⋇ 10 ⋇

⋇ Yoongi ⋇

"Und? Weißt du schon, wo du als erstes hinwillst?", fragt Jungkook gut gelaunt, als wir gerade dabei sind, das Klinikgelände zu verlassen.

"Nein, einfach irgendwo, wo keine Menschen sind", brumme ich leise. Ich muss ehrlich zugeben, dass es gut tut, dieses Gefängnis für einen Moment zu verlassen. Es fühlt sich an, als hätte man mich von den Ketten befreit, die vorher Tonnen schwer auf mir gelegen haben.

"Ich habe gehofft, dass du das sagst", lacht Jungkook, während er fröhlich gelaunt vorweg geht. Ich folge ihm, auch wenn ich nicht weiß, wohin uns unser Weg führen wird. Ich vertraue ihm, was das angeht. Er weiß selbst genau, dass es nie eine gute Idee ist, mich einer tosenden Menschenmasse auszusetzen.

Wir laufen ziemlich lange, doch ich habe immer noch keine Ahnung, wohin.

"Sag mal. Verrätst du mir, wo du hin willst?", grummel ich, weil mir die Beine von der ungewohnten Belastung schon weh tun. "Siehst du gleich", antwortet Jungkook darauf schlicht, doch sein Gesicht ziert ein breites Grinsen. "Was hast du ausgeheckt, Kooks?", stöhne ich genervt. Ich kenne diesen Blick und der bedeutet definitiv nichts gutes. Wehe, der hat jetzt irgendwas geplant.

"Wir sind da", höre ich meinen freudestrahlenden Kumpel, als wir an einem etwas runtergekommenen Gebäude ankommen. Es hat sicherlich einige Jahrzehnte auf dem Buckel, aber ich habe es noch nie gesehen oder könnte auf Anhieb sagen, um was es sich dabei handelt.

"Ich meinte doch, was ohne Menschen", meckere ich, weil ich mal denke, dass da einige Leute drin sein werden. Doch Jungkooks Grinsen wird nur noch breiter, als er mir verkündet, dass es hundertprozentig leer ist.

Aufgrund meines skeptischen Blickes, erklärt er mir, dass es sich dabei um ein leerstehendes Gebäude handelt, in dem Hobbymusiker üben können. Jungkook hat einen Raum extra für den heutigen Tag angemietet, weshalb auch kein anderer dort drin sein wird.

"Wieso kenne ich das nicht?"

"Weil es das offiziell nicht gibt. Aber der Freund von meinem Vater kennt..." "Jaja, schon gut. Ich hab es verstanden", unterbreche ich ihn, bevor er mir noch die ganze Familiengeschichte erzählt. Jungkook stammt aus einer Musikerfamilie, das hat er mal erwähnt, wobei ihm selbst das Singen immer eher gelegen hat, als das Spielen irgendwelcher Instrumente.

"Okay, ich geb's zu. Das ist echt krass", kommt es mir erstaunt über die Lippen, als wir das Gebäude betreten. Es ist riesig, die langen Flure beherbergen einige Türen, hinter der sich verschiedene Räume befinden, wie ich von Jungkook erfahre. Hinter einer befindet sich wohl sogar ein riesiger Saal, wo rein theoretisch sogar ein kleines Orchester proben könnte. Doch Jungkook führt uns immer weiter bis zum hintersten Raum.

"Warte ab, bis du das hier siehst", grinst er, während er den Schlüssel aus seiner Hosentasche rauskramt, um die Tür zu öffnen. Stolz präsentiert er mir den Raum, als wäre es sein Eigen.

Jungkook geht hinein, stellt sich so, dass er mir die Tür aufhalten kann, ehe ich rein gehe. Und in dem Moment bin ich mir ziemlich sicher, dass mir meine Augen einen Streich spielen.

"Das... ist nicht dein Ernst!", platzt es erschrocken aus mir heraus, während ich durch den Raum schreite und mich mit eigenen Augen davon überzeugen will, dass es sich dabei doch nicht um eine optische Täuschung handelt.

"Doch. Und du darfst gerne darauf spielen", sagt mein bester Freund erheitert. "Es ist alles geklärt, Yoongs. Tob dich aus."

Ich schlucke leer und spüre wie die Nervosität meine Finger zum Kribbeln bringt. Ich habe seit Jahren immer schon davon geträumt, eines Tages auf einem richtigen Yamaha Flügel spielen zu können. Bislang habe ich nie die Chance dazu gehabt und auch nicht damit gerechnet, diese Chance eines Tages zu bekommen.

Ich bin überwältigt.

Er ist einfach wunderschön und bevor ich mich überhaupt traue, mich auf die Bank davor zu setzen, muss ich einige Male um ihn herum gehen und betrachten. Ich kann nicht anders, als meine zittrige Finger über das lackierte Holz gleiten zu lassen und das reine Weiß genauer zu betrachten. Das erste Mal seit Jahren spüre ich etwas anderes als Selbsthass, Angst oder Panik.

Und diese Emotionen brechen gerade so stark über mich herein, dass ich nicht mehr imstande bin, die Tränen zurück zu halten, sie sich ihren Weg über mein Gesicht bahnen.

Erst viele Minuten später traue ich mich, mich an die Klaviatur des Flügels zu setzen und andächtig meine Finger auf diese zu legen. Vorsichtig drücke ich die erste Taste herunter und alleine das reicht schon, um mich von dem wunderschönen Klang zu überzeugen.

Und als wäre dadurch das Eis gebrochen, fange ich an, darauf zu spielen. In meinem Kopf herrscht eine Stille, die ich in der Form schon lange nicht mehr erleben durfte.
Ich kriege gar nicht mehr bewusst mit, dass ich hier sitze und spiele, sondern lasse mich einfach treiben.

Jungkook, und auch alles andere um mich herum, vergesse ich dabei völlig, um ehrlich zu sein. Doch es scheint ihn nicht zu stören, denn als ich das Lied beende und zu ihm sehe, erkenne ich sein glückliches Lächeln.

"Ich hoffe, das war ne schöne Überraschung", sagt er, woraufhin ich jedoch nur nicken kann. Ich rutsche etwas zur Seite, um Jungkook genug Platz zu bieten, sich neben mich zu setzen.

Es ist das erste Mal, dass diese Einladung auf körperlich Nähe von mir aus geht, weshalb Jungkook auch erstmal ziemlich irritiert ist. Doch es dauert nicht lange, das setzt er sich ebenfalls auf die Klavierbank.

Erstaunlicherweise macht mir seine Nähe grade nichts aus, ich würde sogar sagen, dass es sich ganz gut anfühlt.

"Das ist meine Art zu sagen, dass ich wirklich stolz auf dich bin", beginnt mein bester Freund, wobei mir das Wort Freund das erste Mal nicht völlig falsch vorkommt, doch er stoppt, als er mein gespieltes Lachen hört.

"Stolz? Worauf das denn bitte?", frage ich, weil es sich in meinen Ohren trotzdem einfach falsch anhört, dass Jungkook wirklich so etwas wie Stolz empfinden kann. Nicht bei so einem hoffnungslosen Fall, wie mir.

"Bin ich aber. Dr. Kim hat mir erzählt, dass du wirklich Fortschritte machst. Und er meinte, dass Taehyung dir gut tut und er glaubt, dass ihr euch langsam anfreundet. Das ist doch was, worauf man stolz sein kann. Yoongi, ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Oder was meinst du?"

Ich seufze nachdenklich, während mein Blick an den Tasten des Flügels haftet.

"Nein. Du weißt selbst, dass ich nicht der Typ bin, der unbedingt Freunde haben will. Und Taehyung schon mal gar nicht. Er redet ununterbrochen, erzählt mir irgendwas über seine Gefühle, über diesen Jimin oder schaut mich mit diesem elendigen Hundeblick an. Ehrlich, ich bin einfach froh, wenn er wieder weg ist."

"Ach Yoongi", lacht Jungkook daraufhin. Ich habe mit vielen gerechnet, aber nicht damit, dass er einfach lacht und mir diesen vielsagenden Blick zuwirft.

"Was soll der Blick?"

"Ach nichts", erwidert Jungkook, ohne dass sein Blick sich groß verändert. "Ich denke nur, dass du Taehyung ziemlich gerne magst. Auch wenn du es leugnest."

Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich gehen mir Dr. Kims Worte wieder durch den Kopf, dass ich irgendwann einsehen werde, was Jungkook alles für mich tut. Und es stimmt schon irgendwie. Ein weitere emotionale Premiere erschüttert mich, als ich wirklich sowas wie Dankbarkeit empfinde.

Und dann geht mir noch etwas durch den Kopf.

"Du Jungkook, ich hab da mal 'ne Frage", beginne mich und warte Jungkooks Reaktion ab. "Und die wäre?"

"Hast du irgendwas mit dem Piano zu tun, dass neuerdings im Musikzimmer steht?"

Ich war ja schon öfters in der Klinik, aber ich habe früher nie ein Piano gesehen und das ist etwas, was mir direkt aufgefallen wäre. Und die Andeutung von Dr. Kim, dass ich Jungkook so einiges zu verdanken habe. Ich glaube kaum, dass er damit die Schmutzwäsche oder die regelmäßige Zigarettenlieferung meint, sondern noch etwas anderses hinter seiner Aussage steckt. Zumal ich weiß, dass die beiden viel in Kontakt sind und sich mein behandelnder Arzt oft schon Tipps von meinem Freund geholt hat, um besseren Zugang zu mir zu bekommen.

"Wie kommst du darauf?", stellte er die Gegenfrage, woraufhin ich nur genervt die Augen verdrehe. "Hast du, oder nicht?", wiederhole ich knapp. Jungkook seufzt, zuckt kurz mir den Schultern, ehe er antwortet: "Möglich. Kann sein, dass Dr. Kim mich gefragt hat, ob es etwas in deinem Leben gibt, wofür du wirklich Interesse hast."

"Also doch", gebe ich darauf nur knapp von mir, ehe ich erneut auf dem Flügel zu spielen beginne. Mein Sitznachbar lauscht mit geschlossenen Augen der Melodie, die den Raum erfüllt und für eine ganze Zeit lang schweigen wir einfach.

"Wir müssen langsam mal wieder...", sagt Jungkook, machdem wir beinahe drei Stunden noch an dem Flügel gesessen haben. Ich nickt traurig, weil ich am liebsten noch Stundenlang hier sitzen bleiben möchte. Doch ich weiß auch, dass die Ausgangsregeln sehr streng sind und ein Zuspätkommen nicht gerne gesehen wird.

"Jungkook?", durchbreche ich die Stille, als er bereits dabei ist, aufzustehen. Ich streiche ein letztes Mal über den weißen Lack, ehe ich mich, auf der Klavierbank sitzen bleibend, zu ihm umdrehe. "Danke."

Augenblicklich dreht auch er sich wieder zu mir um und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.
"Hast du... dich grade ernsthaft bei mir bedankt?", fragt er entsetzt, was mir ein schiefes Lächeln entlockt.

Ich denke, es wird an der Zeit, dass ich mich mal bei Jungkook dafür bedanke, was er immer alles für mich tut.
Dass er mich nicht aufgibt und all die Jahre immer treu an meiner Seite verweilt ist.

Ich erhebe mich schließlich ebenfalls, gehe auf Jungkook zu und baue mich mit eingehendem Blick vor ihm auf. Ich kann sehen, wie sich durch seine Skepsis einige Falten auf der Stirn bilden, doch als ich ihn im nächsten Moment in die Arme ziehe, verschwinden sie wieder und weichen einem gerührten Lächeln.

"Für alles", füge ich hinzu und drücke Jungkook an mich.

Es fühlt sich komisch an, einem Menschen wieder so nah zu sein und dennoch nicht dieses beklemmende Gefühl zu verspüren, doch ich geniesse es einfach einen Moment lang.

"Wir wollten gehen", sage ich in meiner Überforderung, als ich mich von ihm löse, den Raum durchquere, um wieder zurück zum Ausgang zu gelangen, und ihn einfach stehen lasse, als sei nie etwas gewesen.

Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er noch einige Zeit irritiert dort stehen bleibt, ehe er mit schnellen Schritten wieder zu mir aufholt, um den Rückweg zur Klinik zu beschreiten.

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Weil Ostern ist ♡

1729 W

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