6 ❤️ Eine von Ihnen
Hello come in
Welcome to the freak show
Take your seat but
Don′t look out the windows
The monsters like to jump out of the dark
Buckle up cause this is just the start
Auf Zehenspitzen schlich ich auf dem hölzernen Parkett entlang, darauf bedacht möglichst lautlos zu sein. Die meisten Bücher waren leicht ausfindig zu machen. Ich war erstaunt, wie gut ich mich nach all den Jahren noch hier zurechtfand.
So leise wie möglich zog ich eines der Bücher hervor und legte es in meinem Korb ab. Doch die Stille wurde schlagartig von einem lauten Scheppern durchbrochen. Ruckartig wandte ich den Kopf um. Ein lauter Aufschrei folgte. War das gerade das Mädchen gewesen?
Meine Füße setzten sich sofort in Bewegung, doch ich kam nicht weit - eine Frau mit erhobener Axt schnitt mir den Weg ab und bevor ich begriff, was geschah, hatte sie ausgeholt und mir die Waffe blindlings in den Körper gerammt.
Ich keuchte lautstark auf von dem dumpfen Schmerz, während sie bereits zum nächsten Hieb ansetzte, dem ich nur ganz knapp entrinnen konnte, indem ich mich an das Regal zu meiner Linken presste.
Erschöpft lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen und hielt kurz die Luft an, während ich den Blutschwall mit dem Stoff meines T-Shirts einzudämmen versuchte. Mit ausgestrecktem Arm kam die Frau auf mich zu...lief dann aber geradewegs an mir vorbei.
Sie hatte mich nicht gehört.
Meine Erleichterung darüber wurde jedoch von einem schrillen Kreischen unterbrochen, das mir augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Dichte schwarze Rauchschwaden stiegen von der anderen Seite der Bücherei auf. Kurzzeitig war ich wie gelähmt vor Angst. Mein Gefühl sagte mir, dass es bereits zu spät war, um das Mädchen zu retten. Aber wenn ich nichts unternahm, würde sich das Feuer im Gebäude rasch ausbreiten. Ich konnte nicht zulassen, dass noch mehr Menschen sterben würden.
Mein Blick fiel zu dem Alarmknopf für die Sprinkler-Anlage. Wenn die blindwütige Frau mit der Axt nicht gerade dort zu Gange wäre, dann könnte ich ihn auslösen und das Feuer damit löschen. Ich biss die Zähne fest zusammen und versuchte das schmerzhafte Ziehen in meinem Unterleib vorrübergehend auszublenden.
Vorsichtig pirschte ich mich an sie heran, während sie orientierungslos in dem Gang auf und ablief, auf der Suche nach einem neuen Opfer. Aus dem Regal neben mir, zog ich ein besonders dickes und schweres Buch mit einem Harteinband hervor.
Mit letzter Kraft hob ich es hoch und donnerte den schweren Wälzer mit voller Wucht gegen ihren Hinterkopf. Sie jaulte lautstark auf und zu meiner Überraschung, brach sie unmittelbar vor meinen Füßen zusammen.
Ungläubig starrte ich auf ihren reglosen Körper und beobachtete wie ihre blondierten Haare sich allmählich rot färbten. Entsetzt über mich selbst ließ ich das Buch in meiner Hand fallen.
Meine Hände begannen schlagartig zu zittern. Ich starrte wieder auf das Blut, unfähig mich zu bewegen, während im Hintergrund durchdringende Todesschreie zu hören waren. Dann schreckte ich panisch hoch.
Schweiß lief mir von der Stirn, während ich versuchte die Orientierung zurückzugewinnen. Die Angst saß mir noch tief im Nacken. Die Bilder waren zu real gewesen - ein wirrer Mischmasch aus meinen Erinnerungen und meiner eigenen überdrehten Fantasie.
Um mich herum war es finster, doch aus dem Nebenraum drangen weinende Stimmen und undeutliches Gewinsel. Kein Wunder, dass ich solche Träume hatte.
Ann hatte sich wegen mir ins Nachbarzimmer verzogen um ihre Patienten zu behandeln und sie hatte mich bereits vorgewarnt, dass es zwischendurch lauter werden könnte, wenn die Verwundeten hier aufschlugen. Ein Grund war, dass es nicht genügend Betäubungsmittel gab um alle zu versorgen, weshalb die Behandlung für manche zu einer schmerzhaften Angelegenheit werden konnte. Den Lauten nach zu urteilen kam ihre ärztliche Tätigkeit hier daher vielmehr die eines Folterknechts gleich.
Vermutlich würde ich heute Nacht kein Auge mehr zumachen können so lange bis sie mit ihrer Arbeit endlich fertig war. Und selbst dann würde ich vermutlich nur von einem Alptraum in den nächsten sinken. Mein Körper war kraftlos und müde, mein Geist jedoch war hellwach. Immer wieder peinigten mich die Erinnerungen, immerwieder liefen die Szenen der vergangenen Nacht in meinem Kopf ab. Ich bemühte mich deshalb krampfhaft an etwas anderes zu denken. An etwas schönes.
Ein Paar samtbraune Augen drängten sich sofort in meine Gedanken und ein Gesicht mit feinen eleganten Zügen umrahmt von weißblonden Haaren.
Sein Aussehen hatte sich seltsamerweise fest in mein Gedächtnis gebrannt, genauso wie die markante Stimme, die ich mit Sicherheit so schnell nicht vergessen würde. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis ihn wiedersehen zu wollen. Nicht nur um mich bei ihm zu bedanken, dass er mich gerettet hatte, sondern auch um zu erfahren, was für ein Mensch hinter diesen geheimnisvollen Augen steckte.
Allmählich kehrte etwas Ruhe ein und die Stimmen von nebenan wurden leiser bis sie irgendwann vollständig verstummten. Draußen vor dem Fenster hingegen schien bereits die nächste Party in Gang zu sein. Die laute Musik und das Gegröhle dröhnte selbst durch das geschlossene Fenster hindurch.
Es war unfassbar.
Menschen waren in dieser Nacht teils tödlich verletzt worden. Manche hatten vermutlich sogar ihr Leben verloren. Doch diese Leute da draußen hatten nichts besseres zu tun als sich feuchtfröhlich den nächsten Drink hinter die Binde zu kippen. Es war einfach nur markaber. Wie lange waren diese Leute schon hier um so abgestumpft zu werden?
♡
Am nächsten Morgen wurde ich unsanft von grellem Tageslicht geweckt. Ich blinzelte irritiert in die Sonne und sah, dass Ann gerade die Vorhänge aufgezogen hatte.
"Wie spät?", nuschelte ich, während ich meine Hände schützend auf die Augen legte.
"Kurz nach 9", teilte sie mir mit, während sie das Fenster öffnete um frische Luft hereinzulassen.
Draußen war es jetzt überraschend still. Lediglich ein paar kreischende Möwen waren zu hören. Scheinbar befanden wir uns wirklich nicht weit vom offenen Meer entfernt. Ich konnte das Salzwasser fast riechen als eine leichte Brise um meine Nase wehte.
"Ich habe dir etwas unten vom Frühstücksbuffet mitgebracht", ihr Blick fiel auf ein Tablett, dass neben mir auf dem Beistelltisch stand, "aber vorher solltest du dringend duschen. Wenn du vorsichtig dabei bist, sollte nichts passieren, was deine Wunde gefährdet."
Ich nickte etwas zögerlich. Ich könnte wirklich eine Dusche vertragen. Der unruhige Schlaf letzte Nacht hatte mich aus allen Poren schwitzen lassen. Außerdem hatte ich noch immer das Gefühl überall das Blut dieser Menschen an meinem Körper kleben zu haben.
Ann gab mir einen kleinen Stapel Handtücher und Duschgel und führte mich nebenan in ein geräumiges Badezimmer.
Als ich alleine war, warf ich zuerst einen prüfenden Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Meine Haare waren strohig und glanzlos und einige Strähnen an meinem Pony waren fest miteinander verklebt. Als ich versuchte sie voneinander zu lösen, stellte ich mit Entsetzen fest, dass es getrocknetes Blut war. Von wem es stammte, darüber wollte ich allerdings lieber nicht nachdenken. Möglicherweise war es auch mein eigenes.
An dem Haaransatz auf meiner Stirn prangte ein unansehnliches Pflaster, das ich gestern schon bemerkt hatte. Ich erinnerte mich vage bei dem Spiel mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen zu sein. Meine Augen waren deutlich gerötet, was mit Sicherheit auf den Schlafmangel der letzten Nacht zurückzuführen war. Alles in allem hatte ich schonmal besser ausgesehen, aber wenn man den Großteil seiner Zeit in Krankenhäusern verbrachte, war man schon so einiges gewöhnt.
Ich schälte mich aus der fremden Kleidung und stellte mich dann unter den lauwarmen Wasserstrahl, darauf bedacht meine frische OP-Narbe auszusparen. Das Wasser wirkte sofort belebend auf meine Sinne, doch die Schuld, die ich fortan mit mir herumtrug, war nicht so einfach wegzuwaschen. Vermutlich würde ich noch eine Weile daran zu knabbern haben. Schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass man einen Menschen tötete, selbst wenn es nur dazu diente jemand anderen vor dem Tod zu bewahren. Es war immerhin eine kleine Entlastung für mein Gewissen, dass jemand anderes dafür weiterleben durfte.
Versuchte ich gerade allen Ernstes meine Tat zu rechtfertigen? Ja.
Bereute ich es? Wenn ich ehrlich war nicht.
Also warum überhaupt darüber nachdenken? Warum mein Gewissen länger als nötig damit belasten? Dieser Mörder war es nicht wert. Ich hatte getan, was getan werden musste. Ändern konnte ich es ohnehin nicht mehr.
Als ich wieder aus der Dusche stieg, fühlte ich langsam neues Leben in mir erwachen. Meine Wunde im Unterbauch verursachte zwar noch immer leichte Schmerzen beim Gehen, doch dafür hatte ich keine anderen gesundheitlichen Beschwerden mehr. Die Brustenge, die Atemnot, die Müdigkeit. Das alles war schlagartig verschwunden.
War ich wirklich geheilt?
Konnte dieser Ort tatsächlich Wunder verbringen und tödlichen Krankheiten einfach so ein Ende setzen?
Ich musste zugeben, dass ich noch immer skeptisch war und Angst hatte, dass meine Symptome plötzlich wieder zurückkehrten und die Krankheit mich letztendlich doch noch dahinraffen würde, doch ich versuchte diesen Gedanken vorerst weit weg zu schieben.
Vielleicht war das hier wirklich meine Chance wieder ein einigermaßen normales Leben zu führen.
Andererseits gab es hier laut Ann noch mehr von diesen tödlichen Spielen, die man gezwungen war zu absolvieren um weiterzuleben zu können. Ob das wirklich so viel besser war?
Mit einem Handtuch rubbelte ich meine nassen Haare etwas trocken und schlüpfte dann in ein weites Sommerkleid aus beiger Baumwolle und abgesetzer Spitze, das Ann mir netterweise mit ein paar anderen Sachen aus einem Kleiderfundus zusammengesucht hatte. Da der Spiegel über dem Waschbecken zu klein war, betrachtete ich mich stattdessen in der Glasscheibe der Dusche.
Ich konnte mich kaum daran erinnern, wann ich das letzte Mal so etwas hübsches getragen hatte. Es musste eine Ewigkeit her sein. Nun...Krankenhäuser sind eben auch nicht gerade die Orte, um seine schönsten Sachen auszuführen.
Ich schloss die Augen und drehte eine kleine Pirouette, um den Stoff des Kleides flattern zu lassen und in diesem Moment war ich so glücklich wie lange nicht mehr. Was absurd war, wenn man bedenkt, an welchem Ort ich gelandet war und dass ich erst vor wenigen Stunden jemanden getötet hatte.
"Die Narbe scheint bereits gut zu verheilen", sagte Ann, als sie nach dem Frühstück mein Pflaster wechselte und die Naht begutachtete.
"Es schmerzt auch kaum noch", sagte ich und mir fiel zum ersten Mal auf wie ungewöhnlich das Ganze war. Es war schließlich nicht einmal zwei Tage her. "Wie ist das möglich? Müsste sowas nicht viel länger dauern?", sprach ich meine Gedanken laut aus.
Sie nickte.
"Du hast Recht, aber die Zeit hier vergeht anders als in unserer Welt. Bei Verletzungen ist das von Vorteil, aber es hat auch Nachteile."
"Die Lebensmittel verderben schneller", sagte ich verstehend, als ich mich daran erinnerte wie ich durch die leere Stadt geirrt war, auf der Suche nach etwas Essbarem und dabei fast nur vergammelte Ware vorgefunden hatte.
"Ja, das ist richtig. Ich habe keine Ahnung woran es liegt. Vielleicht bedeutet das, dass wir uns auf einem anderen Planeten befinden, oder gar irgendwo mitten im Weltraum."
Ich stutzte.
"Im Weltraum?"
Ann verkniff sich ein Lächeln bei meiner Reaktion.
"Niemand weiß, was wirklich passiert ist, Izumi. Aber wir müssen lernen mit den neuen Umständen zu leben, so lange bis wir einen Weg zurück nach Hause finden."
Zurück nach Hause.
Ich war nicht einmal sicher, ob ich das wollte, wenn das bedeutete, dass ich dann wieder zurück ins Krankenhaus musste, um dort auf meinen Tod zu warten.
Ann klebte vorsichtig ein neues Pflaster auf die Wunde.
"So, das war's schon. Du solltest trotzdem noch Acht geben und dich bis zum nächsten Spiel schonen. Und vielleicht können bis dahin auch die Fäden raus. Ich werde dir außerdem noch etwas Zinksalbe zum Auftragen mitgeben."
Sie stand auf und öffnete den Medikamentenschrank, um darin nach etwas zu suchen.
"Also... Ann?", begann ich zögerlich.
"Mmh?"
"Könnte ich vielleicht jetzt schon nach draußen gehen? Es geht mir schon viel besser und ich bin es Leid hier untätig herumzuliegen."
Sie drehte langsam den Kopf zu mir um und sah mich mit strenger Miene an.
"Auf keinen Fall. Ich trage die Verantwortung, wenn etwas passiert. Bis heute Abend wirst du dich schon noch gedulden müssen."
Ich stöhnte.
"Aber es ist langweilig hier. Und außerdem...muss ich mich irgendwie ablenken von den furchtbaren Ereignissen", murmelte ich bedrückt.
Ich versuchte meine Stimme absichtlich etwas trauriger klingen zu lassen, doch bei Ann schien das keinerlei Wirkung zu haben. Stattdessen schien sie jetzt nach etwas anderem zu suchen. Als sie es gefunden hatte, warf sie mir den Gegenstand auf die Bettdecke.
"Hier. Das sollte helfen."
Ich starrte ihn ratlos an. Es war ein Buch. Ich nahm es in die Hand und betrachtete stirnrunzelnd das rote Cover.
"50 Shades of Grey? Ernsthaft?"
Sie zuckte mit den Schultern.
"Hab es hier mal vor 'ner Weile gefunden. Entweder hat es einem Patienten gehört oder vielleicht sogar unserer ehemaligen Ärztin."
"Habt ihr nicht wenigstens was von Stephen King da? Oder Murakami Haruki?", fragte ich hoffnungsvoll.
"Das oder gar keins. Du wolltest doch Ablenkung. Also nur zu."
Ich rollte mit den Augen und lehnte mich ergeben zurück. Erotik war nicht gerade mein Genre, erstrecht nicht wenn es darin um irgendwelche Macht- und Fesselspielchen ging. Aber offensichtlich blieb mir kaum eine andere Wahl. Auch wenn die Zeit hier angeblich schneller verlief, fühlte sie sich für mich gerade zäh wie Kaugummi an.
Ich betrachtete das Buchcover erneut und ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. Es erinnerte mich an eine unbeschwerte Zeit, in der ich noch gesund gewesen und mit Makoto zusammen war. Wir hatten uns den Film zum Buch aus jugendlicher Neugier an einem unserer Date-Abende angesehen und kamen aus dem Kichern nicht mehr raus, vielleicht aber auch nur, um damit unsere Verlegenheit zu überspielen, die während der erotischeren Szenen bei uns aufkam.
Wir waren zu dem Zeitpunkt noch nicht lange zusammen und wir hatten keine Ahnung, was genau uns erwarten würde. Trotz unserer Albernheit hatten wir anschließend den leidenschaftlichsten Sex überhaupt und das ganz ohne Peitschen und Handschellen.
Ich konnte nicht zählen wie oft ich mir diese Zeiten wieder herbeigesehnt hatte, nachdem meine Krankheit das alles ruiniert hatte.
Würde ich je wieder so glücklich sein können wie damals?
Unmotiviert begann ich ein paar Seiten zu lesen, doch wirklich fesseln konnte mich das Buch nicht (dafür brauchte man wohl schon einen echten Christian Grey).
Ann hatte das Zimmer inzwischen wieder verlassen mit der Aussage, dass sie noch ein paar dringende Dinge zu erledigen hatte, wobei sie nicht genau spezifizierte, was für Dinge das waren.
Zögerlich klappte ich das Buch wieder zu und setzte mich dann langsam auf.
Niemandem würde es auffallen, wenn ich einen kurzen Spaziergang machte, oder?
Lautlos schlüpfte ich in die Badeschlappen und schlich leise damit zur Tür. Dann presste ich mein Ohr fest dagegen, um zu lauschen. Kein einziges Geräusch war zu vernehmen.
Ich legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt, um meinen Kopf hindurchzustecken. Ich blickte in einen langen Korridor mit hellen Wänden und einem elegantem auf Hochglanz poliertem Marmorfußboden. In regelmäßigen Abständen hing ein kleiner Kronleuchter von der Decke, der die Umgebung schwach erleuchtete.
Eins stand inzwischen fest: das hier war kein einfaches billiges Hostel, sondern ein Luxus-Hotel. Die Leute hier dachten wohl, wenn man schon in dieser apokalyptischen Welt zugrunde ging, dann wenigstens mit Stil.
Immernoch etwas unsicher ging ich hinaus und schloss die Tür geräuschlos hinter mir. Mein Herz klopfte dabei automatisch schneller, als würde ich etwas Verbotenes tun. Dabei war doch nichts dabei sich nur mal kurz umzusehen, oder?
Neugierig lief ich den Korridor entlang, ohne zu wissen, wo dieser mich hinführen würde. Als ich zu einer Abzweigung gelangte, entschied ich mich für den linken Gang. Seltsamerweise war ich noch niemandem auf den Fluren begegnet.
Erst als ich das Ende des Korridors erreichte, hörte ich ein paar leise tuschelnde Stimmen. Ich hielt kurz inne, um zu lauschen.
"...Echt? Zeig mal her....oh Gott, das sieht ja übel aus...", sagte eine weibliche Stimme schockiert.
"Ja, es war ein riesiger blutrünstiger Tiger. Ann meinte ich kann froh sein, dass meine Hand noch dran ist", entgegnete jetzt ein Mann, der offensichtlich etwas Eindruck bei der Dame schinden wollte. Da die beiden sich in einem benachbarten Korridor befanden, konnten sie mich glücklicherweise nicht sehen.
"Was für ein Spiel war es?", fragte sie.
"Eine Pik 6."
"Krass. Aber weißt du schon, dass vorgestern jemand die fehlende Pik 4 gebracht hat? Sie ist bisher noch nirgends aufgetaucht. Und die Spielerin, die sie erspielt hat, ist nichtmal Mitglied vom Beach. Ann hat sie am nächsten Morgen verletzt in der Krankenstation aufgefunden...mit der Spielkarte in der Hand. Und keiner weiß, wo diese Frau überhaupt hergekommen ist."
"Denkst du sie wurde von jemandem rekrutiert?", fragte der Mann.
"Kann sein, aber es wurde ja ein deutliches Rekrutierungsverbot verhängt. Das heißt irgendjemand hat sich nicht daran gehalten. Ohne die Pik 4 hätten sie sie bestimmt längst wieder vom Beach vertrieben, wenn nicht sogar hingerichtet."
"Vielleicht ist sie ja eine vielversprechende Spielerin", vermutete er.
Die Frau schnaubte.
"Bei einer Pik 4? Ich bitte dich."
"Naja, es kann jedenfalls nicht so schlimm wie die Pik 6 gewesen sein. Selten hin oder her. Aber mich würde trotzdem interessieren-..."
"Sieh mal einer an, wer schleicht denn hier auf den Gängen herum?", schnarrte eine Stimme direkt neben mir.
Ich zuckte erschrocken zusammen und wandte schnell meinen Kopf um.
An der Wand lehnte ein junger Kerl mit schulterlangen dunklen Haaren und auffälligen Piercings im Gesicht. Auf seinen Lippen lag ein kräuselndes fast schon anzügliches Lächeln, das in mir sofort ein mulmiges Gefühl verursachte und auf seiner Schulter ruhte ein...Gewehr?
"Hab dich hier noch nie gesehen, Püppchen. Bist du neu?"
Ich starrte ihn nur stumm an, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. Wieso rannte dieser Kerl mit einer Waffe durch die Gegend? War das hier normal?
"Rede gefälligst mit mir, wenn ich dich was frage!"
Seine Hand lag bereits an dem Griff des Gewehres und seine Finger trommelten ungeduldig auf dem Metall herum. Gar nicht gut.
Ich schluckte.
"Ich-...äh..."
Verdammt, ich war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Wieso brachte ich ausgerechnet jetzt kein Wort heraus?
Der Kerl zog fragend eine Augenbraue nach oben und kam bedrohlich näher. Ich konnte bereits seinen Atem auf meinem Gesicht spüren...
"Sie gehört zu mir, Niragi. Lass sie in Ruhe."
Ich atmete erleichtert aus, als ich die vertraute Stimme hinter ihm vernahm. Ann tauchte kurz darauf neben uns auf und funkelte den Typen bedrohlich an. Seine Miene wurde schlagartig finster.
"Verdammt. Was mischst du dich da ein, Totengräberin?", schnappte er.
"Sie steht unter meinem persönlichen Schutz. Also verschwinde gefälligst, du Einzeller, bevor ich dich von deinem Boss entfernen lasse."
Er lachte gehässig auf.
"Du? Mich entfernen lassen? Der war gut."
Ann ignorierte ihn und wandte sich stattdessen mir zu.
"Komm! Du solltest dich noch nicht hier draußen auf den Gängen herumtreiben", sagte sie schroff und griff nach meinem Arm, um mich mit sich zuziehen.
Es war mir zugegeben etwas unangenehm, dass sie mich erwischt hatte, andererseits war ich auch froh darüber. Lieber war ich mit einer wütenden Ann konfrontiert, als mit diesem irren Typen und seinem Gewehr, denn ich war nicht so scharf darauf herauszufinden, ob er es wirklich benutzen würde.
"Ich hatte doch gesagt, dass du hier bleiben sollst", sagte Ann unwirsch, als wir wieder zurück auf der Krankenstation waren.
"Wer war das? Und warum hatte der Kerl ein Gewehr bei sich?", platzte es aus mir heraus.
Ann seufzte und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen eine der Kommoden.
"Er gehört zum Militärtrupp. Sie sind die einzigen hier, die Waffen mitführen dürfen."
"Militärtrupp? Wozu braucht ihr hier ein Militär? Um dieses Hotel zu verteidigen?"
Ich musste mich bemühen nicht laut loszuschnauben bei der Vorstellung.
"Auch, aber hauptsächlich sind sie dafür da, die Regeln durchzusetzen", sagte sie und wandte ihren Blick dann von mir ab, als wollte sie ihn absichtlich meiden. "Jedenfalls solltest du dich lieber von denen fernhalten."
Ich runzelte verständnislos die Stirn.
"Regeln? Was für Regeln?"
Sie wandte den Kopf wieder zu mir. Ihre Miene war mit einem Schlag wieder distanzierter genauso wie ihre Stimme.
"Ich habe jemanden damit beauftragt dich nachher ein wenig im Gebäude herumzuführen und dir alles weitere zu erklären, was wichtig ist, um in unserer Gemeinschaft zu leben. Außerdem wird sie dir auch dein zukünftiges Zimmer zeigen. Du hast Glück, dass gerade erst eins frei geworden ist. Ach ja", sie zog plötzlich etwas aus ihrer Hosentasche hervor, während ich sie nur ungläubig anstarrte, "das hier soll ich dir auch noch geben."
Ich blickte verdutzt auf das blaue Plastik-Armband, das sie mir vors Gesicht hielt.
"Du bist jetzt offiziell eine von uns. Willkommen im Beach."
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