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⊱ ────── ⋅♬ Chapter 4 ♬⋅ ───── ⊰
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Jimin blickt Yoongi an, als würde er ihm unter die Haut gehen wollen. Oder zumindest fühlt es sich für Yoongi so an. Nur, dass er niemanden unter seine Haut lassen möchte. Nicht einmal den honigsingenden Sänger seiner Seelenmelodie. Vielleicht auch besonders den nicht. Vor allen Dingen aus Angst davor, was er unter Yoongis Haut finden könnte. Wenn Yoongi ehrlich ist, möchte er das selbst nicht wissen.
“Woher… also wie…?”, würgt Yoongi hervor, weil er den Moment nicht länger unkommentiert lassen kann ohne wie ein Idiot dazustehen. Was erwidert man auf solch ein Heldengeständnis? Yoongi hat schon oft darüber nachgedacht, was er sagen soll, wenn er seinen musikalischen Helden gegenüber steht. Aber nie darüber, was er machen soll, wenn er selbst (vollkommen zu Unrecht) auf eine solche Empore erhoben wird. Und jetzt hat er den Schlamassel.
“Wie… w-wie hast du mich erkannt?”, stottert sich Yoongi zurecht. Von AgustD existieren keine Bilder. Nicht im Netz. Nicht auf Instagram. Nicht mal auf Yoongis eigenem Handy. Wie kann es also sein, dass Jimin ihn als sein Alter Ego erkannt hat?
“DEINE AUGEN!”, antwortet Jimin so überzeugt, als würde das ausreichen, um Yoongis Frage zu beantworten. Tut es aber nicht. Er hat wirklich keine Ahnung, wie er ihn an seinen Augen erkannt haben soll und sieht ihn mit hochgezogener Augenbraue fragend an.
"Ja also…. Das klingt jetzt vielleicht echt strange, aber ich hab mir das Cover von deinem ersten Mixtape halt sehr sehr, sehr, sehr oft angeguckt. Ich bin eigentlich nicht so creepy, wie es gerade wirkt! Ehrlich! Aber… Gott ey, ich weiß auch nicht. Dieser Blick war einfach so… WOW. Fesselnd. Weißt du, was ich meine? Ich hab mich dadurch irgendwie direkt mit dir… also mit AgustD… verbunden gefühlt. Dieser Blick ist aber auch soooo heftig! Und ich meine… es ist doch klar, dass ich diese Augen halt überall sofort wiedererkennen würde!”
Es sind nicht nur die Worte, die Yoongis Gedanken betäuben. Er wird geblendet von Jimins leuchtenden Wesen. Es fühlt sich warm an, wenn Jimin ihn ansieht und diese Wärme auf ihn übergeht. Er kennt dieses Gefühl nicht, er kennt es nicht, dass er sich in der Gegenwart eines anderen Menschen akzeptiert fühlt. Er kann damit umgehen, von anderen nicht wahrgenommen zu werden, als wäre er nur ein Schatten, der ungesehen durch Daegu treibt. Er existiert sonst nicht für seine Mitmenschen. Aber dass ausgerechnet Jimin, der Besitzer seiner honigfarbenden Seelenmelodie, ihn so ansieht, damit kommt er nicht klar. Es übersteigt nicht nur seine Sozialkompetenz, sondern auch seinen kühnsten Wunschvorstellungen.
“Okay, du hältst mich doch für ‘nen Freak, oder? Sorry, ich sag ja. Ich bin echt überfordert, dass…. OH MEIN GOTT!”, unterbricht Jimin sich selbst. Sein geschockter Blick schnellt zu seiner Hand. “DU HAST MEINE HAND GEHALTEN! Wenn Tae das erfährt, platzt er vor Neid! Ich muss es ihm unbedingt sofort erzählen, sobald ich Zuhause bin. Du hast doch nichts dagegen, oder? Also dass ich ihm das sage. Weißt du, er ist auch ein mega Fan, wobei… ich glaube, es gibt keinen größeren Fan als mich!"
Was zum…? Yoongi kann dem Gespräch nicht mehr folgen. Wer ist Tae? Und was findet er bitte an der Berührung ihrer Hände so bemerkenswert? Es sind schließlich immer noch dieselben, malträtierten Finger, die er dauernd zu verstecken versucht. Dass er sich gar nicht deswegen ekelt grenzt ja schon an ein Wunder. Aber Fan? Hat er keine Augen im Kopf? Vor ihm steht kein strahlender Held, sondern nur ein ungewaschener, vermutlich stinkender, Loser mit fettigen Haaren und blutigen Nagelbetten. Er hat es nicht verdient, so angesehen zu werden. In diesem Zustand ist er nicht AgustD, er würde gerade nicht mal als eine billige Raubkopie durchgehen.
“Äh… nein? Tu dir keinen Zwang an", antwortet Yoongi überfordert. Ob das ausreicht? Soll er noch was sagen? Fuck. Er wusste ja, dass ein Treffen mit dem Musiker nicht besonders gut verlaufen würde, aber das hier sprengt in so vielerlei Hinsicht den Rahmen, dass er gar nicht einschätzen kann, was nun das schlimmste ist. Vermutlich Jimins immer noch funkelnden Augen.
Jimin quietscht ähnlich laut, wie er es zuvor schon getan hat.
"Wirklich? OMG YESSS! Ich glaub’s echt nicht, aber du bist in real echt noch viel cooler, als ich mir immer vorgestellt habe!”
Das meint er nicht ernst, oder? Das war hundert pro ironisch gemeint.
“Ist das sehr unverschämt, wenn ich dich nach einem Autogramm frage? Ich… AH NEIN! Ich hab gar nichts dabei, wo du unterschreiben könntest. Das darf echt nicht wahr sein! Ich habe sonst IMMER was dabei, aber ich war grade auf dem Weg zu nem Freund, weil wir verabredet sind. Wir wollten ‘nen Kaffee zusammen trinken und… hast du vielleicht Lust, mitzukommen? Ich würde dich natürlich einladen. Also… du musst nicht. Du hast doch bestimmt keine Zeit, oder? Wie beschäftigt ist man as Idol so? Aber wenn, würd ich mich echt tierisch freuen. Also außer… du bist froh, wenn du mich gleich wieder los bist. Fans können nervig sein, oder? Tut mir echt leid, dass ich so anstrengend bin, aber ich kann’s einfach immer noch nicht glauben, dass ich dir persönlich gegenüber stehe.”
"Ich bin kein Idol. Also hab ich Zeit. Heute", und eigentlich immer, antwortet Yoongi, aber zumindest den letzten Teil nicht laut. Gleich darauf gratuliert er sich zu dieser Glanzleistung, diesmal nur ganz knapp an der absolute Blamage vorbeigeschrabbt zu sein.
"Du bist mein Idol”, widerspricht Jimin sofort und es sieht danach aus, als würde er wieder zu einer ausführlichen Erklärung seines Widerspruchs ansetzen, bevor auch die restlichen Worte von Yoongi den Weg zu seinem Kopf zu finden. Als sie ankommen, stoppt Jimin kurz, schaut verwundert und dann…
“ERNSTHAFT?", platzt es quietschend aus Jimin heraus, "Du willst Zeit mit mir verbringen?! Das ist der beste Tag meines Lebens! Ohne Scheiß. Dann lass uns am besten direkt in den Starb… Oh… warte.” Jimins Blick bleibt an den ausladenden Fensterfronten des Ladens hängen. “Das geht ja nicht. Also wegen Hobi und Jungkook.”
“Mhm”, entgegnet Yoongi bestätigend und hofft inständig, dass Jimin jetzt nicht von ihm einen Gegenvorschlag erwartet. Yoongi ist in etwa so einfallsreich wie eine weiße Wand in einer Zahnarztpraxis.
Das scheint den anderen nicht zu stören oder er scheint es nicht zu bemerken, zumindest taxiert Jimin ihn mit einem nachdenklichen und ernsten Blick. “Hast du heute noch was vor?”, tastet er sich vorsichtig voran. Ganz so, als wisse er nicht, wie weit er sein Glück ausreizen könne.
Ganz weit, denkt Yoongi, weil es ohnehin kein Glück ist ihn zu treffen. Er ist eher so der Typ Unglücksrabe aka Pechvogel.
“Ich glaub n-nicht?”, antwortet er stattdessen und es klingt wie eine Frage, weil er nicht mal weiß, wie viel Uhr sie gerade haben.
“Und würdest du vielleicht mit mir ein Stück gehen? Aus der Stadt rausfahren? Nur ein bisschen?” Bei dieser Frage packt Jimin anscheinend seine Geheimwaffe aus. Seine Augen werden ganz rund, kugelrund, ein Dackelblick. Seine ohnehin schon vollen Lippen verziehen sich zu einem gekünstelten Schmollen, aber nicht, weil es gestellt wirkt, sondern künstlerisch. Yoongi weiß gar nicht, wo er hingucken soll. In seinen Gedanken schlägt die Augen-Mund-Schmoll-Kombination ihn K.O.. Er könnte nicht mal ‘nein’ sagen, wenn er wüsste, wie das geht.
“Ich denke… schon”, antwortet er und hofft, dass er dabei einigermaßen lässig klingt. Wie klingt man überhaupt lässig?
“SUPER!”, ruft Jimin wieder aufrichtig begeistert und sieht aus, als hätte er den Jackpot gewonnen, obwohl auf seinen Los dick und fett NIETE steht. “Dann hab’ ich schon ‘ne Idee, wo wir stattdessen hingehen könnten. Da gibt es zwar keinen Kaffee, aber dafür gibt’s Musik zu finden, die andere verloren haben. Na, wie klingt das?”
Fucking unfassbar? Aber Yoongi kann echt nicht sagen, was er denkt, also antwortet er mal wieder stattdessen: “Okay” und fragt sich gleich darauf, ob er seine Seelenmelodie verloren hat. Und ob Jimin sie gefunden hat. Und welche Plätze so geheime Kräfte haben können.
“Okay”, wiederholt auch Jimin und der winzige Moment des Schmollmunds ist vorbei. Er ist schon längst wieder einem breiten Lächeln gewichten. Wie gebannt starrt Yoongi auf die vollen Lippen, die mit jeder weiteren Bewegung die Lichtpunkte zum Tanzen bringen. Was ist Yoongi nur für ein Freak? Er könnte sie stundenlang betrachten, jede noch so winzige Reflektion und Unebenheit abspeichern. Yoongi möchte einen Song über diese Kirschlippen schreiben, wenn er zu Hause ist.
“Ich bin mir ganz sicher, dass dir der Platz auch gefallen wird", ergänzt Jimin, als müsste er Yoongi noch von ihrem Vorhaben überzeugen. Dabei muss er das nicht. Seine Lippen hab das schon restlos für ihn erledigt (und die vielleicht verlorene Seelenmelodie natürlich auch).
Bevor Yoongi auch nur den Hauch einer Chance hat, etwas zu erwidern (nicht, dass ihm etwas Intelligentes dazu eingefallen wäre), zieht Jimin ihn hinter sich her. FUCK. Was passiert hier eigentlich gerade?
Yoongi kann sich kaum darauf konzentrieren, wo ihn der Straßenmusiker hinführt. Es geht zu schnell für ihn. Es fühlt sich an wie ein Film, den jemand vorgespult hat. Die Umgebung rauscht an ihm vorbei, obwohl sie in einem normalen Tempo laufen. Yoongi bemerkt kaum, wie sie zwischendurch stehenbleiben, ihm ein Kaffee in die Hand gedrückt wird, sie in eine U-Bahn steigen, wieder aussteigen und dann nochmal ein Stück weitergehen. Erst als Jimin direkt vor ihm zum stehen kommt und beide Arme weit ausbreitet, hören die Bilder auf, an Yoongi vorbeizuziehen.
"Das ist einer meiner Lieblingsplätze!", verkündet Jimin euphorisch, während er sich breit lächelnd um seine eigene Achse dreht. Das ist der Moment, indem sich Yoongi den Platz ansehen sollte, doch stattdessen zieht Jimin seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Wie kann ein einzelner Mensch nur so perfekt sein? Er fragt sich das nicht das erste Mal an diesem Abend und Yoongi ahnt schon, dass es auch nicht das letzte Mal sein wird.
"Kennst du ihn? Er heißt: “Platz der vergessenen Musik”. Oder zumindest nenne ich ihn so, weil hier heutzutage niemand mehr Musik macht. Wie findest du es? Du bist doch auch Musiker! Und da dachte ich, dass dir der Ort vielleicht gefällt. Klar, hier wurden damals eher klassische Stücke gespielt und ich weiß ja, dass du ganz andere Musik machst, aber egal. Es ist auf jeden Fall besser, als einfach in der Gegend rumzulaufen, oder? Außerdem liebe ich diesen Ort einfach. Es ist doch echt schön hier, oder?"
Jimins Worte animieren ihn dazu, sich endlich umzusehen. Er kennt den Ort, zumindest ist er sich ziemlich sicher, dass er schon mal hier war, aber er hat ihm nie wirklich Beachtung geschenkt. Sein Blick schweift über den Platz, der an einigen Stellen betoniert wurde. Er sieht halbkreisförmig angeordnete Sitzbänke aus Stein, auf denen sich über die Jahre hinweg das Moos ausgebreitet hat. Die überdachte Bühne hat ihre besten Jahre auf jeden Fall hinter sich. An einigen Stellen prangt unschönes Graffiti, an anderen hat sich Müll angesammelt. Sicherlich, weil ein paar Jugendliche sich hier schon mal zum Saufen treffen. Das wird wohl auch der einzige Verwendungszweck dieses Ortes sein, denn so wie es aussieht, ist hier seit Jahren kein Liveauftritt mehr gewesen. Vielleicht hat Yoongi den Platz deswegen nie mehr Beachtung geschenkt. Jimin scheint da anders zu sein. Seine Augen funkeln noch etwas mehr, seit sie hier angekommen sind und das breite Lachen will gar nicht mehr sein Gesicht verlassen. Er bildet so einen starken Kontrast zu der verwitterten Umgebung, dass es Yoongi fast schmerzt. Wie gerne würde er sagen, wie schön er Jimin findet. Aber das wäre zu früh, oder? Sie kennen sich doch überhaupt nicht.
"Wunderschön", antwortet Yoongi, der seine Gedanken schon immer eher weniger kontrollieren konnte. Scheiße. Und jetzt hat er das auch noch laut gesagt?
Jimin scheint es zum Glück nicht auf sich selbst zu beziehen, denn er nickt bestätigend und meint: "Ja, nicht wahr? Ich finde, das hat alles so seine ganz eigene Stimmung hier. Klar, hier finden zwar keine Auftritte mehr statt und es ist alles schon sehr alt und die Stadt scheint auch keine Lust mehr zu haben, hier noch was zu sanieren, aber ich lieb’s trotzdem. Ich bin schon froh, dass sie ihn nicht abgerissen oder abgesperrt haben. Das wäre echt schade.”
Wie kann er nur ernsthaft glauben, dass Yoongi von diesem Ort hier gesprochen hat? Ehrlich gesagt erschließt sich ihm nicht wirklich, was Jimin daran findet. Objektiv betrachtet ist er eigentlich ziemlich… hässlich. Dreck, Beton, Müll, Graffiti. Ein paar Bäume säumen die Szenerie. Aber aufgrund der kalten Jahreszeit haben sie alle ihre Blätter verloren und können nur mit kahlen Ästen glänzen. Sie wirken genauso tot wie der Rest des Platzes. Und trotzdem geht Jimin zu einer der Sitzbänke und streicht so andächtig darüber, als wären sie auf Hochglanz polierte Luxusmöbel. Yoongi weiß nicht, wie er reagieren soll, er steht unbeholfen in der Gegend und ringt mit sich, ob er Jimin folgen soll. Die Frage erübrigt sich, als Jimin sich auf einem der Steinbänke nahe der Bühne fallen lässt und Yoongi einen auffordernden Blick zuwirft.
Yoongi nickt stumm und setzt sich mit angemessenen Abstand neben den Straßenmusiker. Und irgendwie hat er das Gefühl, dass er jetzt an der Reihe ist etwas zu sagen. So viel hat er noch nicht zu ihrer Konversation beigesteuert und wenn er Jimin nicht noch mehr enttäuschen möchte, sollte er daran JETZT etwas ändern.
“Was genau magst du an diesem Ort?” Er schaut Jimin nicht an, sondern richtet sein Augenmerk auf die kleine Bühne vor ihnen. Jimin würde bestimmt großartig aussehen auf dieser Bühne. Er würde dem Ort wieder Leben einhauchen. Seine Honigstimme würde die Blumen schneller wachsen lassen, das Licht seiner Melodie würde unzählige Menschen an diesen Ort locken und die Wärme, die er ausstrahlt, würde seine Zuschauer selbst im eisigen Winter an den Frühling denken lassen und wärmen.
"Ich mag es, dass er so perfekt unperfekt ist”, antwortet Jimin ungewohnt knapp. Irritiert schaut Yoongi den jungen Mann neben sich an. Wieder verziehen sich dessen Lippen zu einem Schmollmund. Sein Ausdruck wird ernster, ohne dass sein Gesicht dabei an Perfektion verliert. “Es gibt mir ein gutes Gefühl, um es kurz zu fassen. Hier muss ich mich nicht für meine Macken schämen, sondern kann einfach Ich selber sein.”
Yoongi ist sich nicht sicher, ob sich Jimin der Ironie seiner Aussage bewusst ist. Wirklich. Er hat noch niemals einen Menschen gesehen, den er so perfekt findet. Mit der Porzellanhaut, den schön geschwungenen, großen Augen, den vollen, rosigen Lippen und der kleinen Nase. Jimin ist so schön wie eine Statue, die man gemeißelt hat, damit sie keinerlei Fehler aufweist. Und danach hat man ihr Leben eingehaucht. Jetzt wandelt er als Ebenbild unmenschlicher Schönheit durch die Welt und verzaubert jeden, der ihn auch nur einen Moment zu lange ansieht. Nicht, dass Yoongi sich danach fühlt, als würde er jemals noch einmal weggucken können. Er ist schon verzaubert.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwelche Macken hast", murmelt Yoongi leise vor sich hin. Es ist hoffentlich eine gesellschaftsfähige Version seiner verdrehten Gedanken.
"Oh, wenn du wüsstest. Ich hab sooooo viele Macken, dass ich gar nicht wüsste, wo ich anfangen sollte. Vielleicht dabei, dass ich viel zu viel rede, wenn ich aufgeregt bin? Und den Rest erzähl’ ich besser nicht, damit du nicht gleich wieder wegläufst. Aber was soll's. Man gewöhnt sich daran. Also zumindest haben sich meine Freunde daran gewöhnt. Und der Rest zählt ja eh nicht. Außerdem ist es langweilig, wenn Dinge perfekt sind. Gibts das überhaupt? Perfektion? Ich denke nämlich mal eher nicht. Wahrscheinlich haben wir alle so unsere Macken. Und irgendwie ist das doch beruhigend, oder nicht?”
“Ja… irgendwie schon”, stimmt Yoongi murmelnd zu, auch wenn er nicht ganz überzeugt ist von dem, was Jimin gesagt hat. Aber immerhin: Er mag Macken. Das ist wundervoll. Yoongi hat genug Macken, das Jimin jahrelang immer noch eine weitere entdecken könnte. Er fragt sich wirklich, ob Jimin eine gewisse Absicht in der Aussage versteckt. Vielleicht hat er seine desaströsen Nagelbetten gesehen und macht jetzt eine Anspielung darauf? Vielleicht bildet sich er sich aber auch nur wieder zu viel ein und interpretiert Dinge, die für sowas nicht vorgesehen sind. Das ist wesentlich wahrscheinlicher, wenn Yoongi genauer darüber nachdenkt. Um nicht aus versehen doch noch zu offenbaren, dass er absolut alles an Jimin perfekt findet, entscheidet er sich dafür, das Thema zu wechseln. Gleichzeitig tut er dadurch etwas, was er sonst nie tut. Er erzählt etwas von sich.
“Ich hab’ auch viele Macken”, gesteht Yoongi vorsichtig, ebenso noch nicht bereit das gesamte Ausmaß der Katastrophe, die sein Selbst darstellt, preiszugeben.
“Was du nicht sagst”, entgegnet Jimin und Yoongi kann nicht einschätzen, ob es ironisch oder ernst gemeint ist. War es vorhin also doch eine Anspielung?! “Erzähl’ mir was, das ich noch nicht weiß.” Jimin lässt es spielerisch klingen, aber Yoongi bringt seine Forderung trotzdem zum Schwitzen.
Ist das jetzt eine Herausforderung? Macht Jimin sich über ihn lustig und er bemerkt es nicht?
Yoongi beschließt, die Aussage einfach mal wörtlich zu nehmen und auf das Beste zu hoffen. Ist ja nicht so, als würden seine wahnsinnigen sozialen Interaktionskompetenzen ihm sonderlich viel Spielraum lassen.
"Du meintest vorhin, dass das hier gar nicht meine Musik ist…”, sagt er und muss sich räuspern, weil seine Stimme gar nicht daran gewöhnt ist, mehr als einen Satz am Stück zu sagen. “Also… weil hier ja nur klassische Konzerte gespielt wurden. Und.. nun ja. Eigentlich hab ich als Kind Klavier gespielt und hab’ dementsprechend eigentlich sogar mit klassischer Musik angefangen? Das sind praktisch meine Wurzeln, die mich überhaupt zum Musiker gemacht haben. Auch wenn man davon nichts mehr in den Mixtapes mitkriegt, ist das schon ein wichtiger Teil von mir."
Mein Klavier war meine erste Liebe, denkt Yoongi, aber wenn Jimin, wie er behauptet, wirklich so ein großer Fan von AgustD ist, weiß er das doch bestimmt schon, oder? First Love? Der Song ist doch eindeutig. Und er sollte doch etwas erzählen, dass Jimin noch nicht weiß.
Wie gerne würde Yoongi jetzt dranhängen und sagen, dass er kein Held ist, sondern nur noch lebt, weil die Musik ihn rettet. Aber er kann nicht. Er sollte nicht. Wie gruselig will er bei einem ersten Gespräch wirken? So gruselig dann hoffentlich doch bitte doch nicht.
"Was? Echt? Das ist ja krass!" Yoongi spürt einen leichten Schlag auf seiner Schulter und weiß im ersten Moment nichts damit anzufangen. Dann aber versteht er, dass Jimin sich nur wieder völlig in seine Erzählungen reinsteigert und der leichte Schlag nur eine Art Reflex war. "Dann haben wir ja was gemeinsam! Ich hab auch schon als Kind angefangen, Musik zu machen. Du musst wissen, ich komme aus 'ner Musikerfamilie. Es liegt uns praktisch im Blut, dass wir musikalisch sind. Ich beherrsche aber bis auf Gitarre nicht wirklich ein Instrument, so wie meine Eltern und Geschwister. Aber dafür kann ich viel besser singen als sie."
"Ich weiß. Ich hab’ dich gehört." Diesmal hat Yoongi nicht erst nachgedacht. Die Worte sind ihm einfach aus dem Mund gepurzelt, ohne sie noch rechtzeitig aufhalten zu können. “Also nicht, dass ich weiß, wie deine Familie klingt, aber du…” - Shit, wie rettet man sich jetzt noch, nachdem man schon den Anfang verkackt hat? - “...klangst ganz gut.”
Understatement des Jahres. Na super. Toll gerettet, Yoongi. Applaus, Applaus.
"Was - wirklich?? Wann? Wo?", fragt Jimin aufgeregt und rutscht dabei noch etwas näher an Yoongi heran, "Du hast mich echt spielen gehört? Wie fandest du es?"
"Neulich in der U-Bahn”, erklärt Yoongi ungenau. “Und… war…. gut? Du hast eine sehr schöne Stimme." Fast hätte er noch hinzugefügt, dass sie ihn an Honig erinnert, aber das kann Yoongi noch gerade eben verhindern.
"Wirklich? Oh mein Gott! Und das von dir! Du glaubst nicht, wie glücklich mich das grade macht. Ich meine, du bist sowas wie DER Superstar des Undergrounds. Du bist mein Vorbild. Dich überhaupt hier neben mir sitzen zu haben, fühlt sich an wie ein Traum, aber dann auch noch ein Kompliment bekommen. Das … gib mir nen Moment, ja? Da muss ich erstmal drauf klar kommen!" Jimin fasst sich an die Brust und untermalt dies mit einem theatralischen Seufzen. Es sieht so albern aus, aber höchstwahrscheinlich war das genau Jimins Absicht. Er muss über seine Reaktion selbst lachen. "Tut mir Leid, ich bin echt ne Labertasche, wenn ich nervös bin. Und du machst mich echt gaaanz schön nervös. Ich weiß nur nicht, wie ich das abstellen soll…”
Yoongi zuckt mit den Schultern. Er hat nichts dagegen, wenn Jimin redet. Er mag den Klang seiner Stimme. Er mag es, wie sich jede Gefühlsregung in seinem Gesicht widerspiegelt. Er hat wirklich nichts dagegen, wenn Jimin weitererzählt. Yoongi kann nicht besonders gut mit Worten umgehen, zumindest dann nicht, wenn sie als Verständigung zweier Menschen dienen. Aber zuhören… das kann er ganz gut.
“Du musst es nicht abstellen. Mich stört’s überhaupt nicht, wenn du redest.”
"Mich aber. Nachher fallen dir noch die Ohren ab. Außerdem… naja. Will ich heute ja außerdem auch ein bisschen was über dich erfahren.”
"Da gibt's nicht viel zu erzählen. Ich schreib Songs, veröffentliche sie und komm damit ganz gut über die Runden. Punkt. Mehr gibt's nicht", zählt Yoongi leise auf.
“Das kann unmöglich alles sein”, behauptet Jimin und beobachtet ihn mit aufmerksamen Augen und einem warmen Lächeln.
“Doch… schon?”, antwortet Yoongi, allerdings klingt es mehr nach einer Frage. Es sind zumindest die einzigen Sachen, die er einfach so raushauen kann, ohne wie ein Verrückter zu wirken. Er kann kaum darüber sprechen, dass er seit Jahren unter Depressionen leidet, die sich mittlerweile so manifestiert haben dürften, dass selbst eine Therapie ihm niemals ganz aus der Scheiße wird rausholen können. Dass er es manchmal nicht schafft aufzustehen. Dass er manchmal (viel zu oft) keine Kraft dafür hat, den Haushalt zu erledigen. Dass er keine Freunde hat, weil er nur rausgeht, wenn er es Zuhause nicht mehr aushält. Und weil er mit anderen Menschen kaum reden kann, weil er ständig Angst hat, etwas Falsches zu sagen.
Und genauso verschweigt er die Albtraum-Bestien, die ihn nahezu jede Nacht fast bei lebendigem Leib fressen wollen.
“Ach, komm schon”, lockt Jimin wie eine Sirene aus den alten Sagen, “irgendwas gibt es da bestimmt noch. Ich hab’ dir ja auch schon von einer Macke von mir erzählt… Du musst dich also für nichts schämen!”
Yoongi ist ein schwacher Mann. Also ist es kein Wunder, dass er dem Lockruf einer wunderschönen Sagengestalt nicht widerstehen. Also nimmt er seinen letzten Gedankengang, stopft ihn von seinem Kopf auf seine Zunge und spricht ihn schneller aus, als sich das Bereuen einstellen kann.
"Und ich hab oft Albträume", sagt Yoongi laut.
Fuck. Er ballt die Hände zur Faust und vergräbt seine Fingernägel ganz tief in der Handfläche. Wenn seine Nägel nicht ohnehin schon komplett ruiniert wären, würde der Schmerz ihn vielleicht sogar ablenken. Aber so spürt er nur einen viel zu leichten Druck, der ihn nicht mal annähernd das plötzlich auftretende Schamgefühl unterdrücken kann.
Warum hat er das nur gesagt?
"Oh Shit”, reagiert Jimin da auch schon sofort. “Das ist echt eine ätzende Macke. Wie furchtbar!! Kann man da nichts machen? Also ich meine, warst du deswegen mal beim Arzt?" Jimin ist in seinen Worten sogar schneller als Yoongi in seinem Fluchtreflex und seine Worte klingen so ehrlich bestürzt, dass sich Yoongi sogar traut den Blick zu heben. Natürlich begegnet er nicht der Ablehnung, die er in seinem Kopf vorausgesehen hat. Niemand verurteilt ihn so krass, wie er sich selbst. In Jimins Blick liegt nur aufrichtige Anteilnahme und Interesse. Seine Augen bitten stumm darum, dass der andere weitersprechen soll, wenn er denn möchte. Jimin wird zumindest da sein, um zuzuhören.
“Ich… war mal bei ‘nem Therapeuten", sagt Yoongi also und probiert erstmal aus, wie die Worte auf seiner Zunge schmecken. Nicht gut. Sie sind bitter. Wie seine Vergangenheit.
“Und?”
“War nicht erfolgreich. Meine Eltern haben mich hingeschleppt, ich bin hingegangen, der Therapeut war ein Idiot, der mich nicht verstanden hat, also hab ich mich geweigert, nochmal hinzugehen”, versucht Yoongi die Geschichte kurz und knapp zusammenzufassen. Er hat kein Bock darüber zu sprechen, dass er so ein hoffnungsloser Fall ist, dass nicht mal ein Therapeut ihm helfen kann. Tja. Aber was soll er auch machen? Im Internet steht überall, dass Depressionen nicht heilbar sind. Yoongi ist also nicht heilbar. Wofür die Mühe investieren, wenn sie sich doch nicht auszahlt?
"Ich würde dir gerne helfen, aber ich weiß nicht wie." Und wieder eine neue Regung in den Gesichtszügen seines perfekten Musikers. Er sieht traurig aus, seine Augen wirken stumpf und trüb, obwohl sie sich objektiv betrachtet natürlich nicht verändert haben. Yoongi will nicht, dass er traurig ist.
"Ich komm klar", versucht er ihn zu beruhigen. Jimin kann ja nicht wissen, wie oft er ihm schon geholfen hat. Er weiß nicht, dass seine Stimme in seinen Träumen dieses Lied singt und ihn vor den Bestien rettet. Yoongi versteht nicht, wie das überhaupt funktionieren kann, aber er möchte auch nicht zu viel darüber nachdenken. Was, wenn die Stimme dadurch nicht mehr auftaucht? Er hat den Song schließlich immer noch nicht niederschreiben können. Keine einzige Note seiner Seelenmelodie hat es aufs Papier gebracht. Yoongi würde sie so gerne für immer abspeichern und sie abspielen, sobald er sie benötigt. Er würde sich gerne selbst helfen können, aber davon ist er noch sehr weit entfernt. Er braucht die Honigstimme und das Leuchtturm-Licht.
“Mhm”, summt Jimin als Reaktion. Der Ton breitet sich über Yoongis Körper aus wie eine warme Decke. Es ist ganz offensichtlich, dass sein Gesprächspartner noch nach Worten sucht, um auf die offensichtliche Lüge zu reagieren.
“Niemand sollte mit Albträumen klarkommen müssen”, entgegnet Jimin schließlich diplomatisch und blickt ihn mit einem aufmunternden Lächeln direkt entgegen.
Es ist wieder einer dieser Momente, in denen Yoongi ganz offensichtlich wird, dass er echt nicht klar kommt. Dann er sieht weg und schweigt und wünscht sich, auch in solchen Situationen etwas mehr AgustD sein zu können. Der kann Dinge anpacken, regeln. Der wäre sicher nicht eingeschüchtert davon, wie schön der Junge neben ihm ist. Würde vielleicht den ein oder anderen lockeren Spruch bringen, mit Jimin flirten statt gruselige Horrorgeschichten zu erzählen.
Yoongis Finger zucken seit einigen Minuten unruhig und spielen mit der Zigarettenschachtel in seiner Tasche. Er möchte rauchen, aber er möchte auch Jimin mit dem Qualm nicht stören, wenn sie so nah nebeneinander sitzen.
“Singst du was für mich?”, entscheidet sich Jimin schließlich für einen Themenwechsel, als ihm klar wird, dass Yoongi auf seine letzte Aussage nichts mehr erwidern wird. Seine Kirschlippen sind immer noch zu einem hinreißenden Grinsen verzogen.
“Ich mein, du bist mein größter Held, ich bin dein Fan, da vorne ist eine kleine Bühne…. Der perfekte Moment für einen kleinen Auftritt, oder was meinst du?”
“AgustD tritt nicht auf”, verzieht Yoongi das Gesicht. Seine Knie sind so butterweich, dass er nicht mal aufstehen könnte, wenn Jimin ihn dabei stützen würde.
“Aber Yoongi tut es vielleicht?”, wagt sich der schöne Sänger weiter nach vorn. Seine Augen funkeln und blitzen und er stupst mit seiner Schulter sanft gegen Yoongis.
“Komm schon”, versucht er ihn zu ermutigen. “Das hier ist DIE Chance für mich dich mal live zu hören… Wann passiert das schon mal…”
“Ganz ehrlich”, setzt Yoongi seufzend an. “Ich glaub, du verpasst nicht sonderlich viel, wenn du mich nicht live hörst. Wird vermutlich eh nur ne weitere Enttäuschung für dich.”
Jimin reißt erschrocken die Augen auf.
“Eine weitere Enttäuschung? Wie meinst du das?”
Yoongi weist mit einer unwirschen Handbewegung auf sich selbst. “Nicht unbedingt das, was du von AgustD erwartest hast, oder?”, fragt er rhetorisch. Seine Mundwinkel umspielt ein bitteres Grinsen.
Wenn möglich, werden Jimins Augen nur noch ein Stück größer. Sein hinreißender Mund öffnet sich in Verblüffung und in Yoongi wird schon wieder irgendwas ganz weich. Er wäre so gerne anders. Ein bisschen nur. Ein klein wenig anders und ein klein bisschen weniger enttäuschend. Ist das zu viel verlangt?
“Willst du mich verarschen???”, fragt der Sänger nun ernsthaft pikiert. “Das ist der BESTE TAG meines Lebens! Wie kommst du darauf, dass ich enttäuscht sein könnte?”
Yoongi zuckt nur mit den Schultern. Anders gefragt: Wer wäre denn bitte nicht enttäuscht von ihm? Aber er hat keine Lust auf die Diskussion. Jimin soll ihn nicht auch noch für einen Jammerlappen halten.
Jetzt breitet sich doch das Schweigen zwischen ihnen aus, welches Yoongi eigentlich so unbedingt verhindern wollte. Niemand mag Schweigen. Hoffentlich stinkt er nicht ganz so furchtbar, wie er befürchtet. Seine Jacke und sein Shirt harmonieren nicht miteinander, oder? Er ist eine Enttäuschung. AgustD hätte das gesamte Aufeinandertreffen viel souveräner gemeistert. Warum existiert er nur in seinen eigenen vier Wänden und nie, wenn Yoongi ihn braucht?
Seine Gedankenspirale wird tiefer.
Er greift in seine Jackentasche und holt nun doch das Päckchen Zigaretten hervor, um sich endlich so einen verdammten Glimmstängel anzuzünden.
Jimin summt wieder neben ihm und scheint sich an dem Schweigen nicht weiter zu stören. Vielleicht genießt er einfach die Atmosphäre des Ortes. Warum kann Yoongi sowas nicht?
Er möchte etwas sagen, aber er weiß nicht was.
Die Melodie, die sein Sitznachbar da summt, kommt ihm bekannt vor.
“Und wie wär’s stattdessen mit einem Duett?”, schlägt Jimin versöhnlich vor. Seine Schulter lehnt immer noch an Yoongis. Seine Stimme vibriert bei seinem eigenen Vorschlag aufgeregt. Er wirkt ein bisschen wie ein kleines Kind an Weihnachten, welches seine Eltern davon überzeugen möchte, dass es seine Geschenke dieses Jahr schon früher auspacken darf.
Er ist süß. Er ist eine Sirene.
Und Yoongi ist verloren.
Jimin summt wieder.
Natürlich kennt Yoongi die Melodie.
Es ist sein eigener Song. AgustD’s Song.
Jimin beginnt:
“I wanna be rapstar…
I wanna be the top….
I wanna be a rockstar…
I want it all mine…”
Er unterbricht sich kurz selbst, um Yoongi zuzuflüstern: “Ich kann echt gar nicht rappen. Du musst gleich übernehmen, ja? Sonst wird’s richtig peinlich für mich. Lass mich bitte nicht hängen.”
Das Zwinkern in seinen Augen ist beinah zu viel für Yoongi. Jimin wirkt so glücklich, während AgustDs tiefe Rhymes von seinen Lippen perlen wie kostbare Juwelen. Jede Silbe ist für ihn von Bedeutung und Yoongi schließt die Augen.
Wenn er nichts mehr sieht, dann kann er sich vielleicht einreden, dass das hier nur wieder einer von seinen vielen Tagträumen ist.
“I wanna be rich…
I wanna be the king….
I wanna be me
I want a big thing
Oh boy, let me see, I got a big dream”
Yoongi lässt keinen Moment vergehen, bevor er selbst einsetzt. Wenn er jetzt zögert, dann wird er es nie tun. Wenn du zulange in den Abgrund blickst, dann springst du nie. Denk nicht immer so viel drüber nach. Manchmal ist es besser es einfach zu tun. Das zu tun, wovor du Angst hast.
Yoongi rappt diesmal selbst. AgustD ist nicht hier, um ihm zu helfen.
“Jeden Tag bin ich mit der Frage beschäftigt, wie weit ich wohl kommen werde.
Als mich schließlich die Erkenntnis traf, fand ich mich genau hier wieder.
Yeah, mhmm… Da sind Schatten zu meinen Füßen,
wenn ich nach unten schaue, dann werden sie nur noch größer.
Selbst wenn ich davor weglaufe, folgen sie mir.
Werden dunkler, je heller das Licht um mich herum wird.
Ich habe Angst.
So hoch zu fliegen ist furchteinflößend.
Niemand hat mir gesagt, dass es hier oben so einsam sein wird.
Ich kann in die Luft springen, aber ich werde abstürzen, ich weiß.
Weglaufen ist jetzt vielleicht meine beste Option…
Die Leute sagen, es ist glamourös in dem hellen Licht,
aber die wachsenden Schatten verschlingen mich und werden zu einem Monster.
Nach oben, oben und immer höher, höher
Ich steige immer höher und mir wird schwindelig
Ich steige auf, auf - ich hasse es.
ich bete, bete - ich hoffe, ich werde okay sein.”
Jimin jubelt so laut, dass es kein weiteres Publikum bedarf, um den kleinen Platz mit Leben zu füllen. Er klatscht wild in die Hände und stampft sogar mit den Füßen ein wenig auf dem Boden herum. Es erinnert Yoongi an die Rakete von früheren Kindergeburtstagen. Es ist so albern. Trotzdem färben sich seine Wangen verschämt rot und er fixiert die weit entfernten kahlen Kirschbäume mit seinem Blick. Er kann Jimin nicht ansehen. Erst recht nicht jetzt. Nicht jetzt, wo er sich selbst anfühlt wie ein kahler Kirschbaum. Es war schlecht, oder? Jimin applaudiert sicher nur aus Mitleid.
“WOW! Das war einfach… WOW!”, bricht er atemlos hervor.
“Ich mein, ich weiß, dass du gut bist. Ich hab mir deine Songs unzählige Male angehört, aber das… ALTER. JUNGE. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. MIND = BLOWN!”
“Hätte besser sein können”, murmelt Yoongi schüchtern vor sich hin. Die Komplimente kribbeln in seinem Inneren wie exotische Insekten. Sie sind eigentlich ganz hübsch, auch wenn er sie zuvor noch nie gesehen hat. Trotzdem weiß er nicht, ob sie vielleicht giftig sein könnten. Besser er hält Abstand von ihnen.
Jimins Kichern hallt über den Platz und lässt ihn noch lauter beben als sein Applaus.
“Ganz ehrlich, ich wüsste nicht WIE! Für mich war das absolut PERFEKT!”
“Du magst doch keine perfekten Dinge”, entgegnet Yoongi trocken.
“Für dich mache ich eine Ausnahme.”
Es ist das erste Mal in ihrem Gespräch, dass Yoongi selbst auch kichern muss. Jimin ist sich der Ironie seiner eigenen Worte ganz sicher nicht bewusst. Der perfekte Jimin, der keine perfekten Dinge mag, macht eine Ausnahme davon, um den unperfekten Yoongi perfekt zu finden. Wie abgedreht. Das Ganze macht echt gar keinen Sinn.
“Du siehst echt schön aus, wenn du lachst.”
Yoongi verschluckt sich an seinem eigenen Geräusch. Jimin lacht nur noch lauter und klopft ihm dabei aufmunternd auf den Rücken.
“Das war zu viel, oder?”, entschuldigt er sich. “Manchmal denk’ ich echt nicht genug drüber nach, bevor ich meine Klappe aufmache. Sorry. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.”
“Hast du nicht”, brummt Yoongi und muss sich räuspern, weil seine Stimme schon wieder bricht. Sie hat den vorherigen Hustenanfall noch nicht ganz überwunden. Gott, warum ist er nur so peinlich?? Aber Augen zu und durch. Am besten einfach so schnell wie möglich das Thema wechseln und so tun, als wäre nie was passiert.
“Darf ich mir jetzt auch etwas von dir wünschen?”, fragt er vorsichtig und fixiert seine Schuhspitzen, die unruhig über den Asphalt streichen. Seine Fingerkuppen graben sich wieder in seine Handflächen. Er sollte aufhören, daran rumzuknabbern. In solchen Momenten könnte er sie echt anderweitig gebrauchen.
“Klar!”, antwortet Jimin überschwänglich und mich leuchtenden Augen. “Was möchtest du denn?”
Yoongi druckst erst ein bisschen herum, bevor er sich schließlich doch überwinden kann, sein Anliegen endlich auszusprechen. Fuck it, jetzt sitzt er mit dem Macher seiner Seelenmelodie schon einmal hier. Noch offensichtlich kann ihm das Schicksal die Chance echt nicht in die Fresse stopfen. Jimin ist nicht der einzige, der die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen sehen will.
"Ich würd dich gern da auf der Bühne sehen und den Song nochmal hören, den du neulich in der U-Bahn-Station gesungen hast.”
“Mhhhh…”, macht Jimin übertrieben nachdenklich und lehnt sogar die Finger gegen sein Kinn. Er ist wirklich der König der exponierten Gesten. Nur, dass sie an ihm niemals gestelzt wirken, sondern ihn irgendwie nur noch liebenswerter machen. “Ein ganzes Lied?”, fragt er rückversichernd.
Yoongi nickt.
“Aber du hast nur ein paar Zeilen für mich gerappt.... Das erscheint mir irgendwie nicht so ganz fair… Ein ganzes Lied gegen ein paar kleine Zeilen… aber… Ich mache dir einen Vorschlag!", erwidert Jimin mit einem so hinreißenden Lächeln, dass Yoongi innerlich zustimmt, bevor er den Vorschlag überhaupt gehört hat. "Wenn in ein paar Wochen die Kirschblüten blühen, dann werde ich für dich ganz allein singen."
“Und was möchtest du als Gegenleistung?”, fragt Yoongi skeptisch und hebt dabei eine Augenbraue. In dieser Welt bekommt man nichts geschenkt. Warum sollte Jimin da anders sein? Und er hat ja bereits angedeutet, dass seine Rapdarbietung nicht ausgereicht hat. Natürlich hat sie das nicht. Yoongi hat nichts anderes von sich selbst erwartet.
“Ich will dir nur ein paar Leute vorstellen”, zuckt Jimin arglos mit den Schultern, aber sein Gesichtsausdruck verrät ihm, dass eigentlich viel mehr dahinter steckt.
“Was für Leute?”, fragt Yoongi deswegen argwöhnisch.
“Mhm”, summt Jimin wieder diesen speziellen Ton, der nach Honig schmeckt und sich deckenweich um Yoongis Körper schlingt. Ihm wird warm, wenn er das Geräusch hört. Es ist ein schönes Gefühl. Eigentlich reicht es aus, um ihn zu überzeugen. Trotzdem spricht sein Gegenüber weiter.
“Nur so ein paar Leute halt. Die… mh… auch mal Albträume hatten. Und die jetzt keine Albträume mehr haben. Und ich glaube, sie würden dir gerne dabei helfen, dass du auch deine Albträume überwinden kannst.”
Yoongis rechte Augenbraue hebt sich ohne sein Zutun.
Das Thema hatten sie doch schon lange abgeschlossen. Warum denkt Jimin immer noch daran?
“Und warum sollten sie das tun?” Die Skepsis in seiner Stimmlage ist noch nicht verschwunden. Eher noch ein bisschen größer geworden. Es gibt nicht viele gute Menschen auf diesem Planeten. Und bislang ist Yoongi noch weniger von ihnen begegnet.
“Weil du der Grund dafür bist, dass sie ihre Albträume besiegen konnten.”
“Mh?”
“Du hast sie gerettet, Yoongi. Deine Musik…. Sie bedeutet so viel mehr, als du jetzt vielleicht glaubst.”
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