. ⋅ ˚̣- : ✧ : - ⭒Kapitel 24 ⭒ - : ✧ : -˚̣⋅ .

WICHTIG:
Ich habe am Anfang schon mal gewarnt, aber ich möchte es nochmal tun. Dieses Kapitel ist nicht ohne! Bitte lest es nur, wenn ihr euch mental dazu in der Lage fühlt! Alle Leserinnen und Leser, die sensibel auf Themen wie Verletzungen, Tod und Depressionen reagieren, denen rate ich, an dieser Stelle BITTE aufzuhören!
     
   

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Yoongi hat schon wieder etwas dazu gelernt. Er weiß jetzt endlich, was Glück wirklich bedeutet. Nicht dieses oberflächliche, sondern das, was was man in jeder Faser seines Körpers spüren kann. Das, bei dem man plötzlich erkennt, wie wunderschön dieses Leben ist. Er möchte die Welt umarmen, jeden Menschen, jedes Tier, jede noch so kleine Pflanze. Es ist verrückt, dass er zu solchen Empfindungen überhaupt in der Lage ist. Es gestaltet sich tatsächlich schwieriger, das wahre Glück zu finden, als eine Perle in der Wüste, und doch hat Yoongi es geschafft. Es ist eine Art Befriedigung, allerdings weit entfernt von der, die er verspürt hat, nachdem er sich mit Jimin zurück ins Laken hat fallen lassen. Viel intensiver, viel langanhaltender. Wirklich, er meint, dass er es in jeder Zelle seines Körpers spürt.

Er kann beim besten Willen nicht einschätzen, wie lange er Jimin nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht noch beobachtet hat. Ein paar Minuten eventuell? Oder war es sogar 'ne Stunde? Höchstwahrscheinlich wird er niemals eine Antwort auf diese Frage finden, aber das ist unwichtig. Das einzige, was jetzt noch von Bedeutung ist, ist Jimins zufriedenen Gesichtsausdruck und das federleichte Lächeln zu sehen, als Yoongi die Augen wieder aufschlägt. Er muss kurz eingenickt sein, während er Jimin betrachtet hat, um sich das Bild mit jedem noch so winzigen Detail einprägen zu können. Er könnte sich bei dem Anblick schon wieder verlieren, aber langsam wird er ihn wecken müssen. Wenigstens haben sie sich ein bisschen haben ausruhen können, Jimin sogar noch mehr als er. Den Rest werden sie Zuhause nachholen müssen.

"Jiminie... wach auf", murmelt er verträumt und streicht ihm dabei die Strähnen aus dem Gesicht. Jimin brummt daraufhin nur leise und zieht die Decke etwas höher. Yoongi entlockt es ein seichtes Kichern. "Na komm, wir müssen langsam nach Hause."
Im nächsten Moment sieht er, wie Jimin sich streckt, um den Schlaf aus den Knochen zu kriegen. Wieder brummt er verschlafen, bis sich die Geräusche in erkennbare Worte wandeln. "Wie spät ist es?"

Yoongi zuckt mit den Schultern, schaut sich im Raum um und stellt fest, dass keine Uhr an der Wand hängt. Also setzt er sich auf die Bettkante, sucht er auf dem Boden nach seiner Hose und zieht sie zu sich, als er sie gefunden hat. Schnell holt aus deren Tasche sein Handy hervor, schaut aufs Display und ist kurzzeitig sehr irritiert. Er hat einige Anrufe in Abwesenheit. Aber das, was ihn noch mehr verunsichert, ist die Uhrzeit, die sein Handy ihm anzeigt. Er muss lange wortlos auf sein Handy starren, denn Jimin kommt zu ihm gekrabbelt, lehnt sich an seinen Rücken und fragt, ob etwas nicht stimmt.

"Es ist nur... aber das kann nicht sein", antwortet er zerstreut. Er hält Jimin sein Handy hin, und hofft, dass er sich irrt und Jimin ihm eine andere Uhrzeit nennt.
"Scheiße! Es ist schon sechs Uhr?", kommt es entsetzt von ihm und bestätigt Yoongi leider, dass er es sich nicht eingebildet hat.

"Wir... müssen eingeschlafen sein", stellt Jimin sehr richtig fest. Yoongi bestätigt das mit einem Nicken. Er muss es wissen, immerhin hat er Jimin lange betrachtet, als dieser schon eingeschlummert ist. Er hätte ihn da schon wecken müssen, anstatt ihn die ganze Zeit anzugaffen. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass er selbst so tief und fest einschläft. Was das bedeutet, wird ihm erst klar, als sein Hirn langsam ebenfalls wach wird. Er will was sagen, aber da kommt Jimin ihm zuvor. "Deine Mama. Wir müssen sofort los."

Yoongi nickt, ehe er seine Sachen zusammen sammelt und sie eilig anzieht. Mit jeder Sekunde wird er wacher. Und je wacher er wird, desto besorgter wird er. Deswegen die vielen Anrufe. Bestimmt seine Nachbarin. Was, wenn etwas passiert ist? Yoongi kann sich nicht vorstellen, dass sie die ganze Nacht bei ihr geblieben ist. Und wenn seine Mutter schon wach ist? Oder sie sich verletzt hat? Wie konnte er nur so dermaßen verantwortungslos sein? Wenn etwas passiert ist, dann trägt Yoongi die alleinige Verantwortung dafür und wird sich das niemals wieder verzeihen können.

"Yoongi!? Jetzt komm schon", drängelt Jimin, der viel schneller den Ernst der Lage begreift als Yoongi. Oder besser in Stresssituationen reagieren kann. Yoongi kann es auf jeden Fall nicht. Vor seinem geistigen Auge ploppt eine Horrorvorstellung nach der anderen auf und hindert ihn daran, sich zu bewegen. Paralysiert bleibt er mitten im Raum stehen und versucht, die Bilder zu verdrängen, die sein Hirn zusammenbastelt. Jimin scheint mitzukriegen, dass die Sorgen ihn gerade auffressen. "YOONGI!", ermahnt er ihn laut und endlich findet er wieder ins Hier und Jetzt. Panisch folgt er Jimin aus dem Hotelzimmer.

Die nächsten Minuten fliegen an Yoongi vorbei wie ein vorgespulter Film. Alles ist verzerrt und fühlt sich surreal an. Das einzige, was ihn noch in der Realität hält, ist Jimins Hand, die ihn unermüdlich zu seiner Wohnung führt. Als sie ankommen, hält er die Luft an. Sein Herz schreit aus Angst. Er kriegt nur am Rande mit, wie Jimin immer wieder auf ihn einredet, dass bestimmt alles gut ist, dass sie sicherlich noch im Bett liegt und schläft. Die Worte schaffen es nur nicht richtig in sein Bewusstsein.

Als sie die Tür öffnen, ist es still. Yoongi hat keine Ahnung, was er glaubte, würde ihn empfangen. Alles ist wie immer. Die Lichter der gesamten Wohnung sind aus. Kein einziges Geräusch dringt an seine Ohren. Yoongi hält inne und versucht, sein vor Angst tobendes Herz zu beruhigen. Jimin geht an ihm vorbei und steuert dabei das Schlafzimmer seiner Mutter an. Er will ihm folgen, aber irgendwas hindert ihn.

"Yoongi! Komm schnell! Beeil dich!" Erst, als er Jimins Stimme hört, setzt er sich in Bewegung und stürzt ins Zimmer seiner Mutter. Was er dann sieht, verstört sein Herz. Seine Mutter liegt auf dem Boden. Um sie herum sind Scherben verteilt. Wahrscheinlich das Wasserglas, dass sie ihr für nachts immer auf den Nachttischschrank stellen. Das Wasser wird von roten Schlieren durchzogen. Kleine Wirbel entstehen dort, wo es sich mit dem Blut vermischt. Jimins Hände sind ebenfalls rot. Er kniet neben ihr.

"Ruf einen Krankenwagen! Schnell!", hört er Jimins helle Stimme. Sie klingt surreal. Weit weg. Das passiert gerade alles nicht. Bestimmt nur ein Traum. Gleich wird er aufwachen, einen schlafenden Jimin neben sich sehen und sich fragen, ob der Albtraum von seinem schlechten Gewissen ausgelöst wurde.

Yoongi schaut wieder zu seiner Mutter. Ihr Gesicht zeigt zu Boden, trotzdem erkennt er, dass ihr Kopf geblutet haben muss. Es ist so viel Blut. Er erinnert sich daran, irgendwann mal gehört zu haben, dass Blut grundsätzlich mehr aussieht, als es ist, weil unser Gehirn die Menge fehlinterpretiert. Vielleicht ist es gar nicht so viel, wie es aussieht. Vielleicht nur kleine Verletzungen?

"Yoongi! Hörst du nicht? Ruf endlich einen Krankenwagen!"

Wieder Jimins weit entfernt klingende Stimme. Er nickt, ohne auch nur einmal seinen Blick von den Blut-Wasser-Wirbeln neben seiner Mutter zu nehmen. Wie in Trance holt er sein Handy hervor. Er weiß, was er tun muss, aber er schafft es nicht, seinen Blick abzuwenden. Als würde eine unsichtbare Kraft ihn zwingen, sie weiter anzustarren. Dann erfasst ihn ein Ruck. Erst weiß er nicht, wodurch er ausgelöst wird, dann hört er wieder Jimins Stimme. Endlich schafft er es, ihn anzusehen und nicht mehr auf das viele Blut. Er hat ihm sein Handy aus den Händen gerissen und telefoniert nun aufgebracht mit einem Sanitäter. Und da bemerkt er, dass Jimins Hände das Blut auf seinen eigenen übertragen hat. Sie sind jetzt genauso rot, wie die Lache unter seiner Mutter. Yoongi wird panisch. Schnell versucht er es abzuwischen, aber er hat das Gefühl, dass es immer mehr wird. Immer schneller reibt er die Hände an seine Hose ab. Im nächsten Moment steht alles unter Wasser.

"Yoongi... Shht", hört er die vertraute Stimme und spürt wie sich warme Arme um ihn legen. Yoongi fängt heftig an zu Schluchzen. Das Wasser steigt immer höher, bis seine Mutter nur noch von einem unscharfen roten Fleck umgeben ist. Er schließt die Augen, klammert sich an Jimin und zerbricht an seinen Selbstvorwürfen.
    
   

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Wann weiß man, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat? Manchmal spürt man einfach, dass es richtig war. Und dann gibt es Momente wie diese, in denen man realisiert, dass man nur eine Kettenreaktion ausgelöst hat, deren vernichtende Konsequenzen nicht mehr abzuwenden sind. Einen solchen Moment erlebt Yoongi gerade, als er neben Jimin auf einem der unbequemen Metallstühle sitzt und darauf wartet, dass der Arzt endlich zu ihnen kommt, um zu erfahren, ob seine Mutter die Operation überstanden hat. Er weiß nicht mal genau, was sie operieren, nur dass es dringend ist.  Irgendwas wegen innerer Blutung. Yoongi hat es nicht verstanden.

Er hat keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon hier sitzen. Es könnten Minuten sein, oder Stunden. Für Yoongi fühlt es sich an wie Jahre. Das einzige, was er hört, ist das Ticken der Uhr. Wieder und wieder und wieder. Tick. Tack. Es macht ihn wahnsinnig, weil es sich anfühlt, als würde die immer lauter werden und als würde mit jeder verstrichenden Sekunde ein neuer Vorwurf gegen ihn ausgesprochen werden.

Sie ist jetzt schon ziemlich lange im OP. Tick.

Sie wird es nicht überleben. Tack.

Du hättest niemals mit Jimin in dieses Hotel gehen dürfen. Tick.

Es ist deine Schuld, Yoongi. Tack.

"Hier, Yoongi", mischt sich da auf einmal eine andere Stimme ein. Er schaut hoch und erkennt Jimin vor sich stehen. In seinen Händen hält er zwei Becher Kaffee. Einen streckt er in Yoongis Richtung. "Willst du nicht? Soll ich dir was anderes holen?"

Wie gerne würde Yoongi ihn jetzt anschreien und sagen, dass das einige, was er will, eine Nachricht über den guten Ausgang der OP ist. Aber er schweigt. Schüttelt den Kopf und nimmt den Becher entgegen. Jimin versucht ihm ein aufbauendes Lächeln zu schenken, aber Yoongi erkennt, wie gefaket es ist. Er weiß, dass er es nur gut meint, aber er findet die Geste dennoch unpassend. Er braucht weder Kaffee, noch ein aufgesetztes Lächeln.

"Yoongi, hör mal", setzt Jimin erneut an. Seine Stimme ist dünn und leise. Dennoch glaubt er, dass man es im ganzen Krankenhaus hören müsste, weil es ihm unnatürlich laut vorkommt. Einen Vorteil hat es allerdings. Die Uhr schweigt für einen Moment.
"Mach dich nicht selbst so fertig. Du... kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld."

"Ich geh nochmal eine rauchen", antwortet Yoongi und steht auf. Seinen Kaffeebecher stellt er auf auf seinen Sitzplatz, ehe er nach der dünnen Jacke greift und Jimin allein zurück lässt. Das hat er während ihrer langen Wartezeit schon einige Male gemacht. Er hat mit Jinin vereinbart, dass er ihn anrufen wird, falls der Arzt genau in dem Moment auftaucht. Yoongi ist dankbar dafür. Er hält es einfach nicht aus, so lange auf den Metallstühlen zu sitzen und zu warten, dass etwas passiert. Er fragt sich, wie Jimin noch so ruhig sein kann, und nicht durchzudrehen. Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass es nicht seine Mutter ist, die da gerade um ihr Leben kämpft. Natürlich wirkt auch Jimin besorgt. Klar. Die beiden haben einen guten Draht zueinander. Und trotzdem ist und bleibt es immer noch etwas anderes.

Während Yoongi am Eingang des Krankenhauses steht und direkt zwei Zigaretten hintereinander wegraucht, gehen ihm Jimins Worte durch den Kopf. Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld. Eine Lüge. Eine lieb gemeinte, ja, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es erstunken und erlogen ist. Yoongi hat Schuld. In dem Moment, in dem er beschlossen hat, mit Jimin in dieses Hotel zu gehen, hat die Katastrophe ihren Lauf genommen. Spätestens. Vielleicht war es auch ab dem Moment nicht mehr abzuwenden, in dem er Jimin davon abgehalten hat, die Kreuzung zu überqueren. Jede Entscheidung im Leben führt zu einer anderen Ausgangssituation. Vielleicht ist es gar nicht möglich zu sagen, ab welchem Augenblick er sein Leben in die falsche Richtung gelenkt hat. Fall das überhaupt von Bedeutung ist. Fest steht: so oder so ist es Yoongis Schuld.

Alles ist unverändert, als Yoongi wieder im Wartebereich ankommt. Jimin sitzt noch immer auf den unbequemen Metalldingern, sein Kaffee steht noch dort, wo er ihn hingestellt hat, die Stille wird nur vom penetranten Ticken der Uhr unterbrochen.

"Geht's dir besser?", fragt Jimin vorsichtig, als Yoongi sich wieder neben ihn setzt. Besser. Als würde das Nikotin in so einer Situation irgendwas besser machen können. Was glaubt Jimin denn? Begreift er nicht, dass Yoongi grade am Ende ist? Dass die Vorwürfe gegen sich selbst immer lauter und gnadenloser werden?

"Besser!?", wiederholt Yoongi daher gereizt, "Nein! Mir gehts erst besser, wenn dieser Scheiß Arzt endlich seinen verfickten Arsch hierher bewegt und mir verdammt nochmal sagt, was los ist!"

Jimin zuckt bei jedem Wort zusammen und starrt betroffen auf den Boden.

"Du... so meinte ich das nicht. Ich wollte nur..." Jimins Stimme verklingt, nicht aber Yoongis Wut. Dabei ist er gar nicht auf Jimin wütend. Auch nicht auf den Arzt. Eher auf sich, auf das Schicksal, auf alles was dazu geführt hat, dass er jetzt hier sitzt. Zügeln kann er sich trotzdem nicht. Dieses Warten macht ihn wahnsinnig! Jeder Muskel in seinem Körper ist zum Zerreißen angespannt. Leider ist es wieder Jimin, der seinen Frust abbekommt.

"Was wolltest du nur? Mir wieder erzählen, dass ich keine Schuld habe?"

"Yoongi...", murmelt Jimin verunsichert. Er traut sich nicht, ihn anzusehen. Stattdessen starrt er weiter auf den Boden und reibt mit dem Finger unruhig über den Rand seines Kaffeebechers. "Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, und dass du dir Sorgen machst, aber... bitte schrei nicht so."

"Ich schreie, wann ich will! Und ja, mir gehts nicht gut! Mir geht es sogar verdammt beschissen, wenn du es wissen willst!", brüllt Yoongi und erschrickt vor seiner eigenen lauten Stimme. Er will Jimin gar nicht so anschreien, aber diese verfluchte Ungewissheit treibt ihn in den Wahnsinn. Warum dauert das so lang? Wieso musste er einschlafen? Warum zum Teufel musste seine Mutter ausgerechnet dann aufstehen, wenn sie nicht da sind? Jeden beschissenen Tag hat er sich um sie gekümmert, hat sein Leben aufgegeben, nur um ihr gerecht zu werden. Nur ein einziges Mal hat er egoistisch gehandelt, hat sein eigenes Leben über das seiner Mutter gestellt. Nur einen verdammten Tag. Er will doch nicht viel. Er verlangt nichts! Nur diesen einen Tag wollte er unbeschwert sein, und auskosten, glücklich zu sein. Was hat das Leben gegen ihn, dass ihm selbst das nicht vergönnt ist, ohne dass es eine Katastrophe nach sich zieht?

"Ich... weiß", gibt Jimin leise zu, "Ich versteh das ja, aber..."

"NICHTS VERSTEHST DU!", poltert Yoongi los, und springt dabei vom Stuhl auf. Jimin bekommt keine Chance, noch etwas dazu zu sagen. Es ist, als hätte jemand einen Schalter in Yoongi umgelegt. Als würden die ganzen Gefühle nicht mehr ausreichend Platz in ihm finden. Sie haben sich angestaut. Immer mehr und mehr. Jetzt bröckelt die dünne Wand der Selbstbeherrschung. "Es ist nicht DEINE Mutter, die da liegt! Du hast keine Ahnung, Jimin! Also sag mir nicht, dass du ES VERSTEHST!"

Als die Mauer zusammenbricht, entlädt sich seine Wut sturzartig. Er schmeißt voller Zorn den Kaffeebecher an die Wand. Im selben Moment spürt er, dass der Druck etwas nachlässt.

"Yoongi, bitte...", versucht Jimin erneut. Seine Stimme wird immer dünner, seine Augen füllen sich langsam mit Tränen, doch Yoongi ist so geladen, dass er es gar nicht richtig realisiert. Er lässt ihn wieder nicht ausreden, und obwohl seine Stimme nach seinem Wutausbruch etwas leiser ist, verliert sie nicht an Nachdruck. "NEIN! Ich will's nicht hören! Du hast schon genug gesagt. Schon genug angerichtet! Verdammt! Ich hätte mich besser niemals auf dich eingelassen! Ich wusste, dass es in einer Katastrophe endet!"

Stille. Das Ticken der Uhr verkündet, dass sie sich sehr lange anschweigen.

"Ich weiß, dass du grade echt... durch den Wind bist. Und ich verstehe das, aber..." Jimins Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, und quittiert letztlich ihren Dienst. Yoongi will etwas darauf antworten, und schaut ihm in die Augen. Erst da erkennt er, dass einige Tränen über Jimins Wange kullern. Mit einem Male realisiert er, dass er gerade den liebsten und sensibelsten Menschen, den er kennt, grundlos angegriffen hat. Jimin hat die volle Ladung abbekommen, dabei ist er der letzte, der es verdient hat. "Jimin, ich... wollte nicht...", versucht er sich zu entschuldigen, doch diesmal ist es Jimin, der ihn unterbricht.
"Schon gut, lass es einfach", murmelt er, während er nach seiner Jacke greift, "wir reden, wenn du dich wieder beruhigt hast."

Jimin klingt nicht sauer. Selbst jetzt kann Yoongi immer noch keinen Vorwurf aus seiner Stimme heraushören, dabei hätte er es sogar verdient. Er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Er hat sich noch nie mit Jimin gestritten. Jimin war noch nie so gekränkt, dass er einfach gegangen ist. Und Yoongi? Der schaut überfordert zwischen OP-Bereich und Ausgang hin und her und weiß nicht, für welche Richtung er sich entscheiden soll. Wieso muss er sich schon wieder entscheiden? Er kann das nicht, das hat ihm die Konsequenz der letzten sehr eindrücklich bewiesen. Er kann Jimin jetzt nicht einfach gehen lassen, aber hinterher kann er auch nicht. Was, wenn gerade dann der Arzt kommt? Das ist seine Mutter, verdammt!

Diesmal muss Yoongi die Entscheidung nicht selbst fällen. Sie wird ihm abgenommen in Form des Arztes, der auf ihn zukommt.

"Mr. Min, ich kann Ihnen leider noch nicht sagen, ob ihre Mutter es schafft. Wir haben zwar die Blutung im Kopf stoppen können, aber wir sind dabei auf einen großen Tumor im Frontallappenbereich gestoßen. Wir haben ihn erfolgreich entfernt, aber die Vitalwerte sind immer noch besorgniserregend. Wir mussten ihr jetzt starkes Sedativum verabreichen, sie schläft jetzt."

Yoongi versteht längst nicht alles, was er Arzt ihm sagt. Was er aber versteht, ist, dass seine Mutter immer noch kämpft und es immer noch nicht sicher ist, ob sie das überleben wird. "Kann ich zu ihr?", fragt Yoongi, weil er sich erhofft, sie wenigstens nochmal sehen zu können, egal wie es ausgeht. Der Arzt überlegt angestrengt, bevor er antwortet. "Eigentlich dürfte ich Sie nicht zu ihr lassen. Aber ich kann eine Ausnahme machen, wenn Sie sich an ein paar Regeln halten."

Yoongi nickt und folgt dem Arzt in den OP-Bereich. Er muss seine Wertsachen ablegen, sich mehrfach die Hände desinfizieren und OP-Kleidung anziehen, um möglichst keine Keime reinzutragen.

Das erste, was ihm auffällt, als er ins Zimmer seiner Mutter kommt, sind die vielen Schläuche überall. Das Piepen der unzähligen Geräte klingt wie eine Warnung. Es verstört ihn, auch wenn er weiß, dass sie notwendig sind. So gut es geht, blendet er sie aus und konzentriert sich nur aus seine Mutter. Sie liegt in einem dieser unbequemen Krankenhausbetten und sieht aus, als würde sie einfach friedlich schlafen.

Langsam geht er auf sie zu, setzt sich an ihr Bett. Seine Hände zittern. Er weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Er wünschte, Jimin wäre hier.

"H...hallo Mama... ich... ich bin's. Yoongi. Ich... bin leider alleine. Jimin... hat die ganze Zeit gewartet, aber... ich hab mich mit ihm gestritten. Er wäre sicher gerne hier, will ich damit sagen. Er macht sich auch Sorgen. So wie ich", stammelt er überfordert. Mit jedem weiteren Wort schnürt sich seine Kehle noch mehr zu. "Ich wollte dich nochmal sehen, falls... falls das nicht gut ausgeht. Nicht, dass ich mir das wünsche. Ich will nicht, dass du gehst. Die letzten Jahre waren anstrengend... und wir haben uns oft gezankt, aber... du bist meine Mama... und ich brauche dich."

Yoongi kriegt kaum mehr ein Wort raus. Sein Hals fühlt sich an, als würde ihn jemand würgen und die Luft abschnüren. "Mama...", bringt er krächzend hervor. Tränen bahnen sich ihren Weg über seine Wange. Er kann sie nicht mehr zurückhalten. "Mama, ich liebe dich... bitte kämpf weiter, ja?"

Yoongi erhält keine Antwort, natürlich nicht. Wenn er den Arzt richtig verstanden hat, haben sie sie extra so stark zugedröhnt, dass sie erstmal nicht aufwachen wird. Kurz hört er nur das gleichmäßige Piepen. Es ist noch viel fruchtbarer als das Ticken der Uhr. Er wischt sich die Tränen weg, schluckt ein paar Mal leer und versucht sich wieder zu fangen. Als seine Stimme ihm wieder halbwegs gehorcht, redet er wieder mit ihr. "Ich soll dich... übrigens ganz lieb grüßen. Von Jimin. Er hat überlegt, wie wir..."

Yoongi hält inne. Das Piepen wird schneller, oder bildet er sich das nur ein? Ist das gut? Oder schlecht?

"Mama?", fragt er angespannt. Plötzlich piepen die Geräte um ihn herum ganz laut. Es ist ein anderer Ton. Ein Alarm. Yoongis Herzschlag springt ebenfalls auf Alarm. Seine Mutter zuckt seltsam zusammen. Und wieder. Und auf einmal ist der ganze Raum voller Ärzte. Yoongi versteht nicht, was passiert. Er begreift nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ein Mann schiebt ihn zur Tür, schreit ihn an, dass er gehen soll. Dann eine Frau. Auf einmal hält er etwas in den Händen und dann ist plötzlich alles wieder ganz still. Er hört das Ticken der Uhr. Er ist wieder im Wartebereich.

Seit zwei Stunden sitzt er auf seinem Platz und wartet. Er ist alle möglichen Szenarien durchgegangen, und trotzdem hat er keine Ahnung, was passiert ist. Oder was gerade passiert. Keiner redet mit ihm, klärt ihn mal auf. Yoongi sitzt einfach einsam und verlassen auf dem furchtbaren Metallstuhl und starrt die Uhr an. Tick. Tack.

Wieder steht Yoongi auf und geht zum Kaffeeautomaten. Er will gar nicht wissen, wie viel Geld er da mittlerweile reingeworfen hat, wahrscheinlich reicht es fast für ein neues Paar Schuhe. Eigentlich braucht er nicht noch mehr Kaffee. Er ist nicht müde. Erschöpft, aufgekratzt, angespannt, aber definitiv nicht müde. Der Grund, warum er sich trotzdem einen Kaffee nach dem anderen zieht: Zeit totschlagen.

Mit dem neu befüllten Becher setzt er sich wieder auf seinen Platz und wartet. Das Knacken, das er kurz darauf hört, erschreckt ihn. Er schaut sich um und sieht, dass es die Tür war. Ein Arzt! Endlich!

Sofort springt er auf und rennt auf den Mann zu und hofft. Er hofft so sehr, doch der Blick des Arztes verheißt nichts Gutes. Er schaut Yoongi nicht an, weicht seinem Blick aus. Der letzte Funke Hoffnung kämpft in Yoongis Körper ums Überleben. Umsonst.

"Ich habe schlechte Nachrichten. Es tut mir sehr Leid, aber ihre Mutter hat es nicht geschafft."

Für Yoongi fühlt es sich an, als hätte ihm im selben Moment, in dem seine Hoffnung gestorben ist, jemand das Herz aus der Brust gerissen. Er spürt es nicht schlagen, er spürt gar nichts, außer Schmerz an derselben Stelle, an der sein Herz zuvor saß. Der Arzt redet anscheinend mit ihm. Sein Mund bewegt sich. Seine Gesichtszüge bewegen sich. Bei Yoongi kommt kein einziges Wort an. Er versteht nichts, nur, dass er hier weg muss.

Ohne ein Wort zu sagen, oder anderweitig irgendeine Form von Reaktion zu zeigen, geht er und sammelt seine Sachen sein.

Den noch vollen Kaffeebecher schmeißt er im Vorbeigehen in den überfüllten Mülleimer. Yoongi geht, ohne sich bei dem Arzt für seine Mühen zu bedanken. Oder sich zu verabschieden. Oder sonst was. Yoongi könnte nichts sagen, was der Situation entspricht. Für solche Momente gibt es keine passenden Worte. Es gibt nichts. Yoongis Kopf ist unnatürlich leer. Er hört nichts mehr, nur den Arzt der wieder und wieder sagt: Ihre Mutter hat es nicht geschafft.

Eigentlich dachte Yoongi, dass er total aufgebracht, sauer oder traurig wäre. Aber nichts dergleichen. Aber wie soll das gehen, so ohne Herz?

Ihre Mutter hat es nicht geschafft. Nichtgeschafft.  Nichtgeschafftnichtgeschafftnicht...

Sie hat es nicht geschafft. Sie ist fort. Jimin ist auch fort. Der einzige, der zurückbleibt, ist Yoongi. Das, wovor er sich am meisten fürchtet, ist eingetroffen. Er ist allein.

   

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