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Der Anruf des Richters war keine besonders große Überraschung. Alecs Reaktion auf unseren Beinahe-Kuss allerdings schon.

Mein Gefühl sagte mir deutlich, dass mehr dahinter steckte als sein übliches Gangoberhaupt Verhalten.

Es war fast, als ob er Panik bekommen hätte. War es wirklich nur ein Vorwand gewesen, um mir zu beweisen, dass ich ihn wollte?

Wenn es so gewesen war, wusste er es jetzt immerhin.

Den Blick auf die Gerichtsformulare gerichtet, seufzte ich und fuhr mir über das kurze Haar. Mein Tag war lange gewesen und obwohl die Uhr schon nach einundzwanzig Uhr zeigte, war ich bei weitem noch nicht so weit gekommen, wie ich es gerne gewesen wäre.

Morgen Vormittag würde ich zusammen mit Alec der Staatsanwaltschaft gegenüberstehen und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, wie ich regieren würde, wenn sie mir den Fall entzogen.

Rickys Tod war noch immer ungeklärt und ich würde die Sache nicht ruhen lassen können, ehe der Mörder im Gefängnis saß.

Durch den Anruf war ein Gespräch mit Alec über unseren Beinahe-Kuss ausgeblieben, ebenso wie die weitere Befragung eines der Dark Bloods.

Das Leuchten meines Handydisplays weckte meine Aufmerksamkeit und als ich Alecs Namen las, stolperte mein Herz. Die Tatsache, dass er um diese Uhrzeit anrief, konnte nur bedeuten, dass es wichtig war.

„Alec?"

„Wenn du mit ihm sprechen willst, ist jetzt deine Chance."

Erleichtert darüber, dass offenbar nichts passiert war, atmete ich aus. Erst dann begriff ich seine Worte. Jamal!

Alec hatte sichtlich Probleme mit ihm gehabt, denn jedes Mal, wenn ich das Haus betreten hatte, hatte Jamal es verlassen.

Umso mehr verwunderte es mich, dass er jetzt bereit war, mit mir zu sprechen.

„Ich mache mich auf den Weg", antwortete ich, bevor Jamal – oder Alec – es sich anders überlegen konnten.

Knappe zwanzig Minuten später saß ich in Alecs Wohnzimmer; Jamal mir gegenüber auf der Couch. Das blaue Veilchen in seinem Gesicht war kaum zu übersehen, doch ich fragte ihn nicht danach. Es grenzte sowieso schon an ein Wunder, dass er mit mir sprach, da musste ich es nicht auch noch ausreizen.

„Jamal, danke, dass du dir die Zeit nimmst, um mit mir zu sprechen", sagte ich bedacht freundlich.

„Was willst du wissen?", erwiderte er wenig beeindruckt, doch ich ließ mich davon nicht beeinflussen.

„Ich würde gerne wissen, wie du den zwanzigsten Juni verbracht hast."

„Soll das ein Verhör sein, oder was?"

Mit zorniger Miene fokussierte er einen Punkt hinter mir, genau dort, wo Alec stehen musste. Er war, seitdem ich das Haus betreten hatte, sehr wortkarg gewesen.

„Beantworte die Frage, Jamal", knurrte Alec hinter mir und eine Gänsehaut rollte über meinen Nacken.

„Wenn ich mit Bullen sprechen will, dann geh' ich zum Sheriff. Scheiße nochmal, Devil, was soll das? Wenn du glaubst, ich hätte es getan, dann knall mir 'ne Kugel in den Kopf und die Sache hat sich, aber erspar mir verdammt nochmal diesen Mist."

„Verfickte Scheiße, beantworte endlich die scheiß Frage!", kam es wütend von Alec, bevor ich etwas erwidern konnte.

Ich atmete einmal tief durch, bevor ich beschwichtigend die Hände hob.

„Ich will nur deinen Tagesablauf wissen, Jamal. Wenn ich Alec richtig verteidigen will, dann muss ich so viele Informationen wie nur möglich haben, die für seine Unschuld sprechen. Deine Schilderungen der Dinge trägt dazu bei, dass ich diese Tatsache stabilisieren kann."

„Stell mich nicht so dar, als ob ich Alec nicht helfen will!", entgegnete Jamal nun sichtlich wütend.

„Das war ein Befehl!"

Dieses Mal war Alecs Stimme dunkel, als er sprach. Es war eben jene Tonlage, die besonders gefährlich wirkte, weil sie viel zu ruhig war.

Jamal starrte für einige weitere Sekunden hinter mich, bevor er seine Aufmerksamkeit schließlich mir zuwandte.

„Ich war zwei Drogendeals abwickeln, hab dann einen zur Sau gemacht, der uns noch Geld schuldet und wollte am Abend mit Ricky und Dan zocken. Ricky ist nicht aufgetaucht und auch nicht an sein Handy gegangen. Also bin ich los, um ihn zu suchen und als ich ihn schließlich gefunden habe, hatte er bereits eine Kugel im Kopf."

Für einige Sekunden herrschte vollkommene Stimme im Raum.

Die Lippen fest aufeinander gepresst, versuchte ich, innerlich Ruhe zu bewahren. Der mangelnde Respekt, mit dem Jamal mir - und Ricky – durch seine Wortwahl begegnete, war hart.

„Sonst noch was, Herr Anwalt?", fügte Jamal provozierend hinzu.

„Wieso hast du Dan nicht mitgenommen?", fragte ich.

„Weil er müde war und ich keinen Bock auf sein Gejammer hatte."

„Woher wusstest du, wo du nach meinen Bruder suchen musstest?"

„Kein Verhör, mhm? In der sechsundachtzigsten, Richtung Highway Austin Nord. Dort ist ein bekannter Treffpunkt für Junkies. Ricky war oft da."

Ich sog scharf die Luft ein. Was hatte er eben gesagt? Hinter mir hörte ich, wie Alec seufzte und ich wusste sofort, dass ich diese Information nicht hätte bekommen sollen. Taubheit kroch meine Glieder hoch und lähmte mein Denken. Hatte ich meinen kleinen Bruder überhaupt gekannt?

„Ups, war das zu viel Information für unseren Herrn Anwalt?"

Jamals Schadenfreude war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören, doch ich beachtete ihn nicht weiter. Stattdessen sprang ich regelrecht von der Couch und fixierte Alec, der direkt hinter der Lehne stand.

„Du wusstest, dass Ricky drogenabhängig war, und hast es mir nicht gesagt?"

Alec schien die Ruhe in Person zu sein. Er reagierte nicht auf meine Frage, sondern wandte sich lediglich an Jamal.

„Wir sprechen uns später. Geh und hilf Travis. Du hast für heute genug Informationen preisgegeben."

Das Rauschen in meinen Ohren übertönte Jamals Antwort und ich hörte nur noch, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

„Du wusstest, dass Ricky Drogen verkauft hat. Er wurde mit sechzehn deswegen verhaftet", sagte Alec schließlich und ging um die Couch herum.

„Verkauft, nicht konsumiert!", erwiderte ich.

„Wer dealt, der nimmt auch meistens. Du kannst mir nicht erzählen, dass diese Information neu für dich ist, Seth."

Ich wusste nicht, was mich wütender machte. Die Art und Weise, wie gelassen Alec das zu nehmen schien, oder mein Versagen als älterer Bruder.

„Was hat er genommen?"

„Alles Mögliche."

„Was hat er genommen, Alec?"

Alec starrte mich an, offenbar wog er ab, wie viel er mir erzählen konnte. Ich hatte die Schnauzte endgültig voll von alldem.

„Es geht hier um meinen kleinen Bruder, Alec! Mein Bruder, von dem ich nicht einmal wusste, dass er drogenabhängig war! Mein Bruder, der tot in einer Seitenstraße liegengelassen wurde, wie ein Stück Dreck!"

„Seth, komm runter", entgegnete Alec.

„Runter kommen? Ricky ist tot, Alec. Mein kleiner Bruder ist tot und ich wusste nichts über sein Leben – nichts!"

Umso mehr ich redete, desto aufgewühlter wurde ich. All der Frust und all der Schmerz, den ich seit Rickys Tod mit mir trug, prasselte wie Regen auf mich ein. Das Engegefühl in meinem Brustkorb nahm immer mehr zu und meine Wut steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.

„Beruhige dich oder -", begann Alec erneut, doch ich unterbrach ihn barsch.

„Oder was? Du verpasst mir eine? Du schmeißt mich raus? Tu dir keinen Zwang an!"

Ich bemerkte nicht einmal, dass Alec mir immer näher gekommen war, während ich sprach.

„Seth. Ricky war alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen. Die Drogen waren nicht der Grund, warum er ermordet wurde. Er war bei keinem Deal an diesem Tag und er hat sich auch nichts besorgt."

„Woher willst du das wissen? Wieso sollte mein Bruder nicht ebenfalls ein Junkie sein, der sich auf der Suche nach dem goldenen Schuss Ärger eingehandelt hat und dafür mit dem Leben bezahlt hat?"

Die Worte waren über meine Lippen gekommen, bevor ich überhaupt nachgedacht hatte, was ich da sagte.

„Seth, beruhige dich, verdammt."

Dieses Mal war Alec mir so nah, wie er es vor einigen Tagen schon gewesen war. Der Ausdruck in seinen Augen war ernst, aber ich konnte seinen Zügen nicht entnehmen, was er gerade dachte.

Während ich versuchte, meinen Gefühlsausbruch unter Kontrolle zu bekommen, fokussierte ich mich einzig und allein auf Alec.

Je länger ich ihn ansah, umso ruhiger wurde ich. Der Sturm in meinem Inneren legte sich langsam und hörte schließlich ganz auf. Das aufkommende Gefühl von Scham übernahm mich und ich wandte den Blick von Alec ab.

Alles an dieser Situation war beschissen.

„Was hat er genommen?", fragte ich, nun allerdings etwas ruhiger als zuvor.

„Koks", antwortete Alec und ich schloss meine Augen.

„Niemand hat mir gesagt, dass Drogen in seinem System nachweisbar waren. Kokain ist selbst nach dem Tod bis zu mehreren Monaten lang nachweisbar. Die Forensik muss das festgestellt haben."

Alec seufzte.

„Das haben sie auch, aber wahrscheinlich wollten sie dir diese Informationen ersparen oder haben es nicht als besonders wichtig angesehen, da viele Gangmitglieder Drogen nehmen. Du vergisst, in welcher Gesellschaftsstellung wir uns befinden. Niemanden interessiert der Tod eines Gangmitglieds. Rickys Tod ist nur wichtig, weil deine Familie einen Haufen Asche hat und die Kosten für die Ermittlungen bezahlt. Keiner aus Blackland würde mehr nachforschen, wenn ein gewöhnliches Mitglied der Dark Bloods ermordet werden würde."

„Das ist nicht richtig", sagte ich.

„Du glaubst, jeder hat das gleiche Mitgefühl und Verständnis wie du, und das wird dich früher oder später fertig machen."

Ich schluckte hart unter Alecs Worten. Er hatte recht. Niemand interessierte sich für die untere Schicht. Die Justiz wäre wahrscheinlich froh, wenn die Gangs sich gegenseitig auslöschen würden. Dadurch würde ihnen viel Arbeit und Ärger erspart bleiben und so, wie ich Sheriff McClark einschätzte, würde er den Dingen seinen Lauf lassen.

„Gibt es sonst noch etwas, was ich über meinen Bruder wissen muss?", fragte ich.

Diese Frage spukte schon eine Zeit lang in meinem Kopf herum und so sehr ich Angst vor der Antwort hatte, musste ich sie doch einfach stellen. Ungewissheit machte mich angreifbar und das konnte ich nicht gebrauchen. Weder vor den Dark Bloods noch vor Gericht.

„Nein", erwiderte Alec.

Ich suchte seinen Blick, denn ich wollte mir sicher sein, dass er die Wahrheit sagte. Für gewöhnlich wusste ich, wenn jemand log, aber Alecs Pokerface war zu gut, als dass ich mir bei ihm wirklich sicher sein konnte.

„Ich frage dich das als Rickys großer Bruder und nicht als dein Anwalt. Also wiederhole ich meine Frage noch einmal: Gibt es sonst noch etwas, was ich über meinen Bruder wissen sollte?"

Für einige lange Augenblicke sah Alec mich einfach nur an. Anscheinend wog er ab, ob er mir noch weitere Informationen zumuten konnte – zumindest sah es für mich so aus.

„Ricky war ein guter Kerl. Er hat mir das Leben gerettet und das, obwohl wir uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal kannten. Egal was du glaubst, über deinen Bruder zu wissen, er war kein Junkie, der sein Leben weggeworfen hat."

Heiße Tränen begannen sich in meinen Augen zu sammeln und hastig brach ich den Blickkontakt zu Alec ab. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war ein weiterer Gefühlsausbruch.

Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, wie nah Alec mir war. Sein Atem streifte meine Wange bei jedem Atemzug und die Wärme seines Körpers war fast greifbar für mich.

Wie bereits zuvor kippte die Stimmung mit einem Schlag und ich spürte das elektrisierende Gefühl von Anziehung, welches Alec in mir auslöste.

Vielleicht war es meine derzeitige Gefühlslage, die meine Hemmungen verschwinden ließ. Vermutlich war es mir aber auch einfach zu anstrengend, auf Dauer gegen mein Verlangen anzukämpfen.

Was auch immer es war, es spielte keine Rolle mehr. Bevor ich wirklich darüber nachgedacht oder mir gar die Konsequenzen durch den Kopf gehen hatte gehen lassen, lagen meine Lippen bereits auf Alecs.

Das warme Gefühl, das augenblicklich durch meinen Körper strömte, war allerdings nur von kurzer Dauer, denn Alec war zurückgewichen und stand nun schwer atmend vor mir.

Ich konnte regelrecht sehen, wie er mit sich selbst kämpfte. Sein Gesichtsausdruck wechselte von wütend zu verwirrt, bis hin zu Verlangen. Offenbar war meine anfängliche Vermutung, dass er sich dafür schämte, an Männern interessiert zu sein, richtig. All die Flirtversuche und Provokationen waren lustig für ihn gewesen, weil er offenbar nicht damit gerechnet hatte, dass ich die Initiative ergreifen würde.

Bis jetzt war ich auch nicht davon ausgegangen, dass ich es tun würde. Alles an Alec war das genaue Gegenteil von mir und die Chancen, dass all das ein übles Ende nehmen würde, standen nicht unbedingt schlecht. Trotzdem konnte ich nicht umhin, mich von ihm fernzuhalten. Das war mir spätestens an dem Abend unseres Streits klar geworden. Selbst, wenn er mich nicht mehr als Anwalt hätte haben wollen, wäre ich höchstwahrscheinlich zurückgekommen, um ihn umzustimmen.

Während ich also immer noch auf einen Wutausbruch seinerseits wartete, stand Alec einfach nur da und starrte mich an. Seiner grimmigen Miene nach zu urteilen, hatte ich genau das Falsche getan und sofort überkam mich Reue.

„Schon gut, ich weiß, wo die Tür ist. Erspar dir bitte einen deiner dummen Kommentare. Dafür habe ich heute echt keine Nerven mehr."

In dem Moment, als ich einen Schritt Richtung Tür machte, packte mich Alec am Handgelenk und ich stoppte mitten in der Bewegung. Sein Blick war immer noch grimmig, aber das Funkeln in seinen Augen hatte nichts mehr mit Wut zu tun.

„Alec...", begann ich und biss mir nervös auf die Lippe. Bevor ich auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte, spürte ich, wie ich mit einem Ruck zu ihm gezogen wurde.

„Was habe ich dir das letzte Mal gesagt? Ich habe es satt, meinen Worten leere Taten folgen zu lassen."

Zuerst verstand ich nicht, was er meinte. Als sein Blick allerdings auf meine Lippen fiel, wurde ich mir seiner Worte von gestern wieder bewusst.

„Wenn du dir noch einmal so über die Lippen leckst, werde ich dich hier und jetzt nehmen."

Ein Schauer überfuhr mich bei der Erinnerung und ich wartete gespannt auf das, was nun kommen würde.

„Mein Zimmer. Sofort!", knurrte er und ohne ein weiteres Wort ließ er mich stehen und ging zur Treppe.

Zu sagen, mein Herz schlüge schnell, wäre eine Untertreibung gewesen. Ich wusste, wenn ich Alec folgen würde, dann gäbe es kein Zurück mehr. Im Gegensatz zu ihm war ich nicht die Art von Person, die nur aus Spaß oder Zeitvertreib etwas mit jemanden anfing. Und schon gar nicht mit dem Oberhaupt einer Gang. Es war also eine simple Entscheidung. Ich konnte Alec den Rücken kehren und mir selbst damit einen Gefallen tun oder ich konnte ihm nach oben in sein Zimmer folgen und mich mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Spiel mit dem Teufel einlassen.

So oder so, es würde es nichts an der Tatsache ändern, dass ich es wollte – dass ich ihn wollte. 

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