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„Der Angeklagte wird des Mordes ersten Grades beschuldigt, ebenso wie des illegalen Handels mit Kokain in mehreren Fällen."

Diese Worte hallten in meinem Kopf seit verfluchten Wochen und doch brachte ich meine eigene innere Stimme nicht zum Schweigen. Wie denn auch, es waren eben jene Worte des Richters gewesen, die er mir bei der Verlesung der Anklage vorgelesen hatte. Wie hatte ich mich nur in diese Scheiße geritten?

Nein.

Das war nicht ganz richtig. In diese Situation hatte mich jemand hineinmanövriert und ich hatte nicht die beschissenste Ahnung wer. Mein Leben war ein beschissenes Chaos, ebenso wie ich selbst.

„Hey! Jackson! Wird's bald oder muss ich dir beim Gehen helfen?", hallte die Stimme des Wärters in meinen Ohren, doch ich ignorierte ihn wie gewöhnlich.

Die letzten vier Wochen in Haft hatten meine Wut nicht gerade gedämpft. Jemand hatte Ricky auf dem Gewissen und gleichzeitig dafür gesorgt, dass ich dafür verantwortlich gemacht wurde!

Die stechenden Schmerzen an meinen Handgelenken, lenkten meine Gedanken von Ricky ab und brachten mich in die Realität zurück, in der ich gerade von den Füßen gerissen und aus dem Zimmer in Richtung Besucherraum bugsiert wurde.

„Du hast zwanzig Minuten", kam es noch knapp von dem Wärter, auf dessen Weste der Name H. Killian aufgedruckt war, bevor ich auf einen der kleinen Tische zusteuerte, an welchem ein mir bekanntes Gesicht saß.

Seit zwei verdammten Wochen versuchte Curtis mir einen Anwalt zu besorgen. Wie es aussah, hatte mein Anwalt, Mr. Greg Miller, beschlossen keine Zeit für meinen Fall zu haben, denn laut Curtis hatte dieser eine Verteidigung aufgrund mangelnder Kapazität abgelehnt und ging seitdem nicht mehr an sein Telefon. Da ich von hier aus nicht viel unternehmen konnte, um seine Meinung zu ändern (und der Mord an meinem ehemaligen Anwalt mich nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen würde), hatte ich ein gewaltiges Problem. Im Normalfall wäre ich unter Kaution schon längst auf freiem Fuß, doch da der Bundesstaat Texas das Entlassen auf Kaution 2021 abgeschafft hatte, saß mein Arsch nun hinter Gittern. Mit einem Standardanwalt brauchte ich gar nicht erst in der Gerichtsverhandlung, welche in sechs Monaten stattfinden soll, ankommen.

Fuck, ich brauchte einen Strafverteidiger, und zwar schnell!

Curtis sonst so aufmerksame Züge sind von Müdigkeit geprägt. Die große Narbe, welche von einer Rangelei mit einem des Amigo-Kartells stammte, schmeichelte seinem Gesicht nicht gerade. Seine Haut war ebenso dunkel wie meine, doch im Gegensatz zu mir war er viel muskulöser. Man könnte meinen, er würde den ganzen Tag nur Gewichte stemmen, anstatt Fast Food in sich hineinzustopfen. Ich selbst dagegen war mit meinen ein Meter fünfundachtzig einen Kopf größer als Curtis und konnte mich auch nicht über meinen Körperbau beschweren.

Sein Blick wanderte aufmerksam an mir herunter und sofort wurde mir die Abwesenheit meiner schwarzen Kleidung, meiner Goldkette und meinem gleichfarbigen Durag bewusst, welchen ich sonst täglich trug, um meine kurzen Afrolocken unter Kontrolle zu halten. So standen mir diese ungepflegt und verwuschelt vom Kopf ab.

„Und?", sagte ich, ohne auf seine Begrüßung einzugehen.

„Keine Chance, Alec. Es ist, als ob jemand dafür gesorgt hätte, dass du hier drinnen verrottest."

Verrotten war das richtige Wort. Würde man mich wirklich wegen Mordes ersten Grades verurteilen, stünde mir eine lebenslange Haftstrafe ohne die Chance auf Bewährung bevor. Die Drogen, welche sie beim Durchsuchen meines Hauses gefunden hatten, waren das kleinste Problem. Curtis und Dan hatten den Großteil davon bereits verschwinden lassen, als Sheriff McClark mit seinen Männern zurückgekommen war, um das Haus auf der Suche nach der Tatwaffe auf den Kopf zu stellen.

„Es scheint wohl so", erwiderte ich gedankenverloren. Jemand wollte mir ans Bein pinkeln, so viel stand fest.

Was mich mit am meisten bei der ganzen Sache ankotzte, war, dass ich nicht einmal die Chance hatte, alles selbst in die Hand zu nehmen, weil ich in diesem gottverdammten Bunker festsaß.

„Sag mir, was ich tun soll und ich tu's. Es muss einen Anwalt geben, den du kennst. Verdammt, Alec, das ist eine beschissen ernste Sache!"

„Das musst du mir nicht sagen! Ich sitze hier wahrscheinlich für den Rest meines Lebens fest für etwas, was ich nicht getan habe! Solange du also nicht vorschlägst, dass ich mich an Ricky's Bruder wende, hältst du besser deine beschissene Klappe und denkst nach!", fauchte ich gereizt.

Etwas in Curtis Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und ich konnte die Idee, welche in seinem Kopf Gestalt annahm, förmlich vor mir sehen.

„Nein!", sagte ich bestimmt. „Bist du vollkommen übergeschnappt?"

„Überleg doch mal! Was hat Ricky immer gesagt? - Wenn wir in Schwierigkeiten stecken, sollen wir uns an seinen Bruder wenden. Seth, oder?"

„Fuck, dass du überhaupt weißt, wie dieser Typ heißt", murmelte ich.

„Alec, wir haben keine Wahl! Du musst versuchen ihm zu erklären, was passiert ist. Ein Versuch ist es allemal wert."

„Klar, ich wäre auch scharf darauf, dem vermeidlichen Mörder meines Bruders zuzuhören", erwiderte ich. Diese Idee war einfach nur dumm. Anders konnte man es nicht ausdrücken.

„Ich mache ihn ausfindig und bringe ihn dazu, dich anzuhören. Scheiße, Alec, wir können es uns nicht leisten dich im Knast zu haben! Das El-Rebelde Kartell wartet nur darauf, unseren Bezirk an sich zu reißen. Sie wissen, dass du hier nicht so schnell wieder rauskommst und Carlos hat seine Männer bereits dazu angewiesen, unsere Käufer abzuwerben!"

Wenn das das unser einzigstes Problem war.

„Du hast gesagt, du hast ein Alibi, also sprich mit ihm und mach ihm klar, was Sache ist. Ich bin sicher, welche Chick es auch immer ist, er wird es schaffen, sie dazu zu bringen, vor Gericht auszusagen."

Diese Worte hinterließen ein dumpfes Dröhnen in meinem Kopf. Ja, ich hatte ein Alibi und bei dem Gedanken daran, dass ich meinem Drang in genau jener Nacht nachgegeben hatte, während einer meiner Männer von irgendjemanden erschossen worden war, verbreitete einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

Niemand meiner Brüder wusste, dass ich keinerlei Interesse daran hegte, irgendwelche Chicks zu vögeln. Es wäre ein gefundenes Fressen für meine Feinde und es war, dank meines Vaters, bereits für mich selbst schwer genug meine eigene Sexualität zu akzeptieren.

Der Gedanke daran, dass jemand herausfinden könnte, ich würde auf Männer stehen, war einer der wenigen Dinge, vor welchen ich Angst hatte.

Scheiße, ich würde diese Information über mein Privatleben sicherlich nicht an irgendeinen Anwalt weitergeben und schon gar nicht vor Gericht! Es war eine Sache, mit mir selbst leben zu müssen, aber es vor fremden Leuten zu diskutieren. Nein, danke!

„Zehn Minuten", ertönte die Stimme des Wärters.

Von dessen Worten zurück in die Gegenwart katapultiert, musterte ich die Tischplatte und dachte fieberhaft über eine andere Lösung nach. Das Problem war nur; ich fand keine.

„Fuck! Dann geh zu Rickys Bruder und sag ihm, ich möchte mit ihm sprechen. Sag ihm, ich brauche seine Hilfe, um zu beweisen, dass ich keinen meiner eigenen Leute erschossen habe."

Die Worte waren nicht leicht über meine Lippen gekommen, aber ich sah keine andere Lösung, wenn ich dieses Drecksloch hier jemals verlassen wollte. Die Hoffnung, Seth Floyd würde mir Gehör schenken, begrenzte sich allerdings auf ein Minimum. Scheiße, würde der vermeintliche Mörder meines Bruders mit mir sprechen wollen, würde ich das Schwein eigenhändig für seine Dreistigkeit erschießen.

Curtis nickte knapp und erhob sich. In seinem Blick konnte ich die Hoffnung sehen, welche ich kein bisschen hatte. Niemand, der noch ganz bei Sinnen war, würde sich freiwillig meinem Fall annehmen und damit seinen Ruf in Gefahr bringen. Und schon gar nicht Seth Floyd.

„Wenn alles funktioniert, wirst du ihn wahrscheinlich noch vor mir sehen. Bis dahin kümmere ich mich um alles Weitere. Wir holen dich hier raus, Alec. Du wirst sehen."

Da ich dem nichts hinzuzufügen hatte, nickte ich lediglich und erhob mich dann ebenfalls. Der Wärter trat vor und packte mich am Oberarm, um mich durch die Tür zu bugsieren, welche zu dem Korridor meines Zellenblocks führte.

Während ich das laute Gebrüll meiner Mithäftlingen in ihren Zellen ausblendete, kreisten meine Gedanken erneut um die Nacht, in der Ricky getötet worden war. Ich wusste damals schon, dass es ein Fehler war, ihn allein gehen zu lassen. Niemand der Dark Bloods ging allein und schon gar nicht, wenn es um Revierkämpfe ging.

Ricky hatte mir verdammt nochmal versichert, dass seine Kontaktperson nur mit ihm sprechen würde, wenn er allein kam und so hatte ich dem Ganzen widerwillig zugestimmt.

Während ich also meilenweit entfernt in einer der anonymen Kabinen des Gay-Clubs hart in den Arsch meiner flüchtigen Bekanntschaft gestoßen hatte, wurde Ricky mit drei Schüssen aus dem Leben gerissen und dann wie Dreck auf der Straße liegengelassen.

In meiner Zelle angekommen, entfernte der Wärter meine Handschellen durch die Durchreiche in der Tür und ließ mich dann mit meinen Gedanken allein.

Zu meinem Glück wurde ich in eine Einzelzelle gesteckt. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, war ein Zellengenosse, welcher nicht aus meinem Bezirk stammt und somit ein Rivale war.

Da dieses Drecksloch bis auf die drei täglichen Mahlzeiten nicht viel an Unterhaltung zu bieten hatte, widmete ich meine Zeit meinen eigenen Gedanken. Geschlafen hatte ich seit meiner Inhaftierung nur das Nötigste. Meine Albträume, die mich fast jede Nacht heimsuchten, waren natürlich von meinen Blockgenossen nicht unbemerkt geblieben. Keiner von ihnen wagte es jedoch, mich darauf anzusprechen. Der Glaube, es wären meine Dämonen über die Leute, die ich auf dem Gewissen hatte, reichte aus, damit sie schwiegen.

In Wirklichkeit erlebte ich meine Kindheit in diesen Träumen wieder. Tag für Tag, hatte mir mein Vater die Seele aus dem Leib geprügelt. Solange, bis schließlich nichts mehr von ihr übrig geblieben war. Zumindest war es das, was die Leute über mich sagten. Keiner hatte eine Ahnung, was mich zu dem kalten Bastard gemacht hatte, der ich heute war und ich hatte nicht vor, diesen Umstand zu ändern.

Im Grunde sollte ich meinem alten Herrn dankbar sein. Er hatte mir gezeigt, wie wenig ich mich auf Menschen verlassen konnte, selbst auf jene, die mir nahestanden. Meine eigene Mutter hatte sich einen Scheiß darum gekümmert, ob ich verprügelt worden war oder nicht. Solange er sie in Ruhe gelassen hatte, war ihr alles recht.

Als mein Vater schließlich bei einem bewaffneten Raubüberfall mit Todesfolge festgenommen und in das Travis County Gefängnis eingebuchtet worden war, machte sie dort weiter, wo er aufgehört hatte.

Koks war alles, was sie interessierte und ich selbst hatte angefangen ihr Drogen zu besorgen, als ich mit sechzehn zu dealen begonnen hatte. Scheiße, mich hatte es kein bisschen interessiert, ob sie sich das Hirn wegkokste, solange sie dann mich und meinen kleinen Bruder in Ruhe ließ.

Sam war stolze acht Jahre jünger als ich und gleichzeitig das Beste in meinem Leben. Er war der Grund, warum ich begonnen hatte, mein Leben infrage zu stellen und schließlich auch der Antrieb, mich an das Jugendamt zu wenden, damit er bei einer richtigen Familie unterkam. Mein Arsch hatte damals bereits zu tief in die Angelegenheiten der Dark Bloods gesteckt, als dass ich ihnen der Rücken hätte kehren können, aber für ihn wollte ich ein besseres Leben. Ein Leben abseits von Gangs, Drogen und Gewalt.

Nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass Sam bei einer guten Familie untergebracht worden war, hatte ich meiner Mutter den Rücken gekehrt. Diese war nur zwei Jahre später an einer Überdosis gestorben und lag nun gut unter der Erde.

Der Gedanke an meinen kleinen Bruder ließ mich seufzen. Ich sah ihn viel zu selten.

Scheiße, wenn ich es nicht schaffte hier herauszukommen, sehe ich ihn nie wieder!

Gedankenversunken strich ich mit meiner linken Hand über meinen Oberarm. Unter den unzähligen Tattoos, welche fast meinen ganzen Oberkörper verzierten, konnte ich deutlich die Narben spüren, welche mein Vater mit seinem rostigen Messer hinterlassen hatte. Keiner außer Curtis hatte mich jemals danach gefragt und selbst er wusste nur einen Bruchteil von dem, was mein Vater mir angetan hatte.

Der Bastard hatte wohl damals schon bemerkt, dass ich anders war. Scheiße, er hatte es wahrscheinlich schon gewusst, bevor ich es überhaupt verstanden hatte und mich jeden einzelnen Tag dafür bezahlen lassen.

Meine Blood-Brüder und Sam waren alles, was mir in meinem Leben noch übrig geblieben war. Fuck, sie waren der Grund, warum ich mir nicht schon vor Jahren eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.

Meine Entscheidung alles zu tun, um hier rauszukommen war gefallen. Ich war es ihnen schuldig.

Allen voran, war ich es Ricky schuldig.

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