Kapitel 4

Am nächsten Tag gönnte ich es mir, einmal ordentlich auszuschlafen. Kein Auftrag weckte mich und so schälte ich mich kurz vor Mittag aus dem Bett. Als ich in die Küche kam, saß Carlos bereits da und träumte vor sich hin.

„Guten Morgen", sagte er träumerisch und bedachte mich nicht einmal mit einem Blick.

„Dir auch guten Morgen", murmelte ich skeptisch zurück und holte mir meinen Frühstücksjoghurt aus dem Kühlschrank.

„Was hast du heute so vor?", fragte mich nun Carlos, der seinen Blick endlich aus seiner Traumwelt hatte bewegen können. Ich zuckte mit den Schultern.

„Arbeiten wahrscheinlich. Und später ins Café. Hoffentlich ein ruhiger Tag."

Carlos nickte und sah mir beim Essen zu. Es hatte lange gedauert, bis ich mich an solche Momente gewöhnt hatte. Einen Mitbewohner zu haben, der nicht isst, nicht schläft und nichts anfassen kann, ist dann doch eine ungewöhnliche Sache. Carlos lebte mittlerweile seit einem Jahr bei mir. Genauso lange hatte ich diese Wohnung. Er hatte schon vorher gerne hier herumgelungert, aber seit dann jemand die Wohnung übernommen hatte, der ihn sehen und mit ihm sprechen konnte, verbrachte er den Großteil seines Tages hier. Ich mochte es, mit ihm zusammen zu wohnen, aber ich würde diese WG sofort aufgeben, wenn ich dafür wieder mit meiner Mutter zusammenleben könnte.

„Und was ist dein Plan für heute?", fragte ich zurück und versuchte, den Gedanken an meine Mutter zu verscheuchen. Carlos seufzte laut.

„Mir gehen die Ideen aus. Vielleicht gehe ich mal wieder in den Zoo. Die Wölfe lieben mich."

Er zwinkerte mir zu. Ich grinste zurück. Wölfe hatten einen sechsten Sinn. Sie konnten Geister spüren und fühlten sich in ihrer Anwesenheit unwohl. Carlos machte sich gerne einen Spaß daraus, sich in die Nähe von Wölfen oder Hunden oder auch Katzen zu schleichen, um sie aus dem Konzept zu bringen. Jeder brauchte so seine Hobbys, besonders wenn man zu ewigem Leben verdammt war.

„Du klingelst."

„Ich was?"

Carlos deutete auf meine Hand, an der der Ring um sein Leben vibrierte. Ich seufzte. Ich hatte noch nicht einmal geduscht.

„Viel Erfolg", flötete Carlos und winkte zum Abschied, während ich in den Kreis stieg und aus meiner Wohnung verschwand.

„Ein Rebell", klärte mich Stacey knapp auf und ich versteifte mich sofort. Ein Rebell bedeutete Ärger, so wurden nämlich Geister genannt, die ihre Macht missbrauchen wollten. Meistens kam ich noch rechtzeitig, um Schlimmes zu verhindern, aber solche Aufträge forderten immer viel Überzeugungskraft. Die Reise kam mir elendig lang vor, bis ich in einer Gasse hinter einem hohen hässlichen Gebäude landete. Ich sah ein Schild an einer Stahltür, die nicht besonders einladend wirkte, und erkannte, dass ich mich noch in den Vereinigten Staaten befand. Mein Blick schnellte durch meine Umgebung, aber ich konnte keinen Geist finden. War ich bereits zu spät? Ich machte ein paar Schritte in die Gasse hinein und versuchte zwischen den Müllcontainern und Obdachlosenplätzen etwas zu erkennen, was mir verraten würde, weshalb ich hierhergekommen war.

„Hallo?", fragte ich etwas einfältig in meine stille Umgebung, bekam jedoch keine Antwort. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst und ging ein paar Schritte weiter. Was würde ich hier finden? Hatte sich ein Geist an den Lebenden gerächt? So ein Ereignis würde für Aufruhr im Rat sorgen. Immer wieder gab es Mitglieder, die mahnten, Geister besäßen zu viel Macht über die Menschen, doch bisher wurde das einfach abgetan, schließlich wurden die Geister ja überwacht. Die Wisser konnten jeden falschen Gedanken im Kopf eines Geistes spüren. Hielten sie es für eine mögliche Bedrohung, so schickten sie mich oder andere Mitglieder, um die Sache zu regeln. Normalerweise war dies bereits der Fall, bevor ein Geist überhaupt seine Pläne fertig geschmiedet hatte. In solchen Fällen setzte ich mich zu ihnen und überzeugte sie davon, ihre Rachsucht oder Wut oder was auch immer der Grund für einen unerlaubten Eingriff in die Menschenwelt auch war, zu vergessen. Bisher hatte es immer funktioniert. Noch hatte ich niemanden festnehmen müssen. Ich schien meinen Job gut zu machen, denn die Gefängniszellen für Geister im Ratsgebäude waren frei von nordamerikanischen Geistern.

„Hallo?", fragte ich wieder, nachdem ich ein paar Meter weiter in die Gasse gegangen war. Wieder bekam ich keine Antwort. Ich wollte bereits einen Fehlalarm melden, als mir etwas auffiel. Ein glitzernder Umriss ragte hinter einem Container hervor. Meine Organe drehten sich in meinem Körper.

„Lass es nicht das sein, wonach es aussieht", flüsterte ich und machte ein paar Schritte weiter und was ich dann sah, ließ mich erstarren. Ich hatte in den letzten drei Jahren einiges gesehen, einiges gelernt, aber um eine solche Erfahrung war ich bisher herumgekommen. Wahrscheinlich war jeder Hüter bisher um eine solche Erfahrung herumgekommen, denn so etwas gab es nun einmal nicht. Normalerweise jedenfalls. Ich starrte auf den gläsernen Körper zu meinen Füßen. Es war ein Geist. Ein hauchzart orange leuchtender Geist. Und er regte sich nicht. Er lag auf dem Boden, hatte das Gesicht verzerrt und regte sich nicht. Ich erwachte langsam aus meiner Starre und machte einen Schritt auf den Körper zu. Ein Blick auf den Hals des Geistes ließ meinen Verstand für einen Moment aussetzen. Ich sah Splitter. Der Hals des Geistes war gesplittert. Seine glatte Gestalt war durchbrochen und den Boden um ihn herum zierten kleine leuchtende Splitter. Ich sah in die Augen des Geistes. Sie waren leer. Nicht so leer, wie sie bei einem Geist eben waren, sondern leerer. Tot. Dieser Geist, der gerade vor mir lag, war tot. Es widersprach allem, was ich gelernt hatte. Geister waren immer tot. Sie hatten keine Gestalt, außer sie befanden sich außerhalb der Zeit, also wie konnten sie sterben? Wie konnte ein Mensch, der bereits tot war, ein zweites Mal sterben? Und dann auf diese Weise? Ich brauchte ein paar Sekunden, um reagieren zu können. Mit zitternden Fingern zog ich meinen Ring ab und strich über die glatte Oberfläche, bis diese golden zu leuchten begann.

„Ruf Stacey", brachte ich hervor und wenige Sekunden später tönte Staceys Stimme aus dem Ring.

„Was gibt es, Olivia? Was hatte er vorgehabt?"

Ich starrte noch immer völlig perplex auf den Geist und versuchte zu verstehen, was hier gerade passiert war.

„Olivia?", fragte Stacey und bevor sie einen Alarm lösen würde, antwortete ich ihr.

„Ich brauche Unterstützung hier. Es..."

Ich brach ab. Wie konnte ich erklären, was hier vor meinen Augen lag? Man würde mich für verrückt erklären. So etwas passierte nicht. Es passierte einfach nicht.

„Was ist los, Olivia?"

Staceys Stimme wirkte nun drängend.

„Ein Geist, er ist..."

Ich schluckte. „Er ist tot, Stacey. Hier liegt ein toter Geist vor mir."

Stille am anderen Ende der Leitung.

„Ich schicke dir jemanden", kam dann die langsame Antwort. Stacey schien noch nicht zu wissen, ob sie mir glauben sollte und mir ging es nicht anders. Konnte ich meinen Augen hier trauen? Träumte ich vielleicht nur?

Ich erwachte aus meinen Grübeleien, als neben mir zwei Ringe aufloderten und zwei Männer hinaustraten. Mitglieder der Gemeinschaft. Sahen sie dasselbe wie ich? Ich beobachtete, wie die beiden erst den Geist anstarrten und sich dann einen vielsagenden Blick zuwarfen. Einer von ihnen wandte sich ab und sprach zu seinem Ring. Daraufhin dauerte es nicht lange, bis drei weitere Kreise um uns herum auftauchten. Keiner von den Erscheinenden sah mich auch nur an. Sie standen um den Geist herum, musterten ihn, ließen ihre Hände durch seinen formlosen Körper gleiten und sprachen miteinander so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte. Aber dennoch war eines sicher: Wer auch immer sie waren, sie wussten mehr als ich.

„Was ist hier los?", fragte ich beinahe im Flüsterton. Keiner der Männer schien sich in ihrem Gespräch gestört zu fühlen.

„Was ist hier los?", fragte ich noch einmal, diesmal deutlich lauter. Endlich drehte sich einer der Männer um. Er kehrte den anderen, die mich noch immer nicht ansahen, den Rücken und kam auf mich zu.

„Gehen Sie zu Ms. Lewis, sie wird Ihnen alles erklären", befahl er mir. Ich nickte verstehend. Was sollte Stacey mir erklären? Was wussten sie, was ich nicht wusste?

Meine Neugier siegte über den Schock und ich ließ mich in Staceys Büro schicken. Für eine höfliche Landung im Flur hatte ich gerade keine Nerven. Doch als ich in dem Büro ankam, erwartete mich nicht nur wie sonst Stacey an ihrem Schreibtisch, sondern eine Meute Menschen, die zusammenstanden und angeregt über etwas diskutierten. Wenigstens diese Gruppe reagierte auf meine Anwesenheit. Sie wandten ihre Blicke zu mir, während ich aus dem Ring stieg, und machten Platz für Stacey, die auf mich zukam.

„Olivia, da bist du ja."

Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und schob mich aus dem Büro. Die Meute folgte uns.

„Was ist hier los, Stacey?", fragte ich, während wir durch die Flure eilten.

„Ein Fall für die Kriminalabteilung", antwortete sie mir wenig genau.

„Ein Mord also", vermutete ich und musste stocken. Die Kriminalabteilung ermittelte gegen Geister, Wisser und auch Hüter und andere Mitglieder der Gemeinschaft, die gegen Regeln verstießen. Wenn sie diesen Fall untersuchten, lag ein Verbrechen vor. Ein Mord. Das war so falsch. Es konnte nicht sein. Ein Geist konnte nicht sterben, er konnte nicht ermordet werden.

„Das ist nicht der Erste", eröffnete mir Stacey und wir blieben vor einer breiten Tür stehen. Mein Herz pochte laut. Nicht der Erste. Ich verstand gar nichts mehr.
Auf ein Klopfen hin wurde die Tür geöffnet und wir betraten einen großen Raum, der mehr Technik besaß als alle Räume, die ich in dem Ratsgebäude bisher gesehen hatte, zusammengenommen. Bildschirme schmückten die Wände und Menschen huschten umher. In einer Ecke saß eine große Gruppe Wisser zusammen, die sich mit zwei Männern in schwarzen Anzügen unterhielten.

„Nicht der erste Mord?", versuchte ich Stacey Informationen zu entlocken. Sie schüttelte den Kopf und wir kamen endlich vor zwei Männern – ebenfalls in viel zu schicken Anzügen – zum Stehen. Neben all diesen Menschen fühlte ich mich in meiner Jogginghose und meinen ungewaschenen Haaren einfach nur noch über.

„Olivia, das sind Mr. Cherwood und Mr. Rodriguez. Mr. Cherwood ist der Vorsitzende des europäischen Rates. Mr. Rodriguez leitet die Kriminalabteilung Europas."

Die beiden Männer schüttelten mir förmlich die Hand.

„Hallo, Ms. Watson. Ich hoffe, wir können auf Ihre Mitarbeit zählen", sagte Mr. Cherwood mit einer tiefen Stimme, die wie angegossen auf sein Amt passte. Er war ein Mann, der bestimmt schon scharf auf die fünfzig zuging und hatte eine für wichtige Persönlichkeiten im Rat typische gepflegte Erscheinung. In seinen Worten lag keinerlei Emotion. Er war der perfekte Vorsitzende.

„Das können Sie, wenn Sie mir sagen, worum es hier geht", antwortete ich ebenso höflich wie mein Gegenüber. Rodriguez hob eine Augenbraue, doch Cherwood drehte sich nur zu einem Bildschirm hinter sich und öffnete ein paar Dateien. Sie zeigten Fotos. Fotos, die mir bewiesen, dass ich nicht geträumt hatte.

„Vor zwei Wochen tauchte in London die erste Leiche eines Geistes auf. Zwei Tage später kam die zweite. Es war dasselbe Vorgehen wie bei dem Geist, den Sie gerade gefunden haben."

„Sein Hals war gesplittert", wiederholte ich unnötigerweise. „Wie ist so etwas möglich?"

Nun schaltete sich auch Rodriguez ein. „Erwürgt." Er fixierte die Fotos auf dem Bildschirm. „Die Geister wurden erwürgt."

„Das heißt..." Ja, was hieß das? Ein Geist brauchte keinen Sauerstoff. Wie konnte er erwürgt werden?

„Waren es aktive Geister?", fragte ich jetzt. Cherwood nickte knapp. „Allesamt." Er stemmte die Hände auf die Tischkante. Was hatte ich auch sonst für eine andere Antwort erwartet?

„Diese Geister wurden getötet und als Mörder kommen nur diejenigen infrage, die außerhalb der Zeit handeln können." Jetzt warf er mir einen festen Blick zu. Diesmal wusste ich, was das bedeutete.

„Mitglieder der Gemeinschaft", ergänzte ich, bevor mir noch eine weitere Sache einfiel. „Oder Geister", schob ich hinterher.

„Aktive Geister", korrigierte mich Rodriguez. Er hatte Recht. Nur aktive Geister waren in der Lage, außerhalb der Zeit Gestalt anzunehmen. Wurden sie verdammt, verloren sie diese Fähigkeit.

„Bisher haben wir keine Spur, wer das getan haben könnte, wir wissen nur, dass er oder sie jetzt in den USA ist", berichtete Rodriguez. „Es war auch immer derselbe Alarm. Die Wisser erkennen eine negative Gefühlsregung und der Hüter wird dorthin geschickt. Jedes Mal zu spät."

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Stacey. Wie war es möglich, dass die Wisser gleich drei Mal so ungenau gearbeitet hatten?

„Es muss also ein Geist gewesen sein", überlegte ich laut.

„Wenn die Wisser etwas gespürt haben, egal wie spät, muss es in Zusammenhang mit einem Geist stehen."

Cherwood starrte abwesend durch den Raum.

„Es wäre schön, wenn es so einfach wäre, aber der Alarm hätte genauso gut wegen der Opfer ausgelöst werden können."

Ich biss die Zähne aufeinander. Er hatte Recht.

„Wir müssen mit allem rechnen", fügte Cherwood mir gegenüber noch hinzu und ließ uns dann stehen, um zu den Wissern zu gehen. Was er gerade gesagt hatte, beschwor ein ungutes Gefühl in mir hinauf. Ich wusste, was er damit aussagen wollte. Wir mussten damit rechnen, dass ein Mensch mit dem Hütergen das getan hatte. Es lag im Bereich des Möglichen und wir durften es nicht ausschließen, doch leider war es unmöglich, das zu überprüfen. Es gab unzählige Mitglieder der weltweiten Gemeinschaft, die das Hütergen trugen. Eine Eingrenzung war unmöglich.

„Wir zählen auf Ihre Hilfe, Ms. Watson", sprach nun Rodriguez. Ich lenkte meinen Blick auf ihn und weg von den Bildern, auf denen zwei Geister gezeigt wurden, die eine ebenso gesplitterte Kehle aufwiesen, wie der Geist, den ich noch vor wenigen Minuten in der Gasse hatte liegen sehen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?", antwortete ich mit fester Stimme. Wer auch immer durch die Weltgeschichte lief und Geister tötete, musste gestoppt werden. Sie waren vielleicht Sünder, aber so einen Tod verdienten sie nicht. Nicht ein zweites Mal.

„Wir möchten, dass Sie in Zusammenarbeit mit dem europäischen Rat die Fälle bearbeiten", eröffnete mir Rodriguez. Ich starrte ihn an.

„Ich? Allein?"

Er schüttelte den Kopf. „Der Hüter Europas arbeitet bereits daran. Gemeinsam mit ihm und einem Wisser aus der Abteilung für Kriminalfälle aus Europa werden Sie die Fälle genauer unter die Lupe nehmen."

Ich schluckte. Wieso spannten sie mich dafür ein? Wofür hatten wir die Abteilung für Kriminalfälle, wenn die Arbeit dann doch an mir hängen blieb?

„Wir vertrauen Ihnen, Ms. Watson", sagte Rodriguez eindringlich als hätte er meine Gedanken gehört und ich nickte ihm verstehend zu. Es ging hier nur um Vertrauen.

„Sie werden von Ms. Lewis über alles informiert. Von ihr bekommen Sie auch Informationen, die Sie benötigen. Wir vertrauen darauf, dass Sie die Sache bald geklärt haben", erklärte Rodriguez und folgte dann seinem Kollegen zu den Wissern. Das Gespräch war nun offiziell beendet. Ich drehte mich zu Stacey um, die etwas im Hintergrund gestanden hatte und atmete erschöpft aus. Rodriguez hatte ganz offenkundig Druck gemacht. Er wollte den Fall gelöst sehen und ich würde keine freie Minute mehr haben. Da schossen meine Gedanken zu Stella und unserer Verabredung heute im Café.

„Kann ich hier irgendwo telefonieren?", fragte ich Stacey, während wir den hektischen Raum wieder verließen. Sie schüttelte nur den Kopf und ging nicht weiter darauf ein. Ich beobachtete sie, während ich an ihrer Seite zurück in ihr Büro stolperte. Stacey war sonst ein lebensfroher Mensch. Sie war bestimmt noch keine dreißig und lächelte viel, aber heute konnte ich in ihren angespannten Gesichtszügen nichts von dieser Leichtigkeit wiedererkennen. Die Lage war also ernst. Sehr ernst.

„Kommen der andere Hüter und der Wisser hierher?", fragte ich nun, worauf ein knappes Nicken von Seiten Staceys folgte. Bevor ich fragen konnte, wann sie denn eintreffen würden, standen wir wieder vor Staceys Büro und sahen durch die Fenster zwei Personen ankommen. Als wir die Tür geöffnet und den Raum betreten hatten, schob sich einer von ihnen gerade seinen Ring zurück auf den Finger. Der andere Hüter. Ich spürte eine gewisse Aufregung in mir wachsen. Ich hatte noch nie einen anderen Hüter getroffen.

„Gut, dass Sie da sind, Mr. Cherwood", begrüßte Stacey ihn höflich, woraufhin er sich umdrehte und uns ansah. Die Tatsache, dass der Hüter genauso hieß, wie der Vorsitzende, den ich soeben getroffen hatte, rückte schnell in den Hintergrund, als ich meinem Gegenüber einen genaueren Blick zuwarf. Es war ein Mann, bestimmt nicht viel älter als ich und ich fühlte mich neben ihm sofort winzig. Nicht nur, weil er bestimmt eineinhalb Köpfe größer war als ich, sondern auch, weil er aussah, wie frisch aus dem Ei gepellt. Er trug schwarze saubere Jeans und ein ebenfalls schwarzes und faltenfreies T-Shirt. Seine Haare - die natürlich auch schwarz waren, um den Grufti-Look komplett zu machen – waren ordentlich unordentlich. Diese Art von Frisur, die aussieht wie frisch aus dem Bett, aber wofür die Männer eigentlich stundenlang vor dem Spiegel stehen. Das Vernichtende an seinem Auftritt waren allerdings die dunklen Augen, die mich skeptisch musterten. Sofort schämte ich mich für meine Erscheinung. Ich musste wirken wie ein verwirrter Anti-Hygiene-Freak. Was hätte ich in diesem Moment dafür gegeben, wenn ich die Zeit hätte zurückdrehen und duschen und mich hätte anziehen können?

„Korrin." Stacey nickte der zweiten Person knapp zu und eilte dann zu ihrem Schreibtisch. Mein Blick wanderte zu dem noch größeren Mann mit den typischen langen weißen Haaren - viel zu klischeehaft, wenn ihr mich fragt -, der mir freundlich zulächelte, bevor er sich Stacey zuwandte. Er war ein Wisser, weshalb seine enorme Größe nicht besonders verwunderlich war, aber mich als 1,65 Meter-Maus brachte es durcheinander, wenn ich immer den Kopf in den Nacken legen musste. Noch mehr verwirrte mich allerdings die Tatsache, dass der Wisser freundlicher zu sein schien als der Hüter. Er wirkte nicht annähernd so arrogant wie die Wisser, die ich hier bisher getroffen hatte. Tatsächlich hatte er gelächelt. Freundlich. Mir gegenüber. Waren die Wisser in Europa sympathischer? War ich einfach in das falsche Land geraten?

„Olivia Watson?", riss mich die tiefe Stimme des Hüters aus meinen Überlegungen. Skepsis schwang bei seinen Worten mit und wahrscheinlich überlegte er gerade, ob es jetzt schon zu spät war, einfach durch einen Kreis zu verschwinden.

„Ja, das bin ich", antwortete ich so höflich wie möglich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm mir diese ganze Situation war. Meine ausgestreckte Hand musterte mein Gegenüber nur etwas abschätzig und ignorierte sie dann gekonnt.

„Devan Cherwood. Hüter Europas", stellte er sich knapp vor und wandte sich dann ebenfalls zu Stacey. Ich verzog genervt das Gesicht hinter seinem Rücken. Herzlichen Glückwunsch, Olivia, dein neuer Partner ist ein Spießer. Nur wenige Sekunden, nachdem ich diesen Gedanken zu Ende geführt hatte, bemerkte ich ein unterdrücktes Grinsen auf dem Gesicht des Wissers, den Stacey eben Korrin genannt hatte – und der offenbar mit der Fähigkeit des Gedankenlesens betraut war. Ich schnaubte. Verdammte Wisser.

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