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„Mama, guck mal!"

Mit seinen gerade mal sechs Jahren bewies der junge Spross der Familie ein außerordentliches Vermögen für Gleichsetzungen aller Art. Seiner Mutter war schon oft aufgefallen, wie genau ihr Sohn alles beobachtete, sich Gedanken um deren Bedeutung machte und wie reif er manchmal für sein Alter wirkte.

„Ich glaub, ich mag die Blauen am liebsten", rief er aus. Völlig belangslos schien diese Aussage, sodass seine Mutter kurzzeitig dachte, etwas von seiner schlichten kindlichen Begeisterung erleben zu dürfen. Die Enttäuschung darüber folgte schon im nächsten Satz ihres Sprösslings, als sie sich neben ihn an den Wegesrand des Hauseinganges hockte und mit ähnlicher Begeisterung auf die zarten blauen Blüten der Myosotis, besser bekannt unter dem Namen Vergissmeinnicht, blickte. Wie jedes Jahr brach der Frühling mit einer Gewalt aus dem Boden hervor, für die sie nichts als aufrichtige Bewunderung emfinden konnte.

Dem Frühling war es egal, wie bitterlich kalt und wie erbamunglos der Winter gewesen war. Jedes Jahr schaffte es die Erde, aus dem erst verdörrten und dann verfrorenen Boden, neues Leben entstehen zu lassen und fast glaubte sie, von ihrem Sohn nun genau die selbe Feststellung zu hören zu bekommen. Doch Yoongi war indessen schon ganz woanders mit seinen Gedanken.

„Blau ist meine Lieblingsfarbe. Wie das Wasser. Und ich mag Wasser. Es bleibt nicht stehen. Es ist immer in Bewegung", fügte er hinzu und seine Mutter allein verstand sofort, was er damit sagen wollte. Yoongi war ein schlaues Kind, eines, das viel nachdachte, manchmal gar abwesend wirkte, dabei analysierte er seine Umgebung, das Verhalten seiner Mitmenschen und manchmal übte er sich in Selbstreflexion. Nicht, dass er dies bewusst getan hatte, es war ihm einfach immer schon vergönnt gewesen, über die Dinge hinaus zu denken und ihnen eine tiefere Bedeutung zuzuschreiben.

„Aber Wasser ist doch eigentlich durchsichtig, mein Schatz", konterte sie, weil sie wusste, dass sie ihrem Sohn mit solch simplen Worten zum Nachdenken bringen konnte. Sie liebte ihren Sohn aus vollem Herzen und wusste, dass er diese Art benötigte, um sich selbst entwickeln zu können und neue Denkanstöße zu kriegen.

„Aber Mama! Das weiß ich doch. Aber trotzdem ist Wasser für alle immer blau", formulierte er, immer noch in der Hocke verbleibend und auf die Blüten starrend. Seinen schmollenden Blick hatte er nur einmal kurz auf seine Mutter gerichtet, doch ihr Gesicht war ihm mehr als bekannt, daher wendete er sich wieder ab.

Yoongi mochte alles, was neu war. Was unbekannt war. Alles, was sein Denken anregte und diese zarten blauen Blüten ließen seine Synapsen mit einer erstaunlichen Verarbeitungsgeschwindigkeit arbeiten.

„Du bist so ein schlaues Kind, weißt du das?", witzelte die Mutter, stützte sich mit der offenen Handfläche auf ihrem Knie ab, um sich wieder aufzurichten und nur wenige Sekunden später ihrem geliebten Sohn über die zotteligen Haare zu wuscheln.

Yoongi beschwerte sich. Er mochte es nicht, wenn er so von seiner Mutter behandelt wurde, so als wäre er ein Kleinkind. Dabei war er so stolz, endlich sechs Jahre alt zu sein, das war fast sieben und das war fast zehn. Und zehn war fast erwachsen.

Und Yoongi war eben ein Kind, dass auf das Erwachsensein hinfieberte, vor allem, weil er sich oft darüber ärgerte, dass seine unausgereiften Synapsen eben noch nicht alles so erfassen konnten, wie er wollte, dass er teilweise nicht die richtigen Worte fand, um seine Feststellungen anderen mitteilen zu können.

„Ich geh schon mal rein. Bleib noch ein bisschen draußen, wenn du möchtest", lächelte die, mit mütterlicher Fürsorge ausgestattete, Frau, ehe sie endlich die wenigen Schritte bis zur Haustür nahm, um ins Haus zu gelangen und ihrem Mann bei den letzten Renovierungsarbeiten mit anpacken zu können.

Sie hatten das Haus noch nicht lange angemietet und obwohl sie jede freie Minute in die Renovierung steckten, blieben einige Dinge einfach liegen.
Sie wusste, dass sie ihrem Sohn vertrauen konnte, hatte keine Sorge, dass er etwas Unvernünftiges allein draußen tun würde, weil er seinem Alter eben schon in manchen Punkten vorraus war.

Aufrichtige Mutterliebe zeichnete sich in ihrem Lächeln ab, während sie aus ihrer fast winzigen, beigen Handtasche den Schlüssel gekonnt hervor zog.

„Ich ruf dich, wenn es Abendessen gibt, okay?"

„Jaaaa, Mama...", kam es fast schon genervt von dem Jungen, da seine Mutter diesen Satz schon viel zu oft gesagt hatte und er es wenig interessant fand. Er kannte die Regeln, befolgte sie, weil er sich durchaus bewusst war, welche Konsequenzen ein Nichtbefolgen nach sich ziehen würde. Außerdem war er gerade in seinen Gedanken vertieft. Er spürte, wie sein Kopf sich beinahe überschlug, nach dem er die Argumentation bezüglich der Wasserfarbe gehört hatte.

Wasser war durchsichtig, das wusste er schon lange. Wieso also war Wasser immer wieder mit der Farbe Blau assoziiert?

Und weshalb faszinerten ihn weder das grüne Gras, noch die leuchtend gelben Narzissen, sondern einzig und allein diese kleinen, blauen Blüten der Vergissmeinnicht? Sie übten geradezu eine magische Anziehungskraft auf ihn aus, von der er sich nicht entziehen konnte.

Wieso Blau?

Yoongi saß eine ganze Weile am Wegesrand, während er sich wieder und wieder diese Frage stellte. Der Duft seiner Mutter, oder vielmehr ihres floralen Parfüms mit dezenter Vanillenote, der Blumen und des frisch gewachsenen Grases stiegen in seine Nase und obwohl er noch so jung war, wusste er, dass er sich an diese Gerüche für immer erinnern würde und sie einen bleibenden Eindruck hinerlassen würden.

Er wollte gerade eine der Blüten abpflücken, um sie erst zu trocken und dann in sein Erinnerungsalbum zu kleben, dass er mühevoll mit seiner Mutter gebastelt hatte, als ihm ein weiterer Geruch in die Nase stieg.

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