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Wenn du in ein Kaleidoskop siehst, öffnet sich das Tor zu neuen Welten.
Dieser Satz ist zu Yoongis unbestreitbaren Überzeugung geworden. Es ist der Slogan des Buchladens und steht unterhalb des Wortes Kaleidoskop auf dem Schild über dem Eingang geschrieben. Jeder in Seochon kennt diesen Ort. Er zählt zu dessen Inventar, genauso wie es zu Yoongis manifestierten Angewohnheiten gehört, sich auf den letzten Metern eine Zigarette anzustecken, die blaue Aufschrift zu mustern und in den Tiefen seiner Gedanken abzudriften.
Eigentlich weiß er, was der Inhaber des Buchladens damit aussagen will. Komm herein, such dir ein Buch aus und tauche in neue Welten ein. Yoongi hat trotz alledem seine eigene Interpretation dieser Worte.
In einem Kaleidoskop gleicht kein Bild dem anderen, und gerade, wenn du ergründest, in welcher Konstellation die Steine angeordnet sind, hat sie sich schon wieder geändert. Es sind kurzlebige Momentaufnahmen. Die kleinste Erschütterung verändert das Bild. Manchmal erkennst du Zusammenhänge zum Vorherigen, aber es gibt Erschütterungen, die sind so groß, dass an das vorangegangene Bild nichts mehr erinnert. Die Kurzweiligkeit dieser Konstellationen ist für Yoongi auch heute noch die reinste und klarste Metapher für das Leben, der er je begegnet ist. Jede Entscheidung, jede Begegnung sorgt für eine Veränderung. Du kannst es nicht festhalten. Die Erkenntnis, dass alles vergänglich ist, schmerzt und trotzdem ist es genau das, was es so reizvoll macht. Es würde deine Aufmerksamkeit nicht wecken, wenn du diese Bilder zu jedem Zeitpunkt rausholen und betrachten könntest. Es sind einmalige Chancen, und manchmal bestehen sie lediglich für Sekunden. Deswegen sollten auch die unscheinbarsten Momentaufnahmen wertgeschätzt und an einem sicheren Ort in deinem Herzen aufbewahrt werden.
Das ist es, was ihm der Buchladen Tag ein Tag aus entgegen brüllt und es ist immer wie ein Hohn. Jeden Tag trottet er an diesem Satz vorbei, um daran erinnert zu werden, wie wenig er erst begreift, so sehr er sich auch bemüht. Menschen sind schwer zu durchschauen. Das hat er früh erkannt, und bereits in jungen Jahren hat er eine Vorliebe dafür entwickelt, Gefühle, Situationen und Gedanken von Individuen zu hinterfragen und in jedes winzige Detail zu eruieren. Seitdem versucht er, zu ergründen, weshalb Personen entgegen ihrer eigentlichen Norm handeln. Von was werden sie geleitet? Welche Entscheidungen hat sie an diesen Punkt in ihrem Leben geführt? Welche Erschütterung hat dazu geführt, dass ein Mensch so handelt und nicht anders? Wäre er doch wenigstens so schlau, wie die Lehrer damals behauptet hatten, dann hätte er mit Sicherheit längst eine Lösung für seine aktuellen Probleme.
Aber die hat er nicht.
Er weiß nicht, wie er sich aus dieser missligen Lage befreien soll, wie lange er noch für seine Mutter da sein kann. Ihr Zustand verschlechtert sich beinahe täglich, und obwohl er alles daran setzt, die Krankheit zu begreifen, scheitert er. Er hat keine Ahnung, wie er ihr helfen kann. Er tut alles, was in seiner Macht steht, aber er versteht ja nicht einmal, was in seiner Mutter vorgeht, wenn sie plötzlich aus heiterem Himmel zu weinen anfängt oder um sich schlägt. Aber selbst, wenn er das hinkriegen würde, bleibt da immer noch die Frage, wie lange seine wenigen Ersparnisse noch reichen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Yoongi hat sich schon einige Gedanken gemacht, doch bis heute hat er keine Lösung für seine Probleme gefunden. Das Einzige, was er kann, ist vor dem Buchladen zu stehen und die Aufschrift zu mustern.
Seine Gedanken schweifen dabei jedes Mal zurück in seine Kindheit. Seine Mutter hatte ihm eines Tages, da muss er ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein, überaus stolz ein Geschenk überreicht und gemeint, es würde ihm neue Welten eröffnen. Yoongi hatte daran gezweifelt, ob es ein solches Spielzeug gab, doch kaum hatte er das unscheinbar wirkende Plastikrohr in der Hand, verstand er, was sie meinte. Er begriff, weshalb sie das wenige Geld, das sie zur Verfügung hatten, dafür geopfert hatte. Ein Kaleidoskop ist eben viel mehr als ein simples Spielzeug.
Seit jenem Tag hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Menschen und Situationen verstehen zu wollen, genau wie er als Kind das Kaleidoskop in all seinen Facetten begreifen wollte. Dass Yoongi ausgerechnet in einem Laden direkt neben der Buchhandlung arbeitet, mag ein Zufall sein. Vielleicht hat sein Unterbewusstsein ihm auch suggerieren wollen, dass es noch so vieles in seinem Leben gibt, dass er nicht begreift und er so lange daran erinnert werden sollte, bis er es gelernt hat. Er schafft es immer noch nicht, die Menschen in ihrer Ganzheitlichkeit zu begreifen. Sobald er in das Seelenkaleidoskop einer Person sieht und anfängt, dieses zu verstehen, hat es sich schon wieder verändert. Würde er es jemals schaffen, einen Menschen in seiner Ganzheitlichkeit analysieren zu können? Würde er sich selbst eines Tages vollständig begreifen können?
Yoongi schnippt seine Zigarette mit einer lässigen Bewegung auf die Straße, ehe er sie mit seinem schweren Lederstiefel ausdrückt. Er hat sich mal wieder seinen Gedanken hingegeben, ihnen Raum gegeben, um zu wachsen, und sich völlig darin verloren. Aber jetzt muss er der Realität ins Auge sehen. Es ist Dienstag Nachmittag. Viertel vor zwei, um genau zu sein. Seine Schicht beginnt um zwei Uhr. Wenn er nicht zu spät zur Arbeit kommen will, muss er jetzt die letzten Meter überwinden.
Die Türglocke erklingt, als Yoongi die Tür zum Shadow öffnet. Jedes Mal muss er schmunzeln, wenn er den von außen unscheinbaren Szeneladen betritt. Diese Glocke klingt typisch nach Seochon. Natürlich weiß er, dass seine Heimatstadt nicht die einzige ist, in der es Geschäfte mit solchen Türglöckchen gibt. Für ihn aber hört es sich vertraut an. Es klingt nach Heimat. Es erinnert ihn daran, wie er sich als Kind oft in den engen Gassen verlaufen hat. Er rekapituliert die unzähligen Tage seiner Jugend, in der er umher gewandert ist, stets auf der Suche, sich selbst zu finden. Nur gefunden hat er sich nicht, und vielleicht hat Yoongi sich mit seinen mittlerweile dreißig Jahren damit abgefunden, dass er es auch nie tun wird.
"Mann, Yoongi", erklingt die erleichterte Männerstimme seines Arbeitskollegen, "ich dachte schon, es wär was passiert. Bist ganz schön spät dran."
"Sorry." Mehr antwortet er nicht. Hoseok weiß, dass Yoongi nicht sehr gesprächig ist. Diese Tatsache hält ihn jedoch nicht davon ab, ihn vollzuquatschen, als wären sie jahrelange Freunde. Wäre Hoseok eine Maschine, dann würde Yoongi vermuten, dass bei ihm etwas falsch eingebaut wurde. Einige Dinge sind zu viel, andere fehlen dagegen gänzlich. Ein Verständnis für ausgewogene Nähe und Distanz zum Beispiel. Oder die Fähigkeit einzusehen, dass Yoongi sich wirklich nicht mit ihm anfreunden möchte, egal wie oft er ihn volllabert. Wenn er es richtig einschätzt, hat er Hoseok schon so einige Gründe geliefert, weshalb dieser sauer sein müsste. Aber auch da scheint das System Hoseok fehlerhaft konzipiert zu sein. Er kann nicht sauer sein. Das schlimmste, dass Yoongi bislang abgekommen hat, ist ein lautes Seufzen und darauffolgendes Schweigen gewesen. Was ist ins Hoseoks Leben anders vonstattengegangen, dass er alles so leicht hinnehmen kann? Oder ist in Yoongis Leben einfach nur zu viel schief gelaufen, wodurch ihm die natürliche Fähigkeit zu Verzeihen des anderen seltsam vorkommt?
"Schon okay", mildert Hoseok seine vorangegangene Aussage ab, "War heute auch zu spät. Ich hatte nur Sorge, dass irgendwas passiert ist."
Yoongi geht in den separaten Bereich hinter dem Verkaufsraum, der sowohl zum Büro, als auch Umkleide umfunktioniert wurde, während er seinem Kollegen mit einem Ohr zuhört. Seine Lederjacke wirft er desinteressiert über den Bürostuhl, und seine Wertsachen verstaut er in dem abschließbaren Fach im Schrank. Ganz automatisch tragen ihn seine Füße zu der alten Kaffeemaschine, die in der winzigen Ein-Schrank- Küche steht. Routiniert bereitet er zwei Tassen Kaffee zu und geht mit ihnen zurück in den Verkaufsraum.
"Was sollte mir denn großartig passieren?", fragt Yoongi, als er bei Hoseok ankommt. Er reicht ihm eine der beiden Tassen, woraufhin sich sein Arbeitskollege mit einem unscheinbaren Nicken bei ihm bedankt, im selben Moment jedoch wieder auf ihr Gesprächsthema eingeht.
"Hast du es nicht gehört?", antwortet er mit einer Gegenfrage.
"Da war heute ein großer Unfall auf der Hauptstraße. Haben da grade im Radio noch drüber berichtet. Eine Frau ist noch direkt an Ort und Stelle verstorben. Sie hatte nicht mal Schuld, aber trotzdem ist sie darin verwickelt worden. Am Krassesten finde ich ... Sie war nicht wirklich älter als wir. Da siehst du mal, wie schnell sowas geht."
"Sowas passiert. Gehört halt zum Leben dazu", erwidert Yoongi kalt, während er sich auf den freien Hocker hinter der Kasse niederlässt und Hoseok dabei zusieht, wie dieser die Schuhabteilung aufräumt. Er kann sich nicht richtig auf das Gespräch konzentrieren und denkt stattdessen darüber nach, dass er selbst auch mal wieder neue Schuhe gebrauchen könnte. Seine jetzigen trägt er schon seit zwei Jahren durchgehend, und sie werden keine weitere Saison überleben. An einer Stelle löst sich schon die Sohle, obwohl er mehrfach versucht hat, diese wieder zu kleben. Aber Fakt ist, Yoongi hat kein Geld für neue Schuhe. Und für die Markentreter, die Hoseok grade einsortiert, erst Recht nicht.
"Aber in dem Alter finde ich das schon heftig. Sie hatte bestimmt Familie und..."
Yoongi ist genervt. Nicht von dem Gespräch an sich, sondern von seiner allgemeinen Lebenssituation. Er erinnert sich nicht mehr daran, wann er das letzte Mal ohne Kopfschmerzen aufgewacht ist. Das muss mindestens so lange her sein, wie seine Schuhe alt sind. Außerdem gibt es genügend andere Dinge, die ihm Sorgen bereiten. Er hat einfach nicht die Kraft, in seiner aktuellen Lage auch noch Mitleid für Menschen aufzubringen, die er nicht einmal kennt. Aus dem Grund wird er auch viel schneller lauter, als er beabsichtigt. Das passiert ihm in letzter Zeit ständig.
"Es macht doch keinen Unterschied, ob die jetzt alt war oder jung! Tot ist tot."
Yoongis Schädel pocht. Sein Körper schreit bereits nach der nächsten Ladung Nikotin, aber das kann er sich genauso wenig leisten. Seine letzte Zigarette ist erst eine viertel Stunde her. Eine halbe Stunde muss er mindestens noch warten, wenn er heute mit seinen Zigaretten auskommen will.
"Wie einfühlsam du doch bist...", kommentiert Hoseok ironisch und verdreht dabei die Augen, "Hast du wirklich so gar kein Mitgefühl?"
"Nein", sagt Yoongi ehrlich. "Warum auch? Ich kannte die nicht und warum soll ich dann Mitleid vortäuschen, wenn's mir am Arsch vorbei geht?"
Sein Verlangen nach Nikotin, Koffein und einem Bett steigt mit jedem weiteren Satz, den sie miteinander reden. Eigentlich möchte er seinem Arbeitskollegen nicht schon wieder einen Grund geben, auf ihn sauer sein zu können. Er ist der Einzige, der es halbwegs gut mit ihm aushält. Das will er sich auf keinen Fall verbauen.
"Und wenn das jemand gewesen wäre, den du kennst? Was, wenn du morgen erfahren würdest, dass ich einen Unfall hatte? Oder mich umgebracht habe, so wie es dieser junge Mann vor ein paar Tagen gemacht hat? Ich glaube, er hieß Jeongguk, oder? War ziemlich heftig, die Medien haben über nichts anderes mehr berichtet. Sowas kann einem nicht egal sein, nicht mal dir."
Hoseok gibt sich wirklich Mühe, ihn zu überzeugen, das muss man ihm lassen. Leider ändert auch das nichts an der Tatsache, dass Yoongi nur schwer Mitleid empfinden kann, erst Recht nicht für Fremde.
"Was willst du jetzt hören, Hoseok?", knurrt Yoongi. Er beißt die Zähne so fest aufeinander, dass der andere eigentlich merken müsste, wie gereizt er gerade ist. Er müsste es an seinen geballten Fäusten erkennen oder wenigstens an der zu schnellen Atmung.
"Mal ehrlich. Unfälle passieren. Und wenn Menschen sich dazu entschließen, sich selbst umzubringen. Bitte. Ich werde sie nicht davon abhalten. Auch dich nicht."
"Aber du weißt doch gar nicht, was in so einem Menschen vorgeht. Du weißt nicht, was ihn antreibt. Die meisten haben echt einen langen Leidensweg hinter sich und..."
Richtig, Hoseok. Das ist ja das Problem. Yoongi weiß nicht, was in solchen Menschen vorgeht. Er versucht ja, es zu begreifen, aber er schafft es nicht. Er hat für sowas einfach kein Verständnis. Sein Leben liefert ihm genügend Gründe, um ebenfalls über einen Suizid nachzudenken, aber er hat es nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Natürlich nicht. Jeder weiß, dass das Leben grausam sein kann, und wer das nicht akzeptiert, ist selbst schuld.
"Hoseok, bei aller Liebe", unterbricht Yoongi seinen einzigen Freund, wenn man das, was sie verbindet, denn überhaupt als Freundschaft bezeichnen will. Yoongi hat genug. Er kann nicht mehr. Scheiß auf die halbe Stunde. Er braucht jetzt eine Kippe, denn sonst weiß er nicht, wo dieses Gespräch endet.
"Halt einfach die Klappe oder geh jemand anderes auf'n Sack."
Mit diesen Worten erhebt er sich von dem Hocker und flüchtet sich nach draußen, um seine angespannten Nerven mit dem Gift zu beruhigen.
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