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PoV. Hyunjin

Noch ehe ich aus dem Gebäude bin, spüre ich es. Meine Kehle zieht sich zu, meine Augen fangen an zu brennen, mein Atem kommt in zittrigen Stößen. Nein, ich fange jetzt nicht an zu weinen. Ich gehe einfach weiter, unterdrücke die riesige Enttäuschung die in mir aufsteigen will und zwinge mich zur Gleichgültigkeit.

Gleichgültigkeit. Das war doch der Sinn des Ganzen. Jisung sollte mir gleichgültig sein. sodass ich nicht mehr mit ihm streiten würde. Das ist ja mal gehörig schief gegangen. Aber ich hätte es wissen müssen. Immerhin kann ich nicht wirklich geglaubt haben, dass Jisung und ich... was? Freunde werden könnten?
Ich zwinge mich zu lachen anstatt zu schluchzen.

Das ist eine absurde Idee. Jisung soll mir wichtig geworden sein? Das ergibt doch gar keinen Sinn! Von brennendem Hass zu...

Ich bleibe stehen.
Ich weiß selbst nicht, wie ich es nennen soll. Freundschaft ist es sicher nicht. Oder vielleicht doch, aber ich weiß es nur nicht. Ich habe nie besonders viel Zeit mit Freundschaften verschwendet und seit ich Minho kenne, ist das sowieso nicht nötig gewesen. Aber bei Jisung...

Ich gehe weiter. Ich habe es bei Minho immer sehr gut geschafft, meine Gefühle zu verstecken und Wand um Wand um mein Herz zu bauen. Immerhin will er nicht wissen, was darin vor sich geht.
Und das kann ich verstehen. Ich verstehe es, denn es ist anstrengend, die Sorgen anderer mitzutragen. Das weiß ich, weil ich Minhos Sorgen mittrage. Jedes Mal, wenn er das an mir auslässt fühle ich mich danach erschöpft und würde mich am liebsten in mein Bett verkriechen.

Ich möchte natürlich nicht, dass er aufhört! Nein, auf keinen Fall. Denn das ist das, was ihm guttut. Ich stelle es mir befreiend vor, sich etwas von der Seele reden zu können. Und ich bin froh, wenn ich dafür sorgen kann, dass es Minho besser geht.

Aber mit Jisung... es ist als würden diese Wände nicht mehr existieren. Bei ihm fällt es mir schwerer, als bei allen anderen, meine wahren Gefühle zu unterdrücken, sie abzuschotten. Ich kann sie nicht mehr für mich behalten.
Ich habe es versucht, heute.
Ich wollte nicht, dass er meine Zweifel sieht, wollte ihn nicht mit meinen Sorgen belasten, wo er selbst wegen etwas bedrückt ist. Wenn er mir nichts anvertrauen möchte, dann will er erst recht nicht, dass ich ihm etwas anvertraue, richtig?

Aber es scheint, als habe ich alles nur noch schlimmer gemacht... Egal, wie sehr ich versucht habe, die Zweifel zu unterdrücken und mich normal zu verhalten, es hat einfach nicht geklappt. Stattdessen habe ich etwas komplett anderes getan. Frustration mischt sich in meine Enttäuschung.

Gleichgültigkeit. Ich brauche Gleichgültigkeit.

Ich habe Jisung gesagt, ich werde zu Minho gehen und das werde ich auch tun. Aber nicht so. Nicht ehe ich nicht gleichgültig bin.

Eine Weile irre ich ziellos durch die Straßen, zu verwirrt, zu überwältigt von meinen wirbelnden Gefühlen, um darauf zu achten, wo ich hingehe. Jisung und ich haben uns gerade so gut verstanden... und ich habe alles zunichte gemacht.
Ich habe alles zunichte gemacht.
Es ist meine Schuld. Ich versuche die Schuldgefühle zu unterdrücken, sie auszulöschen, sie zu ignorieren, aber sie klammern sich um meine Brust wie eine Schlinge, die sich enger und enger zieht.

Frustriert balle ich die Hände zu Fäusten. Wenn Jisung nur nicht so starrköpfig wäre! Wenn er nur nicht darauf bestehen würde, dass er mehr Ahnung hätte als ich! Wenn er nur nicht so neidisch wäre! Es ist seine Schuld.

Erneut bleibe ich stehen.

Mit dem nächsten Atemzug fühlt es sich an, als würde ich Eis einatmen. Eis, dass meinen ganzen Körper ausfüllt. Eis, Eis, Eis in meinen Lungen, in meinen Händen, meinem Magen, meinem Herzen, meinem Hirn. Eis das die Wut und die Trauer und alles was in mir gebrannt hat auslöscht. Gleichgültigkeit. Endlich ist sie da.

Als ich bei Minho ankomme, bin ich entspannt. Das Eis ist immer noch da und es fühlt sich gut an. Diese Kälte, die jede Emotion im Keim erstickt. Ich kann nicht fröhlich sein, ich kann nicht traurig sein. Wenn ich so bin, kann mir nichts und niemand etwas anhaben. Ich bin gleichgültig. So wie Minho es mag. So wie ich sein sollte.
Der perfekte Mensch. Der perfekte Freund.

Ich klingele und es dauert nicht lange, bis Minho öffnet.
Er sieht mich etwas verärgert an. "Du bist zu früh! Entweder du kommst zu spät oder du bist zu früh. Kannst du nicht einmal pünktlich sein?", fährt er mich an.
Es gibt keinen Grund sich zu sagen, dass er diese Worte nicht so meint. Sie treffen auf mein Eis und verdampfen. "Tut mir leid.", sage ich automatisch und trete ein. Es tut mir nicht leid. Aber das weiß Minho nicht. Das muss er nicht wissen.

Ich will ins Wohnzimmer gehen, aber Minho zieht mich gleich ins Schlafzimmer. "Egal. Ich habe heute sowieso nicht viel Zeit.", sagt er ungeduldig.
Ich nicke nur und beginne mich auszuziehen. "Wie geht es dir?", frage ich.
Minho wirft mir einen verärgerten Blick zu. "Was interessiert's dich?" Er fragt wie immer nicht, wie es mir geht.

Warum sollte er auch? Die Antwort ist immer dieselbe: Mir geht es gut. Das ist die Antwort die er will. Es ist die Antwort die ich ihm gebe. Und es stimmt. Mir geht es nicht schlecht. Mir geht es am besten, wenn ich gleichgültig bin.

"Warum bist du so früh da? Hast du den Idioten endlich versetzt?", fragt Minho grinsend.
Ich halte inne. "Ja." Ich will nicht weiter darüber reden.
Das Eis bekommt Risse. Es darf nicht brechen.
"Gut so! Am besten brecht ihr das Ganze ab. Dieser Loser würde dein Image sowieso nur beschädigen. Wetten er hofft darauf, mit dir angeben zu können?" Minho lacht gehässig.

Ich lasse mich aufs Bett fallen und bemerke, wie sich meine Atmung beschleunigt. Nein, halt, dass darf nicht passieren-...
Minho macht weiter: "Gut, dass du eingesehen hast, dass es nicht bringt mit Versagern wie ihm rumzuhängen. Er hätte dich sowieso nur ausgenutzt."
Ich schließe die Augen und ringe um Beherrschung. 'Eis.', denke ich. 'Da ist nichts als Eis. Nichts als Eis. Nichts als-'

Und dann bricht es.
Von einer Sekunde auf die andere ertrinke ich, als alles wieder auf mich einströmt. Der Streit, meine Schuld, meine Angst, meine Wut, meine Traurigkeit. Tränen wallen in mir auf und dieses Mal sind sie nicht aufzuhalten. Die Flut spült alles weg, jede einzelne Barriere mit der ich andere schützen wollte.

"M-minho...", schluchze ich. Die Tränen strömen mir über die Wangen und ich kann mein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Hilflos berge ich das Gesicht in den Händen. Warum habe ich nur so viele dumme Sachen gesagt? Warum habe ich Jisung nicht einfach nett gesagt, dass ich anderer Meinung bin? Warum musste ich so fies werden?

Und dann sprudelt es aus meinem Mund heraus, ohne dass ich es kontrollieren kann, ohne dass ich es kontrollieren will. "Jisung und ich... haben gestritten... und das nur weil ich so gemein zu ihm war... wir haben den Song aufs Eis gelegt..." Ich schaffe es kaum mehr, als ein Wort herauszubringen ohne zu Schluchzen. Je mehr ich versuche meine Tränen zu unterdrücken, desto mehr laufen mir über die Wangen. "Es ist meine Schuld... ich wollte das nie sagen...ich-"

Minho gibt mir eine Ohrfeige. Einen Moment lang kann ich ihn nur geschockt ansehen. Dann kommt der Schmerz, wie eine Explosion. Meine Hand schießt zu meiner Wange und neue Tränen schießen mir in die Augen. "Wa-warum-?"
Minho steht vor mir und sieht mich mit angewidertem Gesicht an. "Was heulst du hier so rum? Glaubst du, es interessiert mich, ob du mit Jisung gestritten hast? Ich bin nicht dein Therapeut!"

Ich schlucke und versuche mich zusammenzureißen. Minho hat recht. Es ist nicht seine Aufgabe, sich um meine Probleme zu kümmern. "Tu-t... mir leid..." Verzweifelt wische ich mir über die Wange, doch die Tränen hören nicht auf. "Tut mir leid... ich reiße mich zusammen... tut mir leid...", stotterte ich.

Minho schüttelt nur den Kopf. "Vergiss es. Du kannst verschwinden. Und komm erst wieder, wenn du nicht mehr so eine Heulsuse bist." Damit verschwindet er aus dem Raum.

Ich kann nicht mehr klar denken. Zitternd und schluchzend ziehe ich mich wieder an und stolpere aus Minhos Wohnung.

Auf der Straße renne ich einfach los. Ich weiß nicht wohin, ich weiß nicht einmal ob es überhaupt wichtig ist. Ich will einfach nur weg, weg von Minho. In meinem Zustand ist es ein Wunder, dass ich nicht vor ein Auto laufe und irgendwann doch wieder, ohne einen Kratzer, vor der Tür meines Apartments stehe.
Ich schließe die Tür auf und gehe hinein. Kaum das die Tür hinter mir zufällt breche ich erneut zusammen. Kraftlos sinke ich zu Boden und versuche nicht einmal mehr ein Schluchzen zu unterdrücken.

Es ist einfach zu viel. Alles.
Ich wollte das alles nicht, dass wir den Song aufs Eis legen, ich wollte Jisung diese Sachen nie sagen, ich wollte nie vor Minho zusammenbrechen. Ich will nicht, dass es wieder so wird, wie es war, ehe ich Jisung kennengelernt habe, richtig kennengelernt habe.

'Das ist doch dumm. Er ist der Grund, warum du hier rumheulst.'
Das weiß ich. Ehe ich mich mit Jisung angefreundet - es fühlt sich seltsam an das Wort zu benutzen, aber gleichzeitig will ich so sehr, dass es wahr ist- ehe ich mich mit Jisung angefreundet habe, habe ich nie Probleme gehabt, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
Was macht er nur mit mir? Es macht mir Angst, aber gleichzeitig will ich mehr. Ich will diesen einen Menschen, der es schafft meine gesamte Abwehr wegzufegen.

Was rede ich da? Ich liebe Minho. Ich liebe Minho wirklich und das ist der Grund, warum seine Worte, seine Taten von eben so weh tuen. Wieso? Vorher konnte ich immer damit umgehen. Was ist heute anders? Es hat mich nie verletzt, wenn Minho so war.
Aber all das, was Jisung gesagt hat, lässt mich einfach nicht mehr los. Eine Beziehung in der man miteinander redet, sich umeinander kümmert, sich gegenseitig alles anvertraut. Kann das funktionieren?
Ich versuche es mir vorzustellen. Ich versuche mir vorzustellen, zu Minho zu gehen und mit einer Umarmung begrüßt zu werden.
Ich versuche mir vorzustellen, dass er mich bei der Hand nimmt und mich mit auf seine Couch zieht. Minho holt etwas zu trinken für uns beide.
Ich frage ihn, wie es ihm geht und Jisung fragt mich dasselbe. Wir reden ehrlich und offen und anstatt nur wieder und wieder Sex zu haben, sitzen wir auf der Couch, gucken einen Film, Jisung liegt in meinen Armen-

Erschrocken reiße ich die Augen auf und hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum denke ich auf einmal an Jisung?  Kann ich mir so schlecht vorstellen, dass Minho liebevoll ist? Will ich überhaupt, dass er liebevoll ist? Immerhin habe ich mich in ihn verliebt... das muss doch heißen, dass ich ihn so mag, wie er ist.
Außerdem... warum sollte ich mir so etwas von Jisung wünschen? Wir sind noch nicht einmal richtige Freunde geworden, bevor wir uns erneut gestritten haben...

Verzweifelt vergrabe ich den Kopf in meinen Armen. Das ergibt doch alles keinen Sinn. Ich weiß nicht mehr wie ich diesen Wirbelsturm an Gefühlen und Gedanken und Schmerz unter Kontrolle kriegen soll. Es muss einen Weg geben, dass es aufhört. Es muss etwas geben, dass das alles verschwinden lässt!

Mühsam versuche ich mich zusammenzureißen. Was will ich? Das ist eine leichte Frage. Was will ich? Ich will... 'Ich will, dass mir jemand beisteht.' Ich beiße frustriert die Zähne zusammen. Ich hasse diesen Gedanken. Ich hasse mich. Es ist schwach, erbärmlich, sich das zu wünschen. Ich habe es immer alleine geschafft.

Aber letztendlich bin ich nur das. Schwach.

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