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Wir beide wussten, dass es eine Frage war, die Alec nicht beantworten wollte. Ich hatte mich schon lange von dem Gedanken verabschiedet, dass Ricky nur beim Dealen geblieben war. Jeder in diesem Haus war gefährlich. Mein Bruder war sicherlich keine Ausnahme gewesen.
„Ricky war für das Eintreiben von Schulden zuständig."
Ein simpler Satz, der jedoch eine Menge bedeutete. Alecs Blick sagte mir alles, was ich wissen musste, und Übelkeit überkam mich. Ich wusste, was mit jenen passierte, die ihre Schulden nicht beglichen und die Vorstellung, dass mein eigener Bruder vielleicht andere Menschen getötet hatte, war unerträglich für mich.
„Wo?", war alles, was ich erwiderte.
„Nur hier im Bezirk. Wir überschreiten keine Grenzen und Ricky war nicht so dumm, es zu versuchen. Die Gasse, in der er erschossen wurde, war nicht in unserem Bezirk. An diesem Abend war er nicht zum Schuldeneintreiben unterwegs gewesen."
Bei der Vorstellung, was Ricky sonst noch gemacht hatte, drehte sich mir erneut der Magen um und ich atmete einige Male ein und aus, bevor ich mich wieder gefasst hatte.
„Mit wem wollte er sich treffen?"
Alec zuckte mit den Schultern. Eine Geste, die mich wütend machte. Wir sprachen hier über meinen Bruder, verdammt!
„Mit wem, Alec?", fragte ich mit Nachdruck.
„Ich weiß es nicht. Ricky hat mir keinen Namen genannt!"
Für einige Augenblicke starrten wir uns lediglich finster an, bevor ich den Blickkontakt abbrach. All das war schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. So würde ich nicht weiterkommen.
„Wer von den Dark Bloods könnte es gewusst haben?"
Alecs Stirn legte sich in Falten. Eine Reaktion, die ich so nicht erwartet habe.
„Ricky wollte sich an diesem Abend mit Dan und Jamal zum Zocken treffen, aber er ist nicht erschienen. Deshalb hat Jamal sich auf den Weg gemacht, um ihn zu suchen. Als er Ricky gefunden hat, war es bereits zu spät."
Ich schluckte.
„Was hat er gesehen?"
„Das ist nicht wichtig. Ich habe bereits mit meinen Leuten gesprochen. Es gibt keine weitere Information, die nützlich sein könnte."
„Ich entscheide, was nützlich ist und was nicht!", entgegnete ich wütend.
Alec erhob sich und sofort verfinsterte sich seine Miene. Es war deutlich, dass er keinerlei Befehle in seinem Haus annahm.
„Es sind meine Leute, über die wir hier sprechen. Ricky war einer von uns, also entscheide ich, was wichtig ist und was nicht!"
Ein Vibrieren schien von Alec auszugehen und seine geballten Fäuste machten mir deutlich, wie wütend er war. Ich dachte jedoch nicht daran, vor ihm zu kuschen. Ich wollte Antworten! Nein, ich brauchte diese Antworten!
„Alles in Ordnung hier?", ertönte es hinter mir und ein schneller Blick nach hinten verriet mir, dass Curtis eben den Raum betreten hatte. Seine Miene wirkte zwar entspannt, doch sein Blick galt Alec, der mich immer noch finster anstarrte.
Keiner von uns antwortete ihm. Wir starrten uns einfach nur wütend an, jeder darauf bedacht, nicht als erster den Blickkontakt abzubrechen. Nach einer gefühlten Ewigkeit brach ich das Blickduell schließlich ab.
Die Müdigkeit von heute Morgen machte sich wieder bemerkbar und mit einem Mal kam mir alles furchtbar anstrengend vor.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken und ich holte es aus meiner Hosentasche. Die Nummer auf dem Display war mir nicht bekannt.
In der Hoffnung, es wäre kein neuer Klient, der mich samstags störte, drückte ich die grüne Taste und sagte freundlich: „Seth Floyd, was kann ich für Sie tun?"
„Mr. Floyd, hier spricht Sheriff McClark. Entschuldigen Sie die Störung am Wochenende, aber ich rufe im Auftrag des Departments an."
„Kein Problem, was kann ich für Sie tun, Sheriff?"
Alec, der bis eben noch leise mit Curtis gesprochen hatte, hob seinen Blick und fixierte mich. Ein noch finsterer Ausdruck trat auf sein Gesicht und sofort bereute ich meine Worte.
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Ermittlungen zu dem Fall Ihres Bruders bis auf weiteres keine Ergebnisse geliefert haben. Wie es aussieht, hat dieser dreckige Bastard der Dark Bloods ein Alibi."
Die Abneigung in der Stimme von Sheriff McClark war deutlich herauszuhören, als er von Alec sprach. Die Art und Weise, wie er über Alec sprach, ließ meinen Puls etwas schneller werden. Es mochte ja sein, dass er kein gutes Bild von ihm hatte, jedoch erwartete ich mehr von einem Gesetzeshüter.
„Das liegt daran, dass Mr. Jackson einen Anwalt hat und dieser sein Alibi bestätigen konnte."
Auch Curtis wandte nun seine Aufmerksamkeit mir zu, doch mein Blick galt immer noch Alec. Etwas in meinem Gesichtsausdruck brachte ihn dazu, die Augenbrauen zu heben.
„Einen Anwalt? Das ist unmöglich. Selbst Mr. Miller hat davon abgesehen, Jackson zu verteidigen."
„Ach, ist das so? Woher wissen Sie das?"
„Hab' selbst mit ihm gesprochen und ihm ans Herz gelegt, seine Karriere nicht für so jemanden aufs Spiel zu setzen. Er ist ein angesehener Mann in den juristischen Kreisen und möchte es auch bleiben."
Die Hand, in der ich das Telefon hielt, begann leicht zu zittern. So langsam kam mir der Gedanken, dass Sheriff McClark mehr auf einem persönlichen Rachezug war, als dass er wirklich glaubte, Alec hätte meinen Bruder getötet.
„Wie es scheint, hat Mr. Jackson einen besseren Anwalt gefunden. Jemand, der glaubt, er sei es wert, verteidigt zu werden. Ich würde Sie jedoch bitten, davon abzusehen, diesem ebenfalls Karriereratschläge zu geben."
Meine Stimme war immer noch ruhig, doch selbst ich konnte den gefährlichen Unterton in ihr heraushören. Ich war mir also sicher, dass auch der Sheriff es hörte. Alec, der nun dicht neben mir stand, warf mir einen Seitenblick zu, den ich jedoch ignorierte.
„Keine Sorge, wer auch immer so dumm ist, sich in diese Angelegenheit einzumischen, wird von allein darauf kommen, dass es sinnlos ist. Alec Jackson ist den Dreck unter meinen Schuhen nicht wert."
Ich spürte, wie Alec sich neben mir versteifte.
„Wenn Sie mich fragen, gibt es so manche Menschen, die es nicht wert sind, mit ihnen zu sprechen. In diesem Sinne, Sheriff, wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag."
Ohne auf eine Antwort zu warten, beendete ich das Gespräch und atmete tief ein. Es kostete mich viel Mühe, äußerlich Ruhe zu bewahren.
Die plötzliche Stille im Raum schien mit einem Mal erdrückend und erst jetzt fiel mir auf, dass sowohl Alec als auch Curtis mich immer noch ansahen.
„Ich schlage vor, wir machen weiter?", sagte ich, um die unangenehme Ruhe zu überspielen.
Noch immer sahen mich beide so an, als ob sie mich noch nie zuvor gesehen hätten. Schließlich war es Alec, der nickte und sich wieder auf seinen ursprünglichen Platz setzte. Curtis jedoch hatte noch immer einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, den ich nicht deuten konnte.
Hatte ich etwas Falsches gesagt?
„Wo waren wir stehengeblieben? Ah ja, genau. Wenn du mir nicht sagen möchtest, wo deine Leute an diesem Abend waren, schön. Der Sheriff teilte mir eben mit, dass die Ermittlungen erfolglos verlaufen, woraus ich schließe, dass es sich um eine rivalisierende Gang oder eine Person außerhalb der Dark Bloods handelt, die meinen Bruder getötet hat. Liege ich da richtig?"
Wieder wanderte mein Blick zu Curtis. Ich hatte keinesfalls vergessen, dass er mir bei unserem ersten Treffen mitgeteilt hatte, Ricky hätte seinem Mörder womöglich vertraut und ihn gekannt. Dennoch schien es mir unwahrscheinlich, dass jemand der Dark Bloods ihn getötet hatte.
„Ricky hatte Kontakt zu jemanden aus dem El-Rebelde-Kartell. Es ging um die Verhandlung des Bezirkes."
„Wer ist das El-Rebelde-Kartell?"
„Eine rivalisierende Gang, die ihre Deals im Bezirk Windsor Park durchführt. Die Grenzen hatten begonnen, sich zu verwischen und Ricky hatte den Auftrag, dafür zu sorgen, dass sie in ihrem Territorium blieben. Er hatte eine Kontaktperson aus dem El-Rebelde-Kartell und wollte mit ihm sprechen."
Es war offensichtlich, dass Alec mir diese Informationen nicht gerne gab. Aber selbst er musste einsehen, dass wir sonst nicht weiterkommen würden.
„Und du bist dir sicher, dass es keinen Namen gab?"
„Hab ich das nicht vorher gesagt?", kam es gereizt von ihm. „Scheiße, glaubst du, das ist ein dummes Spiel für mich?"
„Glaubst du, dass es das für mich ist?", entgegnete ich ruhig.
Alecs Nasenflügel blähten sich etwas auf, doch er schwieg. Dieser Mann hatte eindeutig ein Aggressionsproblem.
„Ich muss mit deinen Leuten über diese Angelegenheit sprechen."
„Nein!"
„Was ist dein Problem?", fragte ich nun etwas lauter. So langsam hatte ich keine Nerven mehr für seine abweisende Art.
„Ich habe dir bereits alles gesagt, was ich weiß und alle Mitglieder der Dark Bloods haben mir gesagt, was sie wissen."
Für gefühlte Stunden sah ich ihn einfach nur an. Frust begann sich in mir aufzubauen. Was hatte ich mir nur bei alldem gedacht?
Genervt fuhr ich mir über das kurze Haar. Die Luft in diesem Haus war viel zu aufgeheizt und ich brauchte eine Pause. Mit einem Ruck erhob ich mich.
„Ich geh' an die frische Luft", sagte ich und steuerte auf die Tür zu.
Ich war schon fast dabei, die Türklinke zu berühren, als ich eine Hand um meinen Oberarm spürte. Sofort schoss die Hitze durch meinen Körper und die Stelle, an der mich die Hand berührte, brannte. Den Blick zu heben, war nicht nötig. Ich wusste auch so, dass Alec es war, der mich eben berührt hatte.
Verdammt, was war nur los mit mir?
„Nicht vor die Tür. Das ist nicht deine Nachbarschaft und ich will kein Aufsehen erregen. Neuigkeiten verbreiten sich in dieser Gegend schneller als mir lieb ist. Nimm die Hintertür."
Er zuckte mit dem Kopf in Richtung des Flurs. Mein Blick galt allerdings immer noch seiner Hand, die um meinen Oberarm geschlossen war.
Als ob Alec erst jetzt bemerkte, was er da tat, ließ er mich abrupt los und trat einen Schritt nach hinten.
„Gut", erwiderte ich leicht verwirrt und ging dann in die Richtung, in die er mich gewiesen hatte.
Schwere Schritte folgten mir. Offenbar brauchte ich einen Babysitter, der mit mir ging. Ein schneller Blick über die Schulter bestätigte meine Vermutung, als ich Curtis erblickte.
„Rechts", wies er mich an und ich ging durch die Küchentür.
Die Küche war nicht besonders groß und auch nicht besonders aufgeräumt. Etwas, das man in einem Haus voller Männer erwarten konnte.
Automatisch steuerte ich auf die Terrassentür zu, die in einen kleinen Garten hinter dem Haus führte. Die hohe Mauer zum Nachbarhaus machte mir deutlich, dass die Dark Bloods ihre Sicherheit durchaus ernst nahmen.
Ich lehnte mich an die Hauswand und atmete tief durch. Curtis, welcher mir nach draußen gefolgt war, zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche hervor und steckte sich eine in den Mund. Er hielt mir die Schachtel hin und obwohl ich eigentlich nicht rauchte, nahm ich mir eine.
Er hielt mir das Feuerzeug hin und ich zündete die Zigarette an.
Das Nikotin brannte in meiner Lunge, doch ich ignorierte diese Reaktion meines Körpers und blies den weißen Rauch aus. Es verschaffte mir zwar nur den Bruchteil der Entspannung, die ich mir erhofft hatte, aber damit konnte ich gut leben.
„Was ist sein verdammtes Problem?", fragte ich schließlich.
Ich erwartete nicht einmal eine Antwort und doch fühlte es sich gut an, diese Frage endlich jemandem zu stellen, der Alec kannte.
Curtis schwieg so lange, dass ich mir sicher war, ich würde keine Antwort von ihm bekommen.
„Er ist es nicht gewohnt, Hilfe zu erhalten. Alec ist die Stärke, die alles hier zusammenhält."
Keine wirklich befriedigende Antwort.
„Stärke bedeutet nicht, alles allein bewältigen zu müssen."
Curtis lachte leise.
„Das ist das Problem, wenn man immer allein der Starke war. Keiner hat ihm jemals eine Hand angeboten und folglich weigert er sich, die Deine anzunehmen."
„Klingt logisch", murmelte ich, bevor ich erneut an meiner Zigarette zog.
Curtis schwieg eine Weile und als wir beide schließlich fertig geraucht hatten, betraten wir erneut das Haus. Die vorherige Stille wurde durch einige Stimmen im Wohnzimmer durchbrochen. So wie es aussah, war der Rest des Hauses zu uns gestoßen und ich würde diese Gelegenheit gleich nutzen, um mir ein Bild von allen Anwesenden zu machen.
Als ich das Wohnzimmer wieder betrat, waren zwei weitere Personen im Raum. Im Gegensatz zu vorhin nahm ich mir die Zeit, jeden der beiden zu betrachten.
Dan, welcher mir am nächsten war, konnte kaum älter als dreiundzwanzig sein. Sein Äußeres war so unscheinbar, dass niemand auf den Gedanken gekommen wäre, er würde zu den Dark Bloods gehören. Sein Gesicht zeugte von Lachfalten und das T-Shirt, welches mit einem Bild von Eminem bedruckt war, wirkte verwaschen. Die eine Hand hielt eine offene Tüte Chips und die andere war damit beschäftigt, eben diese in seinen Mund zu befördern.
Der Blick, den er mir zuwarf, als ich den Raum betrat, war noch immer freundlich.
Der zweite Mann im Raum war hochgewachsen und schlank. Seine Züge wirkten jedoch alles andere als freundlich und ich wusste sofort, dass ich - ginge es nach ihm - hier nicht sein sollte. Die Cap auf seinem Kopf zeigte das Wappen der Dark Bloods und die vielen Goldketten um seinen Hals klirrten leise, wenn er sich bewegte. Mein Blick fiel auf eine kleine Halterung seitlich seiner Hose und bei genauerer Betrachtung erkannte ich den Griff eines Messers, welcher aus ihr herausragte.
Ich erwiderte seinen kühlen Blick für einige Sekunden, wandte meine Aufmerksamkeit dann wieder Alec zu, der mich nicht ansah. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Kiefermuskeln mahlten.
Etwas war passiert und was es auch war, es konnte nichts Gutes verheißen.
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