Kapitel 3
„Ich habe dich gestern den ganzen Tag nicht erreicht, wo warst du?", stellte mich Stella zur Rede, als ich sie nach Ende ihres Unialltags im Café traf. Wo auch immer das Ratsgebäude lag, es war mitten im Nichts. Keine einzige Nachricht kam durch, wenn ich dort war, sodass ich nicht einmal eine SMS schreiben konnte.
„Tut mir leid, ich war unterwegs und mein Akku war leer", rechtfertigte ich mich und rührte in meinem Kakao.
„Du bist eine grausame Freundin", kommentierte Stella diese Aussage und ließ sich mir gegenüber auf einen Sessel fallen. Ich wusste, dass sie das nicht wirklich ernst meinte, allerdings hatte sie ja schon irgendwie Recht.
„Was gab es denn so Wichtiges?", hakte ich also schnell nach, in der Hoffnung es wäre jetzt nicht schon zu spät. Stella winkte müde ab.
„Ich war total fertig wegen der Prüfung heute. Eigentlich hätte es mir auch gereicht, wenn du mit einer Schachtel Eis vor meiner Tür gestanden hättest."
Ich sah Stella mitleidig an. Traurigerweise musste ich feststellen, dass ich die Prüfung, von der Stella mir erzählt hatte, einfach schlichtweg vergessen hatte. Stella hatte Prüfungsangst und es war normal, dass sie an solchen Tagen Panik schob. Ich hätte bei ihr sein und sie beruhigen müssen. Stattdessen hatte ich meinen Tag mit Spießern und Geistern verbracht.
„Und wie ist es denn nun gelaufen?", fragte ich vorsichtig, während Stella mich noch immer nicht ansah.
„Mit Eis wäre es besser gewesen", murmelte sie daraufhin enttäuscht und verbrannte sich ihre Zunge an ihrem Kaffee. Sehr ironisch.
„Du brauchst nicht immer so eine Angst vor den Prüfungen zu haben, du bist ja nicht dumm", versuchte ich es jetzt, woraufhin Stella nur schnaubte.
„Erzähl das mal bitte meinem Unterbewusstsein."
Da ich ihr ja doch nicht helfen konnte, schwiegen wir, während wir unsere Getränke schlürften. Zu meinem Glück war Stella so nachsichtig. Es wirkte vielleicht nicht direkt so, aber sie vergab mir schnell, wenn ich mal wieder nicht für sie oder Cindy da war, was angesichts meines Berufes doch etwas zu häufig der Fall war.
🎶
Nachdem ich mich von Stella verabschiedet hatte und nun auf dem Weg nach Hause war, begann auch prompt mein Ring an meinem Finger zu vibrieren. Ich ließ ihn nicht bis zu der lauten Wiedergabe des Nickelback-Songs warten, sondern suchte mir eine Ecke hinter einer Kreuzung, wo ich ungestört durch den Kreis verschwinden konnte. Wer auch immer jetzt auftauchen würde, ich würde ihm danken, dass er nicht schon vor einer viertel Stunde gestorben war, denn noch einmal wollte ich Stella dann doch nicht allein lassen.
Auf der anderen Seite landete ich in einem Zimmer. Ein seltener Ort für ein Einführungsgespräch mit einem Geist, aber mir war es definitiv lieber als eine Gasse oder ein Keller. Im Gegensatz zu den Geistern musste ich mich schließlich immer vor den Menschen verstecken. Warum wir Hüter nicht auch eine Art Unsichtbarkeitszauber hatten oder so etwas in der Art, verstand ich nicht ansatzweise. Würden uns die Menschen nicht wahrnehmen, wäre unser Job um einiges einfacher.
Nachdem ich mich einige Sekunden in dem durchaus hübschen Zimmer umgesehen hatte, fand ich endlich das Ziel meines Auftrags. In einer Ecke, zwischen Sofa und Stehlampe, stand ein wimmernder Mann, der ganz offensichtlich sehr überfordert mit der Situation war. Wie lange war er denn bitte schon hier, dass er bereits einen Nervenzusammenbruch hatte erleiden können?
„Hallo", versuchte ich die Aufmerksamkeit des Geistes auf mich zu lenken. Es funktionierte auch irgendwie. Er hatte seine Arme um seinen Körper geschlungen und seine Hände in seinen Körper gekrallt. Für ihn fühlte sich dieser noch genauso an, wie vor seinem Tod. Rührte die aufgewühlte Verfassung des Mannes etwa daher, dass er sich selbst bereits gesehen hatte?
„Mein Name ist Olivia und ich bin offizielle Hüterin der Geistwelt auf dieser Erde", begann ich meinen Vortrag, unsicher darüber, ob mein Schüler mir überhaupt zuhörte.
„Ich muss dir leider die Nachricht überbringen, dass dein Selbstmordversuch erfolgreich war." Ich schluckte bei diesen Worten. Der hoffnungslos verwirrte Mann, der gerade vor mir stand und mich mit großen Augen anstarrte, hatte noch vor ein paar Minuten auf der Golden Gate Bridge gestanden. Er war nicht der Erste, der mit der Schuld seiner Taten nicht mehr leben konnte, aber geradezu oft traf ich Fälle wie ihn auch nicht. Menschen, die wegen ihrer Schuld Selbstmord begingen, waren in den drei beziehungsweise jetzt vier Fällen, die ich bisher hatte, Mörder gewesen. Keine brutalen herzlosen Mörder, sondern Mörder aus dem Affekt.
„Ist das hier die Hölle?", fragte der Mann nun mit zittriger Stimme. Ich musterte ihn genauer. Er war bestimmt so um die dreißig Jahre alt und trug abgewetzte Klamotten. Er musste alles andere als reich gewesen sein.
„Nein, das hier ist nicht die Hölle. Dies hier ist die Erde. Du bist zurückgekommen, weil du zu Lebzeiten Sünden begangen hast."
Der Mann ließ den Kopf hängen und ich befürchtete, er würde jeden Moment anfangen zu weinen.
„Ich dachte, ich komme für das, was ich getan habe, in die Hölle", eröffnete er mir und trat einen Schritt aus der Ecke heraus. Ich räusperte mich und brachte widerwillig die nächsten Worte hervor.
„Die Möglichkeit besteht immer noch."
Sein Kopf schnellte empor und er starrte mich ängstlich an. Schnell sprach ich weiter.
„Du bist zurück auf der Erde als Geist. Du hast eine Chance bekommen, deine Schuld zu begleichen und diese Welt zu verlassen, oder aber du kannst dies eben nicht und du bleibst auf ewig hier. Verdammt dazu, ein Geist zu sein, den niemand sieht, hört oder fühlt. Du wirst auf ewig als ein solcher Geist über diese Erde wandeln, wenn du nicht innerhalb der nächsten dreißig Tage deine Schuld begleichst."
Der fassungslose Blick ruhte noch immer auf mir. Mir war bewusst, dass diese Eröffnungen die frischen Geister sehr unvorbereitet trafen, also ließ ich diesem ein paar Minuten, in denen er dastand und mich und seine Umgebung angsterfüllt musterte. Erst als ich das Gefühl hatte, er hätte sich ein wenig entspannt, führte ich meine Rede fort.
„Deine Aufgabe ist es, andere Menschen davon abzuhalten, zu sündigen. Du sollst sie vor dem bewahren, was dir geschehen ist."
„Warum hat mich niemand davon abgehalten?", fragte der Mann jetzt und seine Stimme gewann wieder an Festigkeit.
„Warum habt ihr zugelassen, dass ich das tue, wenn ihr es hättet verhindern können?", brüllte er nun beinahe. Ich ließ den Kopf ein wenig hängen. Diese Fragen wurden mir so oft gestellt und ich konnte sie nicht beantworten. Wer vor dem Sünden bewahrt wurde, war eine reine Zufallsentscheidung. Ein Sünder kam nach seinem Tod an den Ort seines Lebens zurück. Der Mann und ich befanden uns in San Francisco und dort würde er auch seine Arbeit verrichten. Wenn sich aber vorher kein ehemaliger Mörder in dieser Stadt aufgehalten hatte oder wenn dieser woanders geholfen hatte, dann hätte dieser Mann nicht aufgehalten werden können. Die Geister taten diese Arbeit nicht, um die lebenden Menschen zu retten, sondern um sich selbst zu befreien. Das Sünden lag in der Natur des Menschen. Würde er einmal aufgehalten werden, würde er es zu einem anderen Zeitpunkt tun. Man konnte die Menschen nicht vor sich selbst bewahren. Das war es, was ich in den ersten drei Jahren meiner Arbeit als Hüterin gelernt hatte.
„Warum musste es so weit kommen? Warum habe ich das getan? Warum habe ich einen Menschen getötet?", schrie der Mann mich in diesem Augenblick an und ich erwachte aus meinen Gedanken. Langsam wurde es Zeit, seinen ersten Auftrag zu erledigen.
„Weil es deine Entscheidung war. Du hast das getan und du bist der Einzige, der es hätte verhindern können. Gib niemand anderem die Schuld an dem, was du von dir aus getan hast. Du hättest diesen Mann nicht töten müssen. Du hättest ihn anschreien können, ihn beschimpfen können und ihn aus dem Haus jagen können, aber du hast dich entschieden, die Pfanne zu nehmen und ihn zu töten. Das war deine Entscheidung und die Konsequenzen musst du jetzt ertragen."
Ich wusste, dass ich herzlos war, aber ich hatte nun einmal Recht. Es war seine Entscheidung gewesen.
„Woher weißt du das alles?", fragte er mich jetzt mit unterdrückter Stimme. „Woher weißt du, was ich getan habe?"
„Das ist mein Job", antwortete ich knapp und das war es tatsächlich. Ich bekam die Informationen, sobald ich ihn sah. Ich hatte seine leuchtend rote Gestalt gesehen und gewusst, was er getan hatte. Er hatte getötet. Den Liebhaber seiner Frau. Er war von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sie erwischt. In der Küche in seinem Haus. Und dann hatte er mit der Pfanne auf den Mann eingeschlagen. Immer und immer wieder. Er hatte ihn getötet und seine Frau hatte zusehen müssen.
„Ich sollte dir jetzt zeigen, wie du deine Schuld begleichen kannst", kündigte ich an. Mein Gegenüber hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt.
„Du musst andere Menschen davon abhalten, zu töten", wiederholte ich, was ich bereits vor seinem Ausbruch gesagt hatte.
„Um das zu tun, hast du ein paar Fähigkeiten."
Ich brachte ihn zum Schnipsen und wir verließen den Raum, in dem ich gelandet war. Hinter der weißen Flügeltür fanden wir einen weiteren Raum, der offensichtlich zu einem gewaltigen Herrenhaus gehörte. Mein Schüler hatte offenbar einen Streit eingefroren. Inmitten von teuren Sofas, schicken Glastischen und kunstvoll gearbeiteten Teppichen standen ein Mann und eine Frau, beide etwa um die fünfzig, und sie schienen sich nicht besonders wohlgesonnen zu sein. Wir traten näher an die beiden heran und mich beschlich das Gefühl, sie zu kennen, aber ich schob diesen Gedanken schnell beiseite. Reiche ältere Ehepaare waren nicht gerade die Art Mensch, mit der ich besonders viel zu tun hatte. Besonders nicht, wenn sie Sünder waren. Ich erkannte ein leichtes Orange in dem eingefrorenen Geist des Mannes, der gerade mit überaus wütendem Gesichtsausdruck die Frau fixierte. Ich trat näher an die beiden heran und musterte die Hand der Frau, die abwehrend die Arme hob und anscheinend gerade gesprochen hatte. Ein übertrieben fetter Klunker blitzte an ihrem Finger. Der Mann dagegen, der offensichtlich das Problemkind unter den beiden war - schließlich griff seine rechte Hand nach einem Gegenstand auf dem Couchtisch – trug einen schlichten Ring am Finger. Verheiratet. Anscheinend war der Mann vor mir gerade im Begriff dazu, seine eigene Frau zu töten. Ich drehte mich zu meinem Schüler um, der noch mit dem Anblick der regungslosen Menschen in diesem für ihn fremden Haus zu kämpfen hatte.
„Was glaubst du, wie kannst du hier einen Mord verhindern?"
Er sah mich etwas überfordert an und inspizierte dann auf mein Kopfnicken hin das Ehepaar. Sein Blick fiel auf die Hand des Mannes, die nach einer unglaublich hässlichen Statue griff, die wohl den Couchtisch schmücken sollte.
„Er will sie erschlagen", hauchte er und starrte weiter auf die Szene.
„Ja, genau das hat er vor, also wäre es besser, wenn du das verhinderst."
Ich verschwieg ihm, dass seine Tat nur die kurzfristige Rettung der Frau bedeutete. Er würde sie vielleicht nicht jetzt erschlagen, aber ihr nächster Streit könnte der Frau bestimmt zum Verhängnis werden.
„Wie halte ich ihn davon ab?", fragte mich der Geist, der noch immer etwas verunsichert war. Ob er sich wohl in diesem Moment wünschte, nicht gesprungen zu sein? Hätte er weitergelebt und ein langes Leben ohne weitere Sünden gehabt und ganz nebenbei seine Tat schrecklich bereut, dann hätte er all das hier vielleicht niemals durchmachen müssen.
„Eigentlich ist es immer ganz einfach." Ich schritt an den beiden Streitenden vorbei, darauf bedacht, sie nicht zu berühren.
„Meistens erfolgen Morde aus dem Affekt. Und auch nur solche kannst du verhindern." Ich warf dem Geist einen prüfenden Blick zu. „Die Mafia wirst du also nie vom Morden abhalten, aber jemanden wie ihn hier..."
Ich hatte den Couchtisch erreicht und deutete auf die hässliche Statue, die anscheinend irgendeinen Preis symbolisieren sollte.
„Du musst ihm nur die Waffe nehmen, dann ist schon Einiges getan", erklärte ich ihm und nahm die Statue in die Hand. Kurzerhand platzierte ich sie auf einem kleinen Tisch zwei Schritte weiter. Zum Teufel, wofür brauchte man so viele Möbel?
„Soll die Zeit jetzt wieder weitergehen?", fragte mich mein Schüler, während er mir eifrig zusah. Ich hob sofort abwehrend die Hände.
„Bloß nicht. Du vergisst, dass ich ein Mensch bin", rettete ich mich, bevor er wieder schnipsen und das Ehepaar sich wundern würde, wieso plötzlich eine fremde Frau in ihrem Wohnzimmer stand.
„Du bist ein Mensch?", tönte nun die ungläubige Frage. „Warum kannst du mich dann sehen und warum bist du nicht auch..."
Ich wusste, was er meinte und ersparte ihm weitere Ausführungen.
„Ich bin ein Mensch, aber ich arbeite für die Gemeinschaft der Hüter. Genau genommen bin ich ein Hüter. Es ist mein Job, euch Geistern die Welt zu erklären."
Der Geist nickte langsam. Wieviel er von dem verstand, was ich ihm erzählte, war fraglich.
„Wenn du allein bist, kannst du die Zeit jederzeit weiterlaufen lassen, die Menschen sehen dich nicht, aber ich bin da etwas auffälliger."
„Heißt das, das nächste Mal muss ich das allein machen?", fragte mein Schüler mich mit großen Augen. Ich seufzte.
„Es gibt unzählig viele Geister auf dieser Welt, also ja. Du bist jetzt auf dich allein gestellt."
Ich informierte ihn so knapp wie möglich weiter über die dreißig Tage und seinen Prozess und er nickte immer wieder vorsichtig. Er versuchte wenigstens, es zu verstehen.
„Ich muss jetzt gehen und wenn ich weg bin, kannst du wieder schnipsen."
Ich trat ein Stück von den Menschen weg und warf meinen Ring zu Boden.
„Simsalabim."
„Wir sehen uns dann vor Gericht?"
„Ja, das tun wir", antwortete ich und betrat den Kreis. Zurück ließ ich einen überaus verwirrten Geist und zwei Menschen, von denen nach meinem Abgang hoffentlich noch beide leben würden.
„Danke für deine Hilfe, Olivia."
Ich lächelte dem Geist, den ich – unangenehmerweise - während der letzten Minuten nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte, noch einmal zu und ließ mich direkt nach Hause teleportieren. Und ohne dabei gewesen zu sein oder etwas gesehen zu haben, wusste ich, dass mein Schüler diese zwei Menschen gerettet hatte. Ich landete wieder einmal in meinem Wohnzimmer und fing mir dafür sofort einen bösen Blick von Carlos ein, der noch immer überrascht auf meine Ankünfte reagierte.
„Du bist gnadenlos, weiß du das?", grummelte er und wandte seinen Blick wieder aus dem Fenster. Ich steckte mir den Ring auf den Finger und setzte mich neben ihn auf die Fensterbank.
„Du zahlst keine Miete also hast du auch kein Recht, dich zu beschweren", rechtfertigte ich mich und sah den Menschen dabei zu, wie sie die Straße vor meiner Haustür entlangeilten. Carlos schnaubte. Geld war schließlich nichts, was Geister in Mengen besaßen. Genau genommen besaßen sie gar kein Geld. Und auch nichts anderes. Sie waren ja nun einmal Geister. Was sie nicht zu ihrem Tod am Körper trugen, konnten sie ja nicht einmal berühren.
„War es heute spannend da draußen?", fragte ich, während ich weiter abwesend auf die Straßen New Yorks starrte.
„NCIS ist spannender", murmelte Carlos, wandte seinen Blick jedoch nicht vom Fenster ab. Ich stand schließlich auf und wanderte durch den Raum zum Kühlschrank, der Teil meiner offenen Küche war.
„Hast du vielleicht Lust, heute auszugehen?", fragte ich meinen Mitbewohner, während ich mir eine Limonade öffnete.
„Wollen wir ins Kino gehen?"
Ich sah das begeisterte Blitzen in Carlos Augen. Es tat mir schon fast leid, ihn enttäuschen zu müssen. Carlos liebte es, mit mir irgendwo hinzugehen. Besonders das Kino gefiel ihm. Zwar konnten wir in der Öffentlichkeit nicht miteinander reden, aber er fühlte sich in meiner Anwesenheit wohler, als wenn er allein unterwegs war. Tatsächlich gingen viele Geister ins Kino. Sie schlüpften einfach mit rein und bekamen etwas Unterhaltung. Das Leben als Verdammter konnte ja schließlich schon ziemlich langweilig sein.
„Nein, eigentlich wollten Cindy und Stella heute vorbeikommen", erklärte ich mich, bevor seine Vorfreude zu groß wurde. Carlos nickte langsam.
„Du willst also deine Ruhe haben", schlussfolgerte er dann. Ein schlechtes Gewissen überkam mich, wie jedes Mal, wenn Carlos beleidigt darauf reagierte, wenn ich ihn wegschickte, wenn meine Freundinnen kamen. Natürlich konnten sie ihn nicht sehen, aber mich irritierte es, wenn Carlos bei unseren Abenden daneben saß und – wie er es am Anfang gerne getan hatte – seinen Senf zu allem dazu gab, was wir beredeten. Also schickte ich ihn an solchen Mädelsabenden auf Tour durch die Stadt.
„Du weißt genau, dass es das nicht ist", antwortete ich ihm nur und ließ mich auf mein Sofa fallen. Sobald ich den Fernseher anschaltete, war Carlos an meiner Seite. Glücklicherweise lief kein NCIS.
„Wann kommen sie denn?", fragte er mich und folgte etwas gelangweilt den Nachrichten. Ich sah auf meine Armbanduhr.
„Um acht, Cindy muss vorher noch arbeiten. Und ich sag dir, wenn heute Abend irgendein Vollidiot ins Gras beißt, werde ich sauer", kündigte ich an, woraufhin Carlos schmunzelte.
„Ich denke nicht, dass Hüter dafür bestimmt sind, sich mit Menschen anzufreunden."
„Nur gut, dass du keine Ahnung von Hütern hast", erwiderte ich stur und wechselte den Sender.
🎶
Als Cindy und Stella pünktlich um acht eintrudelten, hatte mir noch kein weiterer Geist die Laune verdorben. Stella marschierte wie selbstverständlich zu meinem Fernseher und legte eine Disc ein. Stolz präsentierte sie uns das Cover von den Men in Black. Ich musste schmunzeln.
„Manchmal frage ich mich, wieso ich das eigentlich alles tue", seufzte Cindy währenddessen und bediente sich an meinem Kühlschrank. Mit einer Limo und einem Eis am Stiel fläzte sie sich auf die Couch. Stella warf mir einen mitleidigen Blick zu und nahm sich dann ebenfalls ein Eis aus dem Tiefkühlfach.
„Weil du jetzt ein paar Jahre durch die Hölle gehst, um dann Doktorin zu sein und Menschen zu retten", erinnerte sie Cindy und setzte sich neben sie.
„Ach ja, da war ja etwas."
Cindy lächelte schwach und kuschelte sich an Stellas Brust. Ich seufzte und gesellte mich zu ihnen. Situationen wie diese erlebten wir öfter. Cindy war im Gegensatz zu Stella, die ihr Jurastudium von ihrer wohlhabenden Familie finanziert bekam, von Teilzeitjobs abhängig, um ihr Medizinstudium zu stemmen. Stella nahm ihr bereits eine große Last von den Schultern, indem sie sie bei sich wohnen ließ, ohne Miete zu verlangen. Hätte ich nicht bereits einen Mehr-oder-weniger-Mitbewohner, hätte ich sie bestimmt auch aufgenommen. Doch auch das Studium an sich forderte viel, weshalb Cindy oft ausgelaugt bei unseren Treffen auftauchte. Heute hatte sie in einem Restaurant die Frühschicht übernommen und dort geputzt. Wie sie es schaffte, sich trotzdem noch völlig auf das Studium zu konzentrieren, musste man wohl ihrer eisernen Disziplin zuschreiben. Von mir konnte ich guten Gewissens sagen, dass ich bereits im ersten Monat total versagt hätte.
„Vielleicht heitert dich Will Smith ein wenig auf", begann Stella und schaltete den Fernseher ein. Ein verspieltes Lächeln schlich sich auf Cindys Gesicht.
„Habe ich euch schon erzählt, dass Jonathan Will Smith sogar ziemlich ähnlich sieht?", fragte sie, woraufhin wir sie mit überraschter Miene anstarrten.
„Ich glaub es nicht", begann Stella lachend. „Da angelst du dir endlich mal wieder einen Typen und dann ist es gleich ein zweiter Agent J."
Cindy und ich mussten kichern. Stella warf mir über Cindys Kopf hinweg einen erleichterten Blick zu. Wir hatten jeden Grund, über Cindys neue Beziehung froh zu sein. Ablenkung tat ihr immer gut. Unsere Angst, sie würde eines nicht allzu fernen Tages einen Burn-Out erleiden, war schließlich ständig da.
🎶
Zwei Men in Black Filme später drängte Cindy Stella dann zum Aufbruch. Den beiden stand ja nun einmal ein voller Tag an der Uni bevor. Nicht jeder konnte einen so flexiblen Job haben wie ich.
„Ich reiße dich wirklich nicht gerne von deinem Will weg, aber du würdest es morgen bereuen, wenn ich dich jetzt nicht nach Hause zerre", kündigte Cindy mahnend an und stand von dem Sofa auf, auf dem eine bockige Stella lag. Ich schaltete den Fernseher aus und musste grinsen. Ohne Cindys eiserne Disziplin würde Stella heillos im Unialltag untergehen.
„Ist ja gut, Mami."
Stella stand seufzend auf und ich brachte die beiden zur Tür.
„Sehen wir uns morgen im Café?", fragte Stella, während sie in ihre Sandalen schlüpfte. „Um eins? Dann bist du doch durch, Cindy, oder?"
Cindy nickte zustimmend und Stella ermahnte mich, ich solle das Treffen bloß nicht vergessen. Gerne hätte ich ihr gesagt, dass es nicht meine Schuld wäre, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffen würde, aber Berufsgeheimnis bleibt Berufsgeheimnis. Ich drückte Stella ihre DVD-Box in die Hand und öffnete die Tür. Während ich mich von meinen Freundinnen verabschiedete, erkannte ich Carlos Gestalt im Flur. Wahrscheinlich nur um mich zu ärgern, trat er im selben Moment durch die Türöffnung wie Cindy und Stella. Ich warf die Tür zu und schnaubte.
„Du weißt genau, dass das echt seltsam ist", erinnerte ich ihn und steuerte wieder die Couch an.
„Du bist einfach empfindlich, ich laufe nun einmal den ganzen Tag durch Menschen."
„War dein Ausflug denn wenigstens spannend?", fragte ich, während ich das Abendprogramm durchzappte.
„Die Welt ist doch schon ziemlich langweilig so nach achtzig Jahren", sagte er verträumt und stützte seinen Kopf auf die Hand. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Ein Geist, der Anforderungen stellte. Ernst zu nehmen war das wohl nicht.
„Und, was gab es bei deinen Damen so Neues?", fragte er auf seine auffällig unauffällige Art. Er gab es nicht gerne zu, aber er war interessiert an dem Leben von mir und meinen Freundinnen, schließlich hatte er selbst ja keines mehr.
„Cindy hat einen neuen Freund", eröffnete ich ihm also stolz. Carlos verzog das Gesicht.
„Meinst du den Typen, der aussieht wie der Hauptdarsteller in dem Streifen, den ihr euch hier ständig reinzieht?"
Nette Umschreibung. Carlos hatte noch nie Gefallen an der Men in Black Reihe gefunden. Aliens waren seiner Meinung nach unrealistisch. Diese Aussage klingt auch wirklich erst komisch, wenn du sie aus dem Mund eines Geistes hörst.
„Kennst du ihn etwa?", fragte ich verblüfft. Nicht einmal ich hatte Jonathan bisher zu Gesicht bekommen, die Sache zwischen den beiden war ja schließlich noch ziemlich frisch.
„Hab sie auf der Straße gesehen", erklärte Carlos. „Der Typ ist ein Egomane, kann ich dir jetzt schon sagen. Er wird ihr nur das Herz brechen."
„Mutige Aussage", kommentierte ich grinsend. „Bist du jetzt neuerdings ein Wisser?"
Der wütende Ausdruck auf Carlos Gesicht, der auf diese Frage zum Vorschein kam, brachte mich zum Lachen.
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