Kapitel 6

Pierre

Nach einem nervenzerrenden Training und einem jammernden Charles, mache ich mich endlich auf den Heimweg. Ein Blick auf mein Handy sagt mir 2 Dinge: Erstens habe ich keinen Akku mehr und zweitens ist es schon wieder Nachmittag.


Der letzte Tag hat mich verwirrt. Irgendetwas hat sich verändert. Ich fühle keine Trauer mehr, wenn ich verliebte Pärchen sehe. Und warum hat es sich so gut angefühlt, mit Max zu reden? Eigentlich ist er ja Mitschuld an meiner Trennung.

Doch es hat ihm leidgetan. Das hat man gemerkt. So reuevoll, wie er mit mir geredet hat.

 Irgendwie als würde er sich Sorgen um mich machen.


Plötzlich reißt mich die Stimme der U-Bahn Ansage aus meinen Gedanken. Fast hätte ich meine Station verpasst. Schnell springe ich aus dem Waggon und laufe die Treppen wieder nach oben. Kleine Schneeflocken fallen auf meinen schwarzen Mantel.

Es hat wieder begonnen zu schneien und es wird auch schon wieder dunkler. Ich liebe den Winter. Hierher zu ziehen, war definitiv die richtige Entscheidung. Die fallenden Flocken machen mich immer ganz ruhig.


Mit leisem knirschen trete ich auf den Weg vor meinem Wohnhauskomplex. Das Geräusch erinnert mich daran, wie die Kufen von Eislaufschuhen auf dem Eis klingen. 

Etwas länger als normal bleibe ich vor dem Hochhaus stehen und genieße die leichte kalte Windbrise auf meinem Gesicht.


Zufrieden mit dem Tag lasse ich mich in meiner Wohnung auf meiner Couch fallen. Leise knurrt mein Magen vor sich hin. 

Seit langem verspüre ich wieder einmal das Gefühl von Hunger. Seit der Trennung habe ich nicht wirklich Appetit gehabt. Doch heute schon.


„Heute ist ein guter Tag", schallen mir die Worte von Charles in den Kopf und diese lassen mich sofort lächeln. Charles ist einfach der beste Freund den man sich vorstellen kann. Immer ist er für mich da und hilft mir auch an schlechten Tagen.


Immer noch mit knurrendem Magen stehe ich auf und gehe in meine Küche. Habe ich überhaupt irgendwann einmal hier gekocht? Mit diesen Gedanken öffne ich den Kühlschrank.

„Nein, hast du noch nie", schreit mir mein Unterbewusstsein die Antwort auf meine Frage zu, als ich den leeren Kühlschrank betrachte. Bis jetzt hat mich Charles immer versorgt, oder ich habe in der Eishalle gegessen.

Etwas frustriet und immer noch hungrig stapfe ich wieder in mein Wohnzimmer. Soll ich Charles anrufen, ober mir etwas zu essen bringt, oder soll ich einfach bis morgen hungern?


Doch weiter kommen meine Gedanken nicht, denn plötzlich klopft es an der Tür. Wer ist das wohl? Eigentlich kann es ja nur Charles sein, oder? Wer sonst würde mich aufsuchen?


„Hi, Pierre"


„Max", begrüße ich den Niederländer überrascht. „Was führt dich zu mir?", frage ich im gleichen Atemzug. Etwas nervös spielt Max mit dem Saum seiner Jacke und blickt mich dann wieder an.

„Ich wollte dich fragen, ob du mit mir vielleicht irgendetwas unternehmen möchtest? Irgendwie Eislaufen am Roten Platz oder so?", stellt er mir ganz nervös seine Frage. Kurz blicke ihn verwirrt an.


„Du musst nicht, wenn du nicht willst", meint Max. Seine Stimme ist nur ein Hauch und er möchte sich schon wieder zum gehen umdrehen, doch ich reagiere schneller.

„Ja, gerne. Ich hole nur schnell meine Eislaufschuhe. Aber können wir auch was zu Essen holen? Ich habe total Hunger", stimme ich seiner Idee erfreut zu. Sofort erhellt sich Max' Miene und er lächelt mich an.

„Mach dir keinen Stress. Wir haben alle Zeit der Welt", lacht er. „Nein, weil wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, dann bin ich bald nicht mehr auf dieser Welt", witzle ich und fange an zu lachen.


Ein echtes, herzhaftes Lachen. Wie lange habe ich schon nicht mehr so schön gelacht? Es ist viel zu lange her.


„Dein Lachen ist wunderschön", komplementiert Max mich. Sofort werden meine Wangen rot und mein Gelächter leise. „Danke", flüstere ich leise, in dem Wissen, dass es Max wahrscheinlich nicht gehört hat.


„Ich müsste noch duschen gehen. Ich bin gerade vom Training heimgekommen", gebe ich zu, als ich mir einen Pulli überziehen möchte. „Bitte mach dir keinen Stress. Wie gesagt, wir haben alle Zeit der Welt", meint Max.

Erst jetzt merke ich, dass wir immer noch bei der Tür stehen. „Komm doch rein", bitte ich ihn herein und stocke dann doch in meiner Bewegung. 

„Ich habe nicht aufgeräumt", gebe ich leise zu. „Macht nichts. Ich räume auch nicht ständig auf", versucht mich Max zu beruhigen.


Doch wenn er wüsste warum es bei mir so unordentlich ist, würde er wohl sagen, dass es kompletter Schwachsinn ist, so in die Traurigkeit einer Trennung zu verfallen. 

Er geht aber nur lächelnd in mir vorbei in mein Wohnzimmer und nimmt auf meiner Couch platz.


So schnell es geht dusche ich und mache mich frisch. So leicht ist mir das seit Wochen nicht mehr gefallen. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit bin ich wieder einmal richtig entspannt, wenn ich in den Spiegel schaue.


„Das wollte ich dir schon letztens sagen, der Mantel passt dir total gut", meint Max, als ich fertig gemacht vor ihm stehe. So wie schon beim letzten Kompliment rast mir ein rot in meine Wangen und ich nicke ihm dankend zu.


„Wollen wir?", fragt mich Max mit einem Lächeln auf den Lippen und hält mir seine Hand hin. Etwas verwirrt blicke ich diese zuerst an, doch dann ergreife ich sie mit meiner freien Hand. 

„Und was zu essen finden wir sicher auch", lacht Max, als er meinen Magen knurren hört.


Lachend treten wir zusammen aus dem Wohnhauskomplex und wieder fallen kleine Schneeflocken auf uns. 

„Ich habe nie gewusst, dass Winter so wunderschön sein kann", flüstert Max in die Dunkelheit. Vorsichtig ziehe ich Max an seiner Hand weiter in Richtung der U-Bahn Station.


Neben dem großen blauen M steigen wir die Treppen hinunter zum Bahnsteig. Immer wieder einmal wirft Max einen Blick auf mich, so als ob er prüfen wollte, dass es mir eh gut geht.


Die U-Bahn fahrt verläuft ziemlich ruhig, bis die männliche Stimme der U-Bahn Ansage diese unterbricht. „Красное место", schallt durch den kleinen unterirdischen Zug. 

„Da müssen wir raus", unterbreche ich als erster von uns beiden die Stille und ziehe Max aus dem Waggon heraus.


Sofort strömt uns die kalte Abendluft wieder ins Gesicht. „Man bin ich froh, dass du hier bist. Das letzte Mal, als ich hierher gefahren bin, bin ich nur zufällig hier ausgestiegen und habe gehofft, richtig ausgestiegen zu sein", erhält mir Max und beginnt wieder zu lachen.

„Anfangs ist es mir auch so gegangen. Da hat mir Charles' Tanzpartnerin alles aufgeschrieben, was ich wissen muss und mir auch etwas Russisch gelernt. Aber mehr kann ich auch nicht", lache ich ihm entgegen.


Wieso fällt es mir so leicht zu lachen, wenn Max bei mir ist? Das hat schon lange nicht mehr so gut funktioniert.


„Pierre? Hast du mir zugehört?", wedelt Max nicht mit mir verbundene Hand vor meiner Nase herum. „Tut mir leid, ich war in Gedanken", entschuldige ich mich sofort bei Max. Doch dieser lächelt mich nur weiter an.

„Schau, da vorne gibt's was zu essen. Ich hab zwar keinen Plan was, aber es sieht lecker aus", meint Max und deutet in Richtung des Eislaufplatzes, wo es auch verschiedenste Stände mit Essen gibt.


„Uh, блины!", gebe ich von mir, als ich die Aufschrift lese. „Ich habe zwar keinen Plan, was das ist, aber es hört sich nicht schlecht an", fängt Max wieder neben mir zu lachen an und zieht mich zu dem Stand hin.

„Das sind ja so kleine Pfannkuchen oder Palatschinken oder wie man die nennt", ist Max sichtlich begeistert von meiner Essenswahl. „In Frankreich heißen die Crêpes. Aber dort sind die viel dünner", erkläre ich ihm und wir stellen uns gemeinsam an.


Als ich endlich die dampfenden блины in der Hand habe, kann ich nicht sagen, ob ich schon mal glücklicher war, etwas zu essen. 

„Pass auf, dass du dir nicht die Zunge verbrennst. Ich esse dir schon nichts weg", hält Max mich lachend davor ab, wie ein verrückter in das kleine Meisterwerk zu beißen.


Er hält mein Armgelenk sachte fest und entblößt damit seines. Ein kleines, feines Tattoo ziert dieses. Es ist ein schlichtes Semikolon. Mir gefällt das schlichte Design total gut.


Ich habe gar nicht bemerkt, wie Max meine Hand losgelassen hat und sich ein блины stibitzt hat. Und auch ich beiße genüsslich in den kleinen Teigklumpen.


Kaum haben wir die Süßigkeit vernascht, schnappt sich Max meine Hand und zieht mich zur Eisfläche. 

„Und jetzt lernst du mir bitte, wie man am Eis steht, ohne direkt auf dem Hintern zu landen", lacht er mich an und deutet auf die schimmernde Eisfläche.


An irgendetwas erinnert mich das, aber mein Gehirn lässt es gerade nicht zu, irgendetwas zu denken. Es ist viel zu viel damit beschäftigt, endlich mal wieder glücklich zu sein.

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Ob ihr es glaub oder nicht, ich habe es geschafft ein neues Kapitel zu schreiben. Ich kann euch nicht sagen, wie viele Lesungen ich daran geschrieben habe, aber einige waren es sicher ;)

Ich hoffe euch gefällts und ich freue mich auf eure Rückmeldungen :)

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