die Küche Dienstschluss hatte.
Vorsorglich ließ ich meinen Blick wieder über die Tische gleiten. Es war sehr übersichtlich und die junge Frau mit den Locken war nicht in Sichtweite. Diesmal suchte ich mir einen Tisch ganz für mich alleine direkt neben der großen Fensterfront. Von dort aus hatte man einen guten Ausblick auf einen kleinen weißen Pavillion, um den sich ein kleiner Garten mit exotischen Pflanzen sowie ein üppiger Kräutergarten erstreckte. Dazwischen befanden sich Tische und Sitzgelegenheiten, an denen ein paar junge Leute saßen, die sich angeregt miteinander unterhielten, Karten spielten und währenddessen ein paar Drinks vernichteten.
Ich ließ meinen Blick eingehend über die Köpfe der Menschen schweifen, die in dem Park unterwegs waren, unwillkürlich auf der Suche nach den langen dunklen Locken.
Früher oder später würde ich ihr hier sowieso begegnen, warum also versuchte ich ihr zwanghaft aus dem Weg zu gehen?
Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und wandte mich dann wieder meinem Essen zu. Das Restaurant jedoch begann sich innerhalb kürzester Zeit zu leeren und auch die Leute draußen im Park beendeten ihre gesellige Runde und machten sich auf den Weg nach drinnen.
Es war also wieder mal so weit.
Unser Sektenführer würde seine allabendliche Ansprache an seine hörigen Untertanen richten, die ihm fanatisch zujubelten, vollkommen heiß darauf Karten für ihn zu sammeln oder wahlweise auch für ihn in den Tod zu gehen.
Vermutlich würde ich keine Wahl haben mich wenigstens kurz dort blicken zu lassen. Einmal zu fehlen war keine große Sache, aber als Ratsmitglied konnte ich mich nicht ständig rar machen, ohne dass es als verdächtig galt.
Ich stellte mein Tablett in dem Rückwagenwagen ab und machte mich dann auf dem Weg zur Lobby, jedoch nicht ohne mir vorher meine Kapuze tief ins Gesicht zu ziehen, ein äußeres Statement, das Anderen ohne Worte mitteilte, dass ich keine Lust hatte von irgendwem dumm von der Seite angequatscht zu werden. Und in den meisten Fällen funktionierte es.
Wie immer suchte ich mir einen Platz abseits von der gröhlenden Menge und lehnte mich dort gegen die kalte Steinwand. Meine Hände verschwanden unwillkürlich in den Jackentaschen als ich zu der hohen Empore hinaufsah. Sie war noch leer.
"Hatter! Hatter! Hatter!"
Die Rufe der Menschen wurden zunehmend lauter und ungeduldiger, beinahe als wären sie besessene Groupies, die darauf warteten, dass ein berühmter Rockstar endlich die Bühne betritt.
War denen überhaupt klar, dass sie einer mutwilligen Gehirnwäsche unterzogen wurden?
Der Beach war der lebende Beweis dafür, dass Menschen nahezu alles tun würden, wenn man es ihnen überzeugend genug rüberbrachte. Die meisten Menschen waren leicht manipulierbar. Theoretisch sollte es daher auch nicht allzu schwer sein ein passendes Opfer für meinen Plan zu finden.
Tosender Beifall hallte an den Wänden der Lobby wider als das Oberhaupt vom Beach sich mit weit ausgestreckten Armen vor seinem euphorischen Publikum präsentierte. Hinter ihm standen Mira, Kuzuryu und Aguni, die den Kern der Exekutive bildeten. Hatter setzte sein perfekt einstudiertes Lächeln auf und ließ sich dann eine geschlagene Minute lang von seinen Fans feiern.
Insgeheim wartete ich ja auf den Tag, an dem er sich einfach hinunter in die Menge warf und auf den Händen seiner Gevolkschaft davontragen ließ.
Er machte eine theatralische Handgeste und schlagartig verstummte alles.
"Willkommen, ihr Lieben", sagte er freudestrahlend. "Tag Nummer 27 im Beach ist hereingebrochen. Diese Gemeinschaft existiert nun schon seit fast einem Monat und langsam trägt unsere Arbeit Früchte. Nur noch wenige Karten fehlen uns, um das Kartendeck zu vollenden. Vor zwei Tagen war es die Pik 4, die endlich Einzug in unsere Sammlung erhalten hat. Damit fehlen uns nur noch die Karo 4, die Kreuz 4, die Herz 7 und die Herz 10. Nur noch 4 Karten, bis der Erste zurück nach Hause kehren kann. Allen, die es bis hierhin geschafft haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Nur durch jeden einzelnen von Euch, wird mir sehr bald eine Heimreise ermöglicht und natürlich auch allen, die danach kommen..."
Ich rollte mit den Augen. Wie erwartet, war es fast die gleiche Ansprache wie jeden Abend. Mein Hirn schaltete ab und mein Blick wanderte stattdessen durch die Menge und blieb dabei an ein paar bekannten Dreadlocks hängen. Kuina. Sie stand mitten im dichten Gedränge und neben ihr blitzten ein paar dunkle Locken hervor.
Ich senkte automatisch den Kopf, ohne sie dabei aus den Augen zu verlieren. Sie drehte sich kurz zur Seite, um Kuina etwas zuzuflüstern. Kuina lachte. Dann richtete sich die Aufmerksamkeit der beiden wieder zu Hatter, der langsam zum Ende seiner schwülstigen Rede kam.
Als er sich ein paar Jubelrufe später endlich verabschiedete und den Leuten viel Glück für ihre heutigen Spiele wünschte, sah ich bereits wie die ersten wieder aus der Eingangshalle strömten. Stück für Stück begann sich die Lobby zu leeren, während ich noch immer reglos an der Wand verharrte und zu Kuina und ihrer Begleiterin hinübersah. Diese drehte unerwartet den Kopf in meine Richtung.
Ihre dunklen Augen wurden sofort größer als sich unsere Blicke begegneten und aus irgendeinem Grund zog sich mein Herz in diesem Moment besonders schmerzhaft zusammen. Sie musste nichts sagen. Ihr Blick sprach Bände und auf ihren Lippen lagen eintausend brennende Fragen.
Immerhin wusste ich jetzt, dass sie sich sehr wohl an mich erinnerte.
Bevor sie jedoch auf dumme Ideen kam, hatte ich mich von der Wand abgestoßen und das Weite gesucht. Dabei war mir längst klar, dass ich nur vor dem Unvermeidlichen davonlief.
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