Kapitel 13
Es dauerte nicht lange, bis wir in unserem kaiserlichen Gemach Besuch bekamen. Stacey tauchte von zwei Wächtern eskortiert vor unserer Zelle auf. Sie war aufgebracht und besorgt. Hoffnung, dass ich von ihr keine Standpauke zu erwarten hatte, keimte in mir auf.
„Ich glaube, die Welt spielt langsam verrückt", sagte sie, als sie vor den Gittern auftauchte. Sie strich sich durch die wirren Haare und sah eindeutig erschöpft aus. Wahrscheinlich hatte sie das ganze Gebäude durchkämmt, um herauszufinden, wieso wir hier waren.
„Was haben die gegen uns?", fragte ich schnell. Diese Frage brannte mir auf der Zunge und ich war damit wahrscheinlich auch nicht die Einzige. Außerdem wollte ich auch, dass Devan endlich von seiner Theorie, die Verhaftung wäre allein meine Schuld, abließ. Ich wollte nicht, dass er so schlecht von mir dachte. Ich war immer noch eine Hüterin und ich tat mein Bestes, um diesen Job gewissenhaft zu erfüllen. Ich war vielleicht nie auf einer Ausbildung zur Hüterin gewesen und war die ersten sechzehn Jahre meines Lebens als ganz normaler Mensch aufgewachsen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich völlig unzuverlässig war.
„Sie gehen davon aus, dass ihr diese sechs Geister getötet habt", begann Stacey hektisch. Ich trat neben Devan und Korrin an das Gitter.
„Wer ist er?", fragte Korrin, der als Einziger einen Funken Ruhe in seinem Körper hatte. Er hatte die Hände an die Gitterstäbe gelegt und sah Stacey erwartungsvoll an. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Regung. Keine Wut, keine Angst und auch keine Verzweiflung. Ich dagegen ähnelte vermutlich eher der aufgelösten Stacey. Wieder einmal verwünschte ich meine beiden Kollegen für ihre Fähigkeit, ein absolutes Pokerface zu bewahren.
„Wer?", fragte ich verwundert, ehe Stacey Korrin antworten konnte.
„Der sechste Geist", erwiderte Korrin unbeeindruckt. Jetzt fiel bei mir der Groschen. Wir wurden angeklagt, sechs Geister getötet zu haben, aber wenn meine Zählkünste mich nicht endgültig verlassen hatten, war Jessie der fünfte Tote gewesen. Entweder hatte die Gemeinschaft sich peinlicherweise verzählt oder wir hatten etwas nicht mitbekommen. Etwas sehr Essenzielles.
„Er ist ziemlich zeitgleich mit dem fünften aufgetaucht", erklärte Stacey und tippte nervös gegen die Gitterstäbe.
„Warum wurden wir nicht alarmiert?", fragte ich sofort.
„Es gab zuerst keinen Alarm. Erst als er tot war und da wusste ich, dass du gerade bei Jessie warst. Ich wollte dich nicht sofort weiterschicken."
„Wie geht das?", fragte Devan unzufrieden. „Wieso können Geister getötet werden, ohne dass ein Alarm eingeht? Besonders wenn der Mörder wirklich ein Geist ist."
Von dem Blick, den er mir zuwarf, konnte ich nicht wirklich sagen, ob er mir glaubte. Es war einfach so widersprüchlich.
„Mich interessiert eher die Frage, warum die euch für die Mörder halten – und mich gleich mit", warf Korrin ein. Er hatte Recht. Das war in diesem Moment unser erstes Problem, das es zu lösen galt. Ich wandte meinen Blick zu Stacey. Sie sah zu Boden und schien nicht sicher, was sie jetzt sagen sollte.
„Sag schon, wir müssen das wissen. Vielleicht kann man das aufklären, schließlich ist das alles ein Missverständnis", drängte ich. Stacey hob abrupt den Kopf und sah mich starr an.
„Es geht darum, dass du so kurz vor den Morden da warst. Bei den Geistern", antwortete sie mir dann schnell. Ich schnaubte.
„Das ist mein Job, was denken die denn, was ich den ganzen Tag tue?"
„Dein Job ist es, die Geister einzuarbeiten", entgegnete Stacey und es klang wie ein Widerspruch. „Du musst sie nicht öfter als einmal besuchen. Dafür hast du nun einmal keinen Grund."
„Wie bitte?", fragte Devan mit unterdrückter Stimme. Sein wütender Blick wanderte zu mir.
„Wieso besuchst du aktive Geister? Reicht es nicht, dass du mit einem Verdammten zusammenwohnst?", warf er mir vor, wobei seine Stimme lauter wurde. Korrin legte ihm bestimmt die Hand auf die Schulter. Die Stimme brach ab, aber der verurteilende Blick blieb.
„Das ist doch Schwachsinn. Jessie hat in New York gewohnt. Dann kann es ja mal passieren, dass wir uns über den Weg laufen. Außerdem hat er meistens mich aufgesucht und nicht andersherum", rechtfertigte ich mich, während ich in meinem Kopf nach Vorfällen suchte, die mich belasten konnten. War es verboten, mit Geistern zu kommunizieren? War es verboten, mit ihnen zu reisen?
„Und wie steht das mit Russell?", kam es in leisem Tonfall von Stacey. Ich sah sie fassungslos an. An ihrem Ausdruck auf dem Gesicht konnte ich sehen, dass sie diese Karte nicht gerne spielte.
„Was hat Russell damit zu tun?", erwiderte ich vorsichtig.
„Er ist der sechste, Olivia", antwortete mir Korrin, der vermutlich Stacey gelesen hatte. Ich sah zwischen den beiden fassungslos umher.
„Wie meint er das, Stacey?", fragte ich dann mit zittriger Stimme. Wenn Russell der sechste tote Geist war, dann war die Lage schlimmer als gedacht. Wie erklärte man dem Rat, man hätte einen Geist besucht, um seine beste Freundin zu beschützen? Wie erklärte man ihm, dass man so in den natürlichen Lauf der Dinge eingreifen wollte? Wie konnte ich all das erklären, ohne meine Berufsuntauglichkeitserklärung gleich mitzuunterzeichnen?
„Russell ist tot, Olivia. Und du warst bei ihm. Das ist keine Woche her. Der Rat sieht da eine Verbindung. Genauso wie mit Jessie. Sie glauben nun einmal nicht an Zufälle", sprach Stacey leise weiter. Die Wachen, die sie hergeführt hatten und dann in den Hintergrund getreten waren, traten nun wieder zu ihr heran.
„Vorsitzender Carter möchte Sie sehen", sagte die eine leise.
„Und zwar jetzt", fügte die zweite unfreundlich hinzu. Stacey warf uns noch einen letzten Blick zu und folgte den beiden dann aus dem Gefängnistrakt hinaus. Ich ließ mich erschöpft an der Zellwand hinuntergleiten. Wenn es so war, wie Stacey sagte, dann steckten wir jetzt in einem Schlamassel – oder mindestens ich. Warum Devan und Korrin hier waren, verstand ich noch nicht wirklich. Glaubte der Rat etwa, sie hätten mir geholfen, sechs Geister zu erwürgen? Und wie hätte ich das überhaupt machen sollen? Ich konnte die Zeit nicht anhalten.
„Wie kommen die darauf, dass ihr da auch drinhängt? Und warum hätte ich Geister in England töten sollen? Warum hätte ich überhaupt irgendeinen von ihnen töten sollen?", fragte ich verständnislos in die Runde. Natürlich musste sofort Devan seinen Senf dazugeben.
„Denen ist völlig egal, welchen Grund du gehabt hast. Die sehen nur, dass du in privatem Kontakt mit den Sündern standest, und das reicht ihnen. Und weil wir mit dir arbeiten, sind wir mit schuld. Ich habe dir gleich gesagt, dass deine alberne Beziehung zu den Geistern noch ein Problem darstellen wird", wetterte er gegen mich. Ich fuhr mir durch die Haare.
„Aber ich wollte denen doch nie etwas tun, ich wollte doch nur..." Ich sprach nicht weiter. Wenn ich Devan jetzt auch noch verraten würde, weshalb ich mit Russell gesprochen hatte, dann würde er mich mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit hier und jetzt umbringen.
„Eigentlich hat Olivia Recht", gab Korrin mit ruhiger Stimme zu.
„Die können uns verdächtigen, aber ohne wirklich handfeste Beweise können die uns nicht verurteilen. Olivia war vielleicht bei zweien der Geister und bei dem Tod des einen sogar live dabei, aber das erklärt noch immer nicht die Morde der anderen vier. Besonders die in England nicht. Die Geister dort hat sie ja nicht einmal gekannt."
„Aber ich", warf Devan ein. „Und deswegen bin ich wahrscheinlich auch hier."
Wir sahen betreten zu Boden. Korrin lag mit seiner Theorie bestimmt nicht so falsch, aber in diesem Moment konnte sie mich dennoch nicht beruhigen. Es ging hier nicht nur um die Morde. Ich würde dem Rat erklären müssen, warum ich bei Russell gewesen war, und damit könnte ich meinen Job aufs Spiel setzen.
„Die werden kein Auge zudrücken, weil wir Hüter sind, nehme ich an?", fragte ich eher rhetorisch in die Runde. Korrin schüttelte den Kopf und Devan sah mich noch immer düster an.
„Aus diesem Schlamassel müssen wir uns selbst rausmanövrieren", kündigte Korrin an. Seine hellen Augen ruhten auf mir.
„Du musst erzählen, weshalb du bei dem Toten warst. Wenn der Rat sieht, dass du einen Grund gehabt hast, den man vielleicht sogar beweisen kann, dann lassen sie vielleicht von ihrer Hüter-töten-Geister-Theorie ab."
Ich scharrte mit der Fußsohle über den glatten Boden. Meine mentale Mauer war aufrecht und das sollte sie auch bleiben. Wenn Korrin meine Gedanken jetzt hören konnte, dann würde ich bestimmt wirklich nicht mehr lebendig hier rauskommen.
„Olivia, erzähl es uns!", forderte Devan ungeduldig. Ich schüttelte den Kopf.
„Das ist meine Sache, das geht euch nichts an", erwiderte ich so stur wie möglich, während ich innerlich um mein Leben zitterte.
„Verdammt, Olivia, das hier ist kein Spiel. Privat und nicht privat gibt es jetzt nicht mehr. Wir stehen unter Mordverdacht, die werden uns sowieso durchleuchten und ich werde definitiv nicht im Gefängnis vergammeln, weil Mylady ihr Privatleben nicht preisgeben will", echauffierte sich Devan. Ich seufzte und überlegte, welche Reaktion meinerseits ihn mehr auf die Palme bringen würde. War Schweigen wirklich sicherer als die Wahrheit?
„Olivia, wir haben da wirklich keine Zeit zu", sprang Korrin ihm nun zur Seite.
„Die Wahrheit wird uns nicht helfen", sagte ich leise. „Sie wird das alles höchstens noch viel schlimmer machen."
Devan schien die Geduld zu verlieren. Er kam auf mich zu, kniete sich vor mich und fixierte mich aus seinen wütenden Augen. Ich wich so weit wie möglich zurück und starrte leider doch etwas ängstlich in sein Gesicht, dass mir jetzt so nahe war, dass er mich bestimmt hätte beißen können, wenn er es denn gewollt hätte. So wie er gerade aussah, hätte er es bestimmt liebend gerne getan.
„Ich weiß ja mittlerweile, dass du selbst das Einzige bist, was dich interessiert, aber hier geht es nicht nur um dich. Es hängt nicht nur dein Leben davon ab, also hör gefälligst auf mit der Heimlichtuerei!", knurrte er. Ich nahm meinen letzten Rest Mut zusammen und schob ihn von mir weg.
„Ich sage euch doch, dass die Wahrheit uns nicht helfen wird. Wenn der Rat herausfindet, weshalb ich bei Russell war, dann wird er uns für noch weniger vertrauenswürdig halten und dann können wir die Verurteilung schon vor Prozessbeginn unterzeichnen", entgegnete ich verzweifelt.
„Wir müssen darauf vertrauen, dass sie uns ohne Beweise wieder gehen lassen", schob ich dann hinterher.
„Wenn du sie anlügst, werden sie das garantiert nicht tun", erwiderte Devan und hatte damit wahrscheinlich Recht. In dieser Situation gab es keine richtige Lösung. Egal wie ich mich entscheiden würde, es würde uns nicht helfen.
„Was hast du getan?", flüsterte Korrin neben uns enttäuscht. Ich wusste, dass er die Wahrheit nicht gelesen haben konnte, aber meine Reaktion an sich zeigte bestimmt schon, dass es nichts Gutes war. Jedenfalls nicht in dieser Situation.
Ich sprach kein Wort darüber, was ich an dem Tag auf der Brücke mit Russell beredet hatte. Stattdessen saß ich die nächsten Minuten oder Stunden da und hörte meinen Kollegen beim Schweigen zu. Stacey tauchte nicht wieder auf, aber dafür jemand, den ich nun wirklich nicht sehen wollte.
„Ich bedaure sehr, Sie drei hier zu sehen", sagte Carter wenig überzeugend, als er vor unserer Zelle stand. Er trug einen faltenfreien dunklen Anzug und wirkte in dieser Umgebung fehl am Platz. Warum er uns hier besuchen sollte, wo er doch derjenige war, der für unsere Verhaftung verantwortlich war – zumindest ging ich davon aus, schließlich war er ein Mitglied des Internationalen Rates und zudem hatte er mich schon immer gehasst –, erschloss sich mir wirklich nicht.
„Dann lassen Sie uns raus", erwiderte ich stur. Mein Hass auf diese Person war nun noch um einiges gesteigert worden. Er hatte mir nie vollends vertraut, aber der Verdacht wegen Mordes war dann doch etwas zu viel für meinen Geschmack.
„Es tut mir leid, Ms. Watson, aber gegen Sie wird ermittelt. So schnell werden Sie hier also nicht rauskommen."
„Aber wir sind unschuldig", nutzte ich den Moment. „Wir haben keinen der Geister getötet. Ein paar doofe Zufälle sollten Sie nicht dazu veranlassen, uns so zu behandeln."
Carter faltete elegant die Hände und neigte den Kopf zur Seite als stünde er gerade im Zoo vor dem Hasengehege und nicht vor zwei Hütern und einem Wisser in einer Gefängniszelle.
„Die Tatsache, dass Sie zu den letzten beiden Toten Kontakt gepflegt haben, macht es für Sie und auch für uns nicht gerade leichter", antwortete er mir. „Wir können diese Sache nur aus der Welt schaffen, wenn Sie uns logisch und nachvollziehbar erklären, warum Sie die Geister dann besucht haben, wenn es nicht um persönliche Rachegelüste ging."
Ich spürte die Blicke Devans und Korrins auf mir. Sie erwarteten, dass ich nun die Wahrheit sagte, aber wie ich ihnen bereits versucht hatte, verständlich zu machen, würde die Wahrheit uns nicht helfen.
„Ich wollte doch nur nach Russell sehen", rechtfertigte ich mich stattdessen. Es gab kein Gesetz gegen Besuche bei Geistern, aber die Beauftragung, eine bestimmte Person zu schützen, ging doch etwas gegen die Prinzipien des Rates.
„Russell?", entgegnete Carter mir mit einer Frage. „Sie kennen die Geister also sehr gut, wenn Sie sie auch schon beim Vornamen nennen", unterstellte er mir dann. Ich schüttelte abwehrend den Kopf.
„Ich gehe einfach mit ihnen um, wie mit ganz normalen Leuten und nicht als wären sie irgendein Abschaum", erwiderte ich mit wenig Respekt.
„Spinnst du?", zischte Devan mir sofort zu. Wahrscheinlich war es wirklich nicht besonders schlau, jetzt auch noch gegen Carter und den Rat zu wettern, aber es gab Dinge, die mussten nun einmal gesagt werden. Der Rat bildete sich ein, völlig von oben herab mit jedem Geist reden zu können, über den sie verhandelten. Ich tat so etwas nur bei Geistern, die ich nicht leiden konnte – wie zum Beispiel dummen Fremdgängern.
„Immer noch eine spitze Zunge, wie ich sehe", lachte Carter sichtlich amüsiert. Er schien es zu genießen, so eine Macht über uns zu haben. Er konnte gemeinsam mit dem Rest des Internationalen Rates jederzeit entscheiden, ob wir verurteilt oder freigesprochen werden würden.
„Wie lange werden Sie uns hier festhalten?", fragte Devan und klang weit mehr diplomatisch als ich es eben getan hatte. Carter sog angesichts dieser Frage die Luft ein.
„Das kommt darauf an, wann die Verhandlung angesetzt wird", antwortete er dann. „Und ich gehe davon aus, angesichts der Wichtigkeit dieses Falles, wird das nicht allzu lange dauern."
„Aber Sie müssen uns doch die Chance geben, unsere Seite der Geschichte zu erzählen. Sie können doch nicht dem Rat einreden, wir wären die Bösen. Sie wissen es ja noch nicht einmal genau."
Carters Blick wurde finsterer. Das Amüsement war vorbei.
„Nein, Ms. Watson, ich weiß, dass Sie es waren. Die Art, mit der Sie mit manchen Geistern umgehen, hat mir noch nie gefallen und so überrascht mich ihre Lösung der Probleme nicht besonders."
„Lösung der Probleme?", hinterfragte ich laut. „Ich habe überhaupt keine Probleme. Sie sollten sich lieber mal mit Morris unterhalten, der Geistern, die er nicht mag, ohne jede Begründung eine hohe Sünderstufe zuordnet. Oder mit Eleanor, die am liebsten jeden von ihnen verdammen würde. Wie kommen Sie gerade darauf, dass ich hier ein Problem mit den Sündern habe?"
Die Argumentation des Vorsitzenden machte einfach durchweg keinen Sinn. Er wollte mich verurteilt sehen, aber Beweise hatte er keine. Das Einzige, was mich in dieser Zelle hielt, war seine Abneigung gegenüber mir. Korrin war wahrscheinlich auch nur hier, weil er ein Wisser war und Carter diese genauso wenig leiden konnte. Die Fairness, die er in den Gerichtsverfahren walten ließ, verlor wohl in den wirklich wichtigen Angelegenheiten ihre Bedeutung.
„Es tut mir auch leid, Sie hier zu sehen – besonders Sie, Mr. Cherwood, ich habe Sie immer für einen verlässlichen Mitarbeiter gehalten – aber ich habe keine andere Wahl. Die Beweislage spricht gegen Sie."
Ich schnaubte. „Ihre Beweislage besteht aus der Tatsache, dass ich diese Geister gekannt habe. Sie haben nichts gegen Devan und auch nicht gegen Korrin, also sparen Sie sich ihre heroischen Reden. Geben Sie doch zu, dass Ihnen das hier einfach nur Spaß macht!"
„Olivia!", fauchte Korrin von der Seite, doch mir war seine Meinung gerade völlig egal. Carter war ein Vollidiot und nur weil er ein hohes Tier im Rat war, behielt ich meine Meinung nicht gleich für mich.
„Lassen Sie uns unsere Arbeit machen, Ms. Watson", reagierte Carter kalt. „Ich bin nur hier, um Sie zu informieren, was auf Sie zukommt. Was Sie von der Sache halten, könnte mir dabei nicht egaler sein."
„Dann sollten Sie vielleicht mal anfangen, uns zu informieren und nicht nur schlaue Sprüche klopfen", erwiderte ich frustriert. Länger als nötig wollte ich mich mit Carter nicht unterhalten, sonst würde ich noch auf ihn losgehen und ohne Prozess verurteilt werden. Glücklicherweise schien Carter das genauso zu empfinden, Er räusperte sich und begann seinen Vortrag.
„Sie werden wegen sechs Morden an Sündern in ihrer Frist angeklagt. Aufgrund Ihrer Tätigkeit als Hüter wird diese Tat als Hochverrat an der Gemeinschaft eingestuft. Somit droht Ihnen bei Verurteilung der Tod."
Schweigen. Carter sprach diese Worte als bedeuteten sie nichts weiter, doch uns drei standen die Münder offen. Hochverrat. Tod. Das war zu viel des Guten. Ich würde niemals für etwas sterben, was ich nicht verbrochen hatte.
„Für Sie, Korrin, steht wegen des Mitwissens eine Strafe von etwa fünfzig Jahren Gefängnis", fügte Carter noch hinzu. Korrin neben mir schluckte schwer. Fünfzig Jahre waren für einen Wisser etwa ein Drittel seines Lebens. Keine dieser Konsequenzen war auch nur annähernd angemessen – jedenfalls nicht für Unschuldige wie uns.
„Auf Wiedersehen, meine Damen und Herren. Wir sehen uns am Tage Ihres Prozesses."
Mit diesen Worten kündigte Carter seinen Rückzug an. Er verließ mit zwei Wächtern den Trakt und ließ uns drei völlig verständnislos zurück. Wie erwartet gewann Devan nach einigen Sekunden zuerst die Fassung wieder.
„Das ist kein begründetes Urteil", flüsterte er.
„Noch ist es kein Urteil", korrigierte ich ihn. „Aber bald wird es eins sein und das, obwohl sie keinen einzigen Grund haben, dich zu verdächtigen."
„Du musste es ihnen sagen, Olivia", forderte Korrin schon bestimmt zum zehnten Mal. Ich seufzte. Er hatte wohl recht. Carter würde dieses Urteil versuchen durchzusetzen, völlig ungeachtet der fehlenden Beweise. Würde ich schweigen, würde ich nicht nur einfach sterben, sondern auch Devan mit in den Tod ziehen. Grundlos. Egoistisch.
„Ich weiß", erwiderte ich also leise, obwohl sich mein Inneres dagegen sträubte. Ich hatte zu Jessie gesagt, ich würde mir wünschen, nie etwas von dieser Welt erfahren zu haben, aber wer wäre ich ohne meine Tätigkeit als Hüterin? Wer wäre ich ohne dieses Gen? Ich wäre ein Niemand. Nur ein Mensch unter vielen. In den letzten drei Jahren hatte ich mich so sehr an diese Welt gewöhnt, dass ich sie jetzt nicht so einfach aufgeben konnte. Wenn ein Hüter seine Macht für persönliche Gründe missbrauchte - so wie ich es getan hatte, als ich Russell um den Gefallen gebeten hatte – dann verlor er nicht nur seinen Job, sondern auch sein ganzes Selbst. Der Ewige Rat der Wisser nahm ihm jede Erinnerung an die Geistwelt und sie wurden in die Menschenwelt ausgesetzt. So war es mit Sicilla auch geschehen. Und so wie jeder verbannte Hüter wurde auch sie danach zu einer Verrückten. Hüter sahen die Geister auch ohne Ringe und wenn sie nicht wussten, was diese Glasgestalten waren, die überall umherliefen, dann wurden sie nun einmal für verrückt erklärt. Ich wollte nicht, dass so etwas passierte. Ich vermisste zwar mein Leben bevor ich in diese Welt geriet, aber ein Ausschluss würde mir dieses nicht zurückbringen. Bevor ich sechzehn wurde hatte ich die Geister nicht gesehen und außerdem war ich im Gegenteil zu jetzt nicht allein gewesen.
„Schön, dass du erst mit dem Tod bedroht werden musst, bevor du deinen Egoismus vergisst", kommentierte Devan sarkastisch. Ich war mir sicher, dass sein in den letzten Stunden gesteigerter Hass auf mich keine Einbildung war.
„Es ist nicht so einfach", antwortete ich schwach, obwohl ich wusste, dass er Recht hatte. Mein Egoismus war der Grund, dass ich mich geweigert hatte, die Wahrheit preiszugeben.
„Dann erzähl es uns doch. Dann können wir das ganze wenigstens verstehen", warf Korrin ein. Ich schüttelte den Kopf. Die Wahrheit würde erst ans Licht kommen, wenn sie wirklich nötig war und das war nun einmal erst bei unserem Prozess. Carter hatte mir mit ziemlicher Sicherheit nicht geglaubt, als ich gesagt hatte, ich hatte Russell nur besuchen wollen und er würde bestimmt noch einmal nach der Wahrheit verlangen – vielleicht sogar mit Unterstützung eines Wissers.
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