Kapitel 2

„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit."

„Amen", murmelte ich leise und hielt meinen Blick auf meine ineinander verschränkten Finger gesenkt. Der Pastor nickte uns freundlich zu und wollte gerade zu einer weiteren Predigt ansetzen, als die ganze Kirche in ihrer Ruhe und Besinnlichkeit gestört wurde.

„If everyone cared and nobody cried"

Nickelback war bestimmt nicht die angenehmste Methode, einen Gottesdienst zu unterbrechen und ich bekam auch sowohl von dem sonst so gutmütigen Pastor als auch meinen Sitznachbarn und anderen Besuchern einen scharfen Blick zugeworfen, woraufhin ich leise Entschuldigungen sprechend aufstand und den Gang entlang zur Tür lief.

„And I'm singing, Amen"

Vielleicht wirklich nicht die beste Kirchenmusik, aber dennoch die wirksamste Methode, um mir beizubringen, dass ich das zuvorkommende Vibrieren des Rings nicht ständig ignorieren sollte. Ich trat ins Freie und warf, ohne noch länger darüber nachzudenken, den Ring auf den eleganten Steinboden vor meinen Füßen.

„Simsalabim" Ich trat in den Kreis und wurde ohne weitere Kommentare oder Informationen am anderen Ende der Leitung wieder ausgespuckt. Ich erwartete missmutig eine stinkende Gasse oder ein ungemütliches Nebenzimmer, aber ich wurde mehr oder weniger positiv überrascht.

„Schön, dass auch Sie zu uns stoßen, Olivia." Die Stimme des Vorsitzenden, der wie immer auf dem höchsten Stuhl in dem antiken Gerichtssaal thronte, triefte geradezu vor Sarkasmus. Ich erwiderte nichts, sondern nickte ihm und seinen acht Gefährten, von denen mich einige freundlich und andere missbilligend musterten, nur kurz zu und setzte mich dann auf meinen kleinen – wunderbar bequem gepolsterten – Stuhl hinter einem ebenfalls kleinen Holztisch. Auf der glatten Oberfläche lag eine dünne Mappe aus Pappe. Ich schlug sie auf und frischte – wie bei jedem Gerichtsverfahren – meine Erinnerung auf. Das Bild eines etwa mittvierzigjährigen Mannes blickte mir entgegen. Ich legte den Kopf schief. So tot und glasig, wie ich sie kannte, ähnelten sie ihren Fotos aus Lebzeiten nicht mehr besonders. Die fehlende Farbe, die genaueren Konturen von Gesicht und Körper. Ich sah das Bild noch einige Sekunden an, bevor meine Erinnerung zurückkehrte. Sein Name stand glücklicherweise neben dem Foto, sonst hätte ich mich bei bestem Willen nicht mehr daran erinnern können, aber ich erinnerte mich an seine Farbe. Das Orange der Stufe sechs kam mir wieder vor Augen und ich schüttelte mich. Wer auch immer über die Farben der Geister entschied, hatte definitiv etwas gegen Steuerhinterzieher. Eine Form des Betrugs und, wie es bei diesem Herrn ebenfalls der Fall war, meist kein Einzelfall. Reiche Menschen, die noch reicher werden wollten. Wer konnte die schon leiden?

Meine Aufmerksamkeit wurde nun von den Wachen auf sich gezogen, die vor den erhöhten Plätzen des Rates aus einem Kreis traten. Zwischen ihnen erschien der Geist des Mannes, dessen Akte vor meiner Nase lag. Bei seinem Anblick spürte ich schon lange nicht mehr die Trauer, die ich bei den ersten roten Geistern vor Gericht verspürt hatte. Zu Beginn tat mir jeder Geist leid, der es nicht geschafft hatte, seine Schuld zu begleichen, egal was er zu Lebzeiten verbrochen hatte, aber mittlerweile ließ mich so etwas kalt, weshalb ich auch nichts empfand, als ich den orangenen Schimmer auf dem glasigen Körper ausmachte.

„Mr. Smith, Sie wissen, warum Sie hier sind?", fragte der Vorsitzende jetzt und warf dem Mann einen scharfen Blick zu. Alle Mitglieder des Rates waren Träger des Hütergens und sie hatten gerade dasselbe Bild vor sich, wie ich. Sie sahen ebenfalls die Farbe und damit das Versagen und die vermutlich künftige Verdammnis des Mannes. Einzig und allein die Wachen, die die Gestalt der Geister nur mithilfe der Ringe, die sie trugen, sehen konnten, allerdings nicht ihre Farbe, konnten sich nicht vorstellen, wie dieses Urteil ausfallen würde. Auch für orangene Geister bestand noch eine Chance auf eine Befreiung, da unsere Abteilung der Wisser immer noch ein Wörtchen mitzureden hatte und auch aussagen konnte, dass sich der Angeklagte genug bemüht hatte, aber die Wisser waren keine Geisterfreunde, weshalb sie sich nicht besonders engagiert für sie einsetzten.

Mr. Smith, genau genommen Thomas Smith, suchte nun hilfesuchend meinen Blick. Er kannte nur mich, alle anderen Menschen in diesem Raum waren Unbekannte für ihn. Aus diesem Grund betrachteten mich alle Geister vor Gericht als eine Art Bezugsperson. Ich nickte Smith mehr oder weniger freundlich zu, woraufhin dieser seinen Blick wieder dem Vorsitzenden zuwandte.

„Ja, Euer Ehren. Sie verhandeln heute über meine Zukunft", antwortete er etwas zögerlich und schielte wieder kurz zu mir herüber. Er hatte also zumindest grob im Gedächtnis behalten, was ich ihm über den Tag seines Gerichts erklärt hatte.

Der Vorsitzende, der es offenkundig genoss, so von den Geistern angesprochen zu werden – was viele von ihnen taten, da wir nun einmal in einem Gericht saßen und Vorsitzender Carter immer eine dunkle Richterrobe trug – faltete nun die Hände und fixierte Smith mit einem Blick, bei dem wohl jeder Mensch weinend zusammengebrochen wäre. Auch der heutige Angeklagte schien sich nicht sonderlich wohlzufühlen.

„Sie haben in mehreren Fällen Betrug an dem Staatenbund der USA begangen, deshalb kamen Sie zurück, das ist Ihnen bekannt?", fragte Carter, ohne mich anzusehen. Ärger kochte in mir auf. Natürlich war ihm das bewusst. Ich machte meinen Job, ich war ja schließlich nicht Sicilla.

„Ja, das ist es", antwortete Smith nach einem weiteren Blick zu mir.

„Und Ihnen war bekannt, was Sie tun müssen, um einen Freispruch zu bekommen?"

„Ja, das war es."

Carter sah sich zufrieden in der Runde um und läutete somit die Abstimmung ein.

„Verehrte Mitglieder des hohen Rates", wandte er sich anschließend an seine Kollegen. „und Ms. Watson"

Der leichte Anflug der Missbilligung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Vorsitzender Carter war nun einmal ein echter Spießer. Da ich so ziemlich das Gegenteil eines Spießers war und lieber alles nicht zu schwernahm, was Carter natürlich sofort als schlechte Arbeitsmoral einstufte, war von Beginn an klar gewesen, dass wir nicht die besten Freunde werden würden. So war es dann natürlich auch gekommen und nun strafte er mich jedes Mal mit glanzloser Verachtung, wenn ich wieder einmal zu unzuverlässig für seinen Geschmack war. Aber wenn ich ein wenig darüber nachdachte, war er selbst schuld, dass er mich immer mehrmals anklingeln musste, bis ich reagierte, schließlich legte er Gerichtstermine an Sonntagen nur zu gerne zu Zeiten der Messe.

„Kommen wir zu der Abstimmung", fuhr Carter fort und Smith musste sich den nächsten sechzig Sekunden einer ziemlich genauen Musterung unterziehen. Unter den Blicken der neun Ratsmitglieder und meiner Wenigkeit fühlte er sich sichtlich unwohl. Ich musterte jedoch ungnädig seine gläserne Oberfläche, um zu einem gerechten Urteil zu kommen. Ich konnte klar erkennen, dass er nicht untätig gewesen war in den letzten dreißig Tagen, aber die Begleichung war nun einmal eine schwierige Aufgabe. Nicht jeder konnte sie erfüllen.

„Seid ihr zu einem Urteil gekommen?", donnerte Carters Frage durch den Raum. Fast gleichzeitig standen alle zehn Stimmberechtigten auf und James Morris, der am letzten Ende des hölzernen Tresens saß, begann zu sprechen.

„Eine Schuld der Stufe drei", verkündete er. Ich krampfte mich zusammen. James entschied oft danach, wie sehr er die Angeklagten verabscheute. Dafür hasste ich ihn, aber mein Mitspracherecht in den Angelegenheiten des Rates belief sich auf ungefähr null.

„Eine Schuld der Stufe zwei", kam es von Leila Clark. Leila war meine engste Verbündete im Rat und auch die wahrscheinlich sympathischste Person unter all seinen Mitgliedern. Der Großteil des Rates bestand aus alten Männern oder Spießern wie Carter. Leila dagegen war ein richtiger Revoluzzer. Sie war immer freundlich und im Gegensatz zu den meisten anderen ihrer Kollegen hatte ich sie schon öfter lachen gesehen. Zudem waren ihre Urteile immer fair, egal wie schlecht ein Geist vor seinem Tod auch gewesen sein mochte.

„Eine Schuld der Stufe zwei." Diese Stimme gehörte zu Charles Sancho, unserem spanischen Einwanderer, der den letzten Platz am Tresen hatte. Nun war ich an der Reihe. Mein Urteil war eigentlich schon gefallen, als Smith den Raum betreten hatte, deswegen musste ich nicht mehr lange überlegen.

„Eine Schuld der Stufe zwei", wiederholte ich die Worte der acht anderen – abgesehen von Morris natürlich. Sogar Carter hatte sich für eine zwei ausgesprochen, denn so sehr er mir auch auf die Nerven fiel so musste ich doch zugeben, dass er immer fair sein Urteil fällte.

„Der Angeklagte befindet sich also nach deutlicher Mehrheit auf der Stufe zwei. Möge nun unser Wisser für ihn sprechen."

Unser Angeklagter bekam die Chance auf einen Anwalt. Was er davon hielt, wusste er offenbar selbst noch nicht, denn sein Blick huschte unruhig durch den Raum. Eigentlich war es auch gemein, wie hier mit den Angeklagten umgegangen wurde. Sie bekamen weder bei ihrer Rückkehr aus der Totenwelt noch bei Beginn des Prozesses alle Informationen, die die Gemeinschaft und die Geistwelt betrafen.

Neben mir ertönten leise Schritte, die ganz klar von einem Wisser stammten. Ich wandte mich dem Eingang zu meiner linken zu und erkannte Ölfus, der mit erhobenem Haupt den Raum betrat. Ich seufzte. Smith hatte verloren.

„Hoher Ölfus, erzähle du uns, wie es um den Angeklagten steht."

Ich lachte in mich hinein. Carter hasste es abgrundtief, die Wisser anzusprechen, als wären sie höhere Wesen. Sie besaßen tatsächlich eine große Macht, schließlich konnten sie noch mehr in den Geistern lesen als die Hüter, aber sie genossen ihre Talente viel zu sehr. Sie waren arrogante Wesen und respektierten nicht einmal die Angesehensten unter den Mitgliedern des Rates. Leider Gottes brauchten wir diese Geschöpfe bei unserer Arbeit. Sie berieten uns nicht nur bei Gerichtsverfahren, sondern fertigten auch mit ihrem Wissen und ihrer Magie, bei der nicht allgemein bekannt war, woher sie stammte, die Ringe für uns und unsere Wachen. Nun stolzierte gerade der arroganteste aller Wisser auf Smith zu und musterte ihn dabei beurteilend. Von ihnen schämte sich keiner ihrer Vorurteile wegen. Sie verabscheuten die Geister ganz offen und ehrlich.

Ölfus flüsterte Smith etwas zu, was ich nicht verstand und was wahrscheinlich als Beruhigung für den völlig überforderten Angeklagten diente, und begann dann mit seiner Prozedur. Seine Hand legte sich auf die Brust seines Mandanten und wir alle beobachteten gespannt das goldene Licht, das sich über die gläserne Oberfläche schlängelte. Nach etwa dreißig Sekunden, in denen Smith mit großen Augen auf seinen Körper gestarrt hatte, ließ Ölfus von ihm ab und zog sich zurück. Ohne sich mit seinem Mandanten abzuklären oder auf eine Aufforderung seitens Carter zu warten, räusperte er sich begann er mit seiner Stellungnahme.

„Der Angeklagte hat viel Zeit in seine Begleichung investiert. Es scheiterte im Endeffekt" Er ließ eine kurze spannende Pause, in der er alle Anwesenden kurz mit seinen stechenden Augen fixierte. „an seiner Blödheit."

Gott, wie ich diese Wesen hasste. Solche Momente waren wahrscheinlich die einzigen, in denen Carter und ich genau dasselbe dachten.

„Der Angeklagte hatte Schwierigkeiten damit, Situationen zu erkennen, in denen er eingreifen musste." Sein abfälliger Blick streifte uns alle erneut. „Wie ihr mit diesen Umständen umgeht, ist dann jetzt eure Sache."

Mit diesen Worten, die trotz vulgärer Ausdruckweise immer melodisch und elegant klangen, stolzierte Ölfus davon und ließ Smith einfach stehen. Den Ärger über den Auftritt des Wissers schluckten alle Anwesenden erfolgreich hinunter und Carter ergriff wieder das Wort.

„Wir haben den Standpunkt des Wissers gehört, nun lasst uns zur Abstimmung schreiten."

Meine Entscheidung fiel auch beim zweiten Mal schnell. Morris begann wieder mit seinem Urteil.

„Verdammnis." Trocken. Einfach. Hart. Zu hart. Smith schluckte sichtlich.

„Befreiung." Leila war noch immer auf meiner Seite.

„Verdammnis", kam von Eleanor Scott, die ein Problem mit Geistern hatte, die aus einfacher Blödheit ihre Sünden nicht begleichen konnten. Dieses Urteil war also nicht überraschend.

„Befreiung."

Vorsitzender Carter ließ sich mehr als genug Zeit, bevor auch er seine Stimme abgab.

„Befreiung", stimmte er dann aber auch und setzte sich wieder. Ohne hinzusehen wusste ich, dass er sich mit diesem Urteil alles andere als sicher gewesen war.

„Befreiung."

„Verdammnis."

„Verdammnis."

Verdammt. Eleanor war mit ihrer Einstellung definitiv nicht die Einzige.

Sancho blickte zwischen den anderen Ratsmitgliedern und mir hin und her. Seine Stimme entschied nun zwischen Mehrheit und Unentschieden. Im Falle eines unklaren Ergebnisses entschied die Stimme des Vorsitzenden. Ich atmete erleichtert auf. Smith würde freikommen. Sancho konnte nun sagen, was er wollte. Ich entgegnete seinem Blick für einen Moment, woraufhin er endlich etwas sagte.

„Befreiung."

Ich nickte ihm zu und wiederholte anschließend seine Worte. Unser Job war es, gegenüber den Sündern fair zu sein. Jede Verurteilung zur Verdammnis warf in meinem Kopf und mit Sicherheit auch in denen der anderen die Frage auf: Wie fair war dieses Urteil gewesen? Wer hatte aus Abscheu gestimmt und wer aus gutem Grund?

„Damit sind wir zu einem mehrheitlichen Urteil gelangt", fasste Carter jetzt diese alles andere als einstimmige Entscheidung zusammen, „Der Angeklagte wird hiermit freigesprochen."

Smith entspannte sich sichtlich. Sein Blick suchte und fand mich und ich sah Dankbarkeit in seinen Augen, obwohl ich dieses Urteil definitiv nicht aus Sympathie ihm gegenüber gefällt hatte.

Derweil trat Carter von seinem erhobenen Platz hinunter und gesellte sich zu Smith auf Augenhöhe.

„Mit der Kraft und der Verantwortung des mir verliehenen Amtes"

Ich würde niemals darüber hinwegkommen, dass diese Prozeduren begannen, wie Hochzeiten es taten.

„erkläre ich Sie, Thomas Smith, hiermit für befreit von Ihren Sünden und damit befreit von ewiger Verdammnis."

Die nächsten Worte sprach Carter mit der Oberfläche seines Ringes, den er als Vorsitzender von seinem Vorgänger hinterlassen bekommen hatte, auf der Stirn des Angeklagten.

„Sie sind nun frei."

So unspektakulär diese Worte waren, so bedeutender war das, was darauffolgte. Der glasige Körper Smith zersprang in Scherben, die, bevor sie den Boden erreichten, verglühten. Es wirkte grausam, doch das war es nicht. Smith Geist war nun frei. Nichts blieb dort zurück, wo eben noch der ängstliche Smith in seiner durchscheinenden Hülle gestanden hatte. Und auch genau so als wäre nichts gewesen, drehte sich Carter zu uns um.

„Mittagspause, meine Damen und Herren."

Die Versammlung löste sich auf. Wir erhoben uns und traten aus dem Gerichtssaal in den großen Flur. Ich fand mich sofort in dem Aufenthaltsraum an der Kaffeemaschine wieder und nur wenige Sekunden später tauchte Leila mit derselben Idee auf.

„Ölfus bringt uns alle noch dazu, zu kündigen", seufzte sie und ließ sich eine Tasse Kaffee von mir einschenken.

„An der Stelle des Rates würde ich den Wissern ja Elektrohalsbänder umbinden, die bei jedem unfreundlichen Wort losgehen, aber auf mich hört ja niemand", erwiderte ich lächelnd, woraufhin Leila auflachte. Ich genoss die Mittagspausen mit ihr. Sie war nicht wirklich in meinem Alter, sondern auch schon in ihren Vierzigern, aber sie war die einzige Person aus dem Rat für Gerichtsentscheidungen, die mit mir auf einer Wellenlänge war.

„Ich verstehe sowieso nicht, warum wir sie überhaupt brauchen, wo wir doch dich haben", überlegte sie nach einem Schluck heißem Kaffee.

„Du weißt, dass ich nicht genau genug bin."

Wir setzten uns auf eines der Sofas. „Ich bin wie die Handleserin unter den Wahrsagerinnen."

Leila musterte mich spöttisch.

„Du erzählst noch mehr Schwachsinn als deine Kollegen?"

Lachend schüttelte ich den Kopf.

„Ich kann nur Bruchstücke von dem sehen, was die Geister vor und nach ihrem Tod getan haben. Die Wisser wissen eben alles."

Leila zuckte mit den Schultern.

„Würden sie das nicht, hätten sie weder den Namen noch den Job verdient."

Ich stimmte ihr zu und trank weiter meinen Kaffee, während ich innerlich Carter dafür verfluchte, dass ich meinen ganzen Sonntag hier verbringen würde.

„Du solltest dir einen Kalender zulegen", schlug Leila jetzt vor, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich schnaubte abfällig.

„Ich arbeite genug, da kann ich mich wohl darauf verlassen, dass mich jemand anruft."

„Wenn du rangehen würdest", feixte Leila und lachte in sich hinein. Ich schubste sie gegen die Schulter und sie konnte gerade noch rechtzeitig verhindern, dass der Kaffee das Sofaleder zerstörte.

„Ich war in der Kirche, das war echt unpassend", rechtfertigte ich mich, was Leila nur ein Kopfschütteln entlockte.

„Ich werde niemals verstehen, wie du bei all dem, was hier passiert, noch gläubig sein kannst", erwiderte sie und sah nachdenklich in ihre Tasse. Ich konnte sie sehr gut verstehen. Manchmal wusste ich es ja schließlich selbst nicht so wirklich. Ich hatte mein ganzes Leben an eine Welt Gottes geglaubt und an das Leben nach dem Tod. Im Himmel, nicht als gläserner Geist zurück auf der Erde. Als ich dann sechzehn wurde und in diese Welt hineingeriet, stellte sich diese ganze Weltanschauung auf den Kopf. Bis heute wusste ich noch nicht ganz genau, was ich denn jetzt glauben sollte, aber wenn Carter mich ständig aus den Gottesdiensten zerrte, konnte sich das ja auch nicht ändern.

🎶

Ich hasste Gerichtstage. Sie fielen oft auf einen Sonntag, was sie nicht weniger anstrengend machte. Prozess um Prozess um Prozess. Glücklicherweise mussten wir an diesem Tag keine Verdammnis aussprechen, was sich an Morris schlechter Laune abzeichnete. Eigentlich sollte er froh sein, dass die Geister nach dem Prozess verschwanden und er sie niemals auf der Straße antreffen würde, aber er sah das wohl anders und ich stellte das einfach nicht in Frage. Ich stellte nie etwas in Frage, denn für den großen Rat war ich nur eine kleine Hüterin. Kein Mitspracherecht, wenn man von dem Gericht mal absah. Wahrscheinlich stand ich in den inneren Kreisen der Gemeinschaft auf derselben Stufe wie die Wisser: nervig, aber nötig.

Entlassen wurden wir nach der Freisprechung einer Frau, die ihren Mann zehn Jahre lang betrogen hatte. Hin- und hergerissen, ob ich sie dafür verachten oder doch eher bewundern sollte – schließlich waren zehn Jahre, in denen der Mann nichts gemerkt hatte, eine wirklich lange Zeit – sprach ich sie gemeinsam mit dem einstimmigen Urteil der anderen Mitglieder frei. Bei ihrer Ankunft war sie so durchsichtig gewesen, dass ich sie beinahe übersehen hatte. Nun war sie endgültig weg und wir mussten darauf warten, dass in vielen Jahren, wenn ihr Mann ebenfalls sterben würde, wir ihn wegen des Mordes an seiner Frau vor Gericht stehen haben würden. Doch bis dahin würde es noch lange dauern und ich war auch zu fertig, als dass ich weiter darüber nachdenken konnte. Ich schleppte mich aus dem Saal und verabschiedete mich von Leila, die nicht minder k.o. auf mich wirkte. Mithilfe meines Ringes fand ich mich nur wenige Minuten nach Urteilssprechung schon wieder in meinem Apartment wieder. Carlos, der ziemlich entspannt auf meinem Sofa gesessen hatte – bitte fragt mich nicht, wie das möglich ist – zuckte erschrocken von dem laufenden Fernseher zurück und starrte mich an.

„Kannst du dir nicht angewöhnen, im Flur zu landen?", fragte er empört und entspannte sich wieder in meinen Kissen. Farblich passte er überhaupt nicht auf mein knallrotes Sofa, schließlich umgab ihn nur ein leichtes Orange, aber ihn interessierte das natürlich nicht.

„Ich wohne hier, also sag mir besser nicht, was ich zu tun habe", erwiderte ich nur und lümmelte mich neben ihn. Im Fernsehen, das ich vor meinem Gang zur Kirche heute Morgen für ihn angelassen hatte, lief NCIS und die Folge, die gerade über den Bildschirm flimmerte, hatten sowohl Carlos als auch ich schon hundert Mal gesehen, aber das störte ihn absolut nicht.

„Und du solltest sowieso froh sein, dass du noch hier wohnen darfst. Wenn der Rat rausfindet, dass du für die hohen Stromkosten verantwortlich bist, die sie bezahlen müssen, bist du ganz schnell wieder draußen", schob ich nun hinterher und griff nach der Fernbedienung.

„Ist ja gut, ist ja gut", gab Carlos nach und sah dabei zu, wie ich die Sender wechselte.

„Du warst lange weg", stellte er dann unnötigerweise fest.

„Zwölf Geister freigesprochen", beantwortete ich seine ungestellte Frage.

„Zwölf?"

„Ja, zwölf. Allesamt fleißig gewesen."

„Und wie geht es den Wissern?", fragte Carlos so beiläufig wie möglich. Ich seufzte. Er hatte noch eine Rechnung mit den Wissern offen und erkundigte sich jedes Mal, wenn ich im Gericht gewesen war, nach ihnen.

„Arrogant wie immer."

Dass Carlos die Wisser nicht leiden konnte, war wirklich keine Überraschung. Einerseits konnte niemand diese Wesen leiden, andererseits hatten sie in seinem Fall auch echt etwas hinterhältig agiert. Carlos war ein Geist. Kein lebendiger, pulsierender Geist im Körper eines Menschen, sondern ein toter. Aus Glas und mit einem Orange der Stufe drei überzogen. Und er war noch etwas anderes. Er war ein Opfer Sicillas. Eine sehr dunkle Epoche in der Geschichte der nordamerikanischen Geistgemeinschaft.

Sicilla war eine Vorgängerin von mir gewesen. Sie lebte vor ungefähr sechzig Jahren und hatte ihren Job auf gemeinste Art und Weise nicht gemacht. Sie hatte sich nicht vor den Rat gestellt und gesagt, sie würde nicht arbeiten, sondern sie hatte den Ring in einer Schublade vergammeln lassen und die Geister unvorbereitet ins Gericht geschickt. Keiner von ihnen war jemals freigesprochen worden und den Rat interessierte es nicht weiter. Sie dachten einfach, die Geister wären zu dieser Zeit faul gewesen, aber was sie nicht wahrhaben wollten war, dass keiner von ihnen überhaupt die Chance bekommen hatte, ihre Sünden zu begleichen. Carlos war einer von ihnen gewesen und Auslöser für seine Verdammnis waren im Wesentlichen – neben Sicilla selbst natürlich – die Wisser. Genau genommen war es ein Wisser namens Lavis gewesen, der, nachdem die Sache publik wurde, kurzerhand aus seinem Amt entlassen wurde. Lavis hatte ihm damals, nachdem Carlos dreißig Tage verloren durch die Welt geirrt war und schließlich ohne jegliche Ahnung von der Gemeinschaft vor Gericht erschienen war, in den Geist geschaut und gesehen, was Sicilla getan hatte – oder was sie eben nicht getan hatte. So ein Vorgehen hätte gemeldet werden und Sicilla ihrem Amt enthoben werden müssen, aber Lavis meldete nicht, was er gesehen hatte. Stattdessen deklarierte er Carlos als Faulpelz und ließ ihn verdammen. Ein Spion des europäischen Rates hatte dann schließlich Sicilla auf eine Vermutung hin beschattet und herausgefunden, dass sie ihr fröhliches Leben auf den Kosten des Rates lebte, ohne irgendeine Arbeit zu verrichten, und hatte sie verraten. Von dort an wurden die aktiven Hüter erst Teil der Gerichtsprozesse und Geister mussten aussagen, dass sie die nötigen Informationen erhalten hatten. Sünder hin oder her, sie hatten alle Rechte.

„Ich hasse diese Wesen", sagte Carlos mit fester Stimme und wiederholte damit, was er mir bestimmt schon tausend Mal gesagt hatte.

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