Kapitel 12

Der Kinobesuch verlangte mir einiges ab. Die Tage der nächsten Woche verbrachte ich mit weiteren Stunden in Wie-mache-ich-meine-Gedanken-leise-genug-dass-sie-nicht-jeder-idiotische-Wisser-hören-kann? und Korrin war dabei ein außerordentlich energischer Lehrer. Wenn man bedachte, dass Mitglieder der Gemeinschaft so etwas sonst ihre Kindheit lang wie Geschichte in der Schule beigebracht bekamen, musste er vermutlich so ungeduldig sein.

Zur selben Zeit wuchs auch der Druck auf uns und unsere Mordermittlungen stetig. Keine unserer Ideen schien uns auch nur einen Schritt weiterzubringen. Es tauchten zwar keine weiteren Geisterleichen auf, aber an Devans steinerner Miene und Korrins fehlender guter Laune war deutlich zu erkennen, dass das nicht reichte.

„Du willst jetzt aber nicht einschlafen, oder?", fragte Cindy und stieß mich von der Seite an. Ich setzte mich in meinem Sitz auf und schüttelte semi-überzeugend den Kopf. Seit ich Cindy und Stella erzählt hatte, dass Devan und ich Schluss gemacht hätten, wussten sie nicht mehr wirklich, wie sie mit mir umgehen sollten. Stella war sich immer noch ziemlich sicher, dass ich Devan betrogen hätte und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Cindy dagegen vertraute darauf, dass ich so etwas nicht tun würde und eigentlich hatte sie damit ja auch Recht. Wären Devan und ich wirklich ein Paar gewesen, hätte ich Louis an diesem Tag niemals in meine Wohnung gelassen, aber so war es nun einmal nicht gewesen. Und da die Wahrheit wie immer völlig tabu war, musste ich nun die zweifelnden Blicke der beiden über mich ergehen lassen.

„Ich weiß noch nicht wirklich, wie ich das beurteilen soll ", gestand Cindy, als wir nach Ende des Films wieder auf dem Bürgersteig standen und ihr dabei zusahen, wie sie den Rest ihres Jumbo-Popcorns aufaß. Stella kickte einen Stein den Weg entlang und vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jeans.

„Ich schon. Das war Zeit- und Geldverschwendung."

Cindy lachte und hakte sich bei Jonathan unter.

„Du solltest da offener rangehen. Wenn du nicht so darauf beharren würdest, dass Will Smith und Tommy Lee Jones die wahren Men in Black sind, dann müsstest du zugeben, dass der Film gar nicht so schlecht war", versuchte sie, Stella zu überzeugen. Ich beteiligte mich nicht an der Diskussion, die jetzt ausbrach. An die Hälfte des Films konnte ich mich nicht einmal erinnern, schließlich hatte ich die meiste Zeit meinen Gedanken nachgehangen, und so stand ich nur teilnahmslos daneben. Dieses ganze Geplänkel über Filme und Männerangelegenheiten, wie Stella es genannt hatte, erreichte mich einfach nicht mehr so richtig. Je mehr ich mit der Geistwelt zu tun hatte, desto mehr kapselte ich mich von der Welt der Menschen, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, ab. Das störte mich, denn ein paar ermordete Geister änderten noch lange nichts daran, dass ich inmitten der Menschen zuhause war. Vermutlich war Devan mit seinem Hüter-sollten-keine-Beziehungen-zu-Menschen-haben-Gerede daran schuld.

„Liv, bist du noch da?", fragte Cindy mich mit wedelnden Händen und holte mich damit zurück in die Realität.

„Was?", fragte ich instinktiv und wandte meinen Blick von der Straße, auf die ich die letzten Sekunden gestarrt hatte, zu Cindy und Stella, die mich beide auf ihre persönlich besorgte Art musterten.

„Vielleicht sollten wir nach Hause gehen", schlug Stella vor und legte mir ihre Hand auf die Schulter.

„Sie hat Recht. Du siehst aus, als wärst du noch nicht wieder ganz auf der Höhe", stimmte Cindy ihr zu. Ich wehrte mich nicht, als die beiden mich sanft in Richtung der U-Bahn zogen und Jonathan als das typische, wenig gesprächige Anhängsel uns stumm folgte. In der Bahn unterhielten Cindy und Jonathan sich leise und Stella und ich sahen schweigend aus dem Fenster. Hin und wieder warf sie mir Blicke zu, die sowohl Sorge als auch Skepsis enthielten. Wahrscheinlich fragte sie sich, wie man um einen Ex-Freund trauern konnte, den man betrogen und deswegen verloren hatte. Gott, wie simpel die Probleme meiner Freunde doch waren. Uni, Arbeit und Typen. Und zwischendurch auch noch Familie. Ich hatte weder Familie noch jemals eine wirkliche Beziehung geführt, studierte nicht und trotzdem war mein Leben deutlich komplizierter, als ich es mir je gewünscht hätte.

„Willst du vielleicht etwas essen?", brach Stella das Schweigen nach ein paar Minuten. „Du siehst ein wenig blass aus. Als hättest du schon länger nicht mehr gegessen."

Uff. Vor ihr konnte man einfach nichts verstecken. Das Popcorn war tatsächlich das Einzige, was ich seit einem Joghurt am Morgen gegessen hatte, doch mein Magen grummelte nicht und Hunger verspürte ich auch nicht.

„Hot Dog to go", rief Cindy fröhlich aus und wir verließen bei der nächsten Station die Bahn. Auch wenn ich es niemals zugegeben hätte, so tat mir der Hot Dog doch gut. Ich bekam wieder ein wenig Energie und konnte sogar wieder herzhaft lachen.

„Jetzt lebe ich auch die nächsten Wochen nur noch von Nudeln und Reis", scherzte Cindy, als wir den Bürgersteig entlang spazierten, während wir aßen. „Und so teure Kinotickets gibt es auch erst einmal nicht."

„Brauchst du wahrscheinlich in nächster Zeit auch nicht", sagte ich, bevor Stella ihr wieder anbieten würde, die Kosten für das Kino zu übernehmen und damit eine Diskussion über Cindys Unabhängigkeit beginnen würde.

„Ich habe dir gesagt, ich kann das jederzeit für dich übernehmen", schlug ihr dann Jonathan vor. Cindy schüttelte den Kopf und aß den letzten Bissen ihres Hot Dogs, während ich noch nicht einmal bei der Hälfte angekommen war. Ich wandte meinen Blick von den beiden ab und beobachtete stattdessen die Straßen im schwachen Licht des späten Sonnenuntergangs. Während ich die Menschen und die leuchtenden Autos verfolgte, stahl sich plötzlich etwas in mein Blickfeld, das meine Aufmerksamkeit erregte.

„Gehen wir zu uns und bestellen noch eine Pizza, oder so?", fragte Cindy, doch ich war mit meinen Gedanken ganz woanders.

„Vielleicht wann anders", antwortete ich und starrte auf die Hausecke, hinter der der farblose Schatten soeben verschwunden war.

„Ich muss jetzt los", schob ich schnell hinterher und überquerte unter dem Hupen eines Taxis die Straße. Hinter einer Häuserecke bestätigte sich meine Vermutung. Jessie hörte meine Schritte auf dem Asphalt und sah sich zu mir um.

„Liffa, was machst du denn hier?", fragte er und wirkte irgendwie nervös. Ich legte misstrauisch den Kopf schief.

„Was ist los, Jessie?", fragte ich und überging seine Frage. Jessie sah sich einmal um und machte dann einen Schritt auf mich zu.

„Es passiert etwas ganz Seltsames, Liffa", begann er hektisch.

„Irgendwer..."

Ich hörte den Rest seiner Worte nicht, denn im Zuge eines Wimpernschlags war er plötzlich verschwunden. Von einer Sekunde zu nächsten stand er nicht mehr vor mir. Für einen Moment starrte ich entsetzt auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte. Dann sah ich mich wahrscheinlich genauso hektisch um, wie er es zuvor getan hatte. Was war hier los? Ich hatte noch nie von einem Geist gehört, der sich einfach in Luft aufgelöst hatte.

„Jessie?", fragte ich in die leere Gasse. Je öfter ich in solchen Ecken landete, desto mehr fielen sie mir mit ihren Ratten und dem Gestank auf die Nerven.

„Jessie?", fragte ich erneut - diesmal etwas lauter - und warf einen suchenden Blick in eine Ecke, in der offensichtlich Müll gesammelt wurde. Es stank und ich konnte keinerlei Mülltrennung erkennen, doch eines erkannte ich und das ließ mich erstarren.

„Jessie?" Der fast durchsichtige Körper hob sich kaum von den Mülltüten ab, doch das schwache Leuchten auf seiner Haut verriet ihn. Doch erleichtert war ich nicht, ihn zu sehen. Ganz im Gegenteil. Die Splitter, die um ihn herum verteilt waren, drehten mir den Magen um. Ich kniete mich hin und ließ meine Hand durch den leblosen Körper des Geistes gleiten. Was würde ich nur manchmal dafür geben, die Sünder anfassen zu können. Nicht nur, um ihnen eine Kopfnuss zu geben oder mit Büchern nach ihnen zu werfen, sondern jetzt auch, um Jessie runter von diesen Müllsäcken zu bekommen, um ihn wenigstens in Würde sterben zu lassen.

„Jessie, hörst du mich?", flüsterte ich ganz nah neben seinem Kopf, obwohl ich genau wusste, dass er es eben nicht konnte. Während ich noch immer in der Hoffnung, er würde jeden Moment die Augen aufschlagen, neben ihm hockte, versuchte ich zu verstehen, wer ihm so etwas antun würde und warum es schon wieder keinen Alarm gegeben hatte. Die anderen Geister waren zwar auch keine durch und durch schlechten Menschen gewesen, aber Jessie war gut. Er hatte vielleicht geklaut, aber er war ein guter Mensch gewesen, das wusste ich. Die Theorie, dass jemand Geister umbrachte, die gegen die Regeln verstießen, hatte sich von einem Moment zum nächsten erledigt. Jessie hatte die Regeln nicht brechen wollen. So etwas würde er nicht tun. Alles, was er wollte, war leben. Er konnte es zwar nicht mehr, aber das war noch immer kein Grund, sich gegen die Menschen zu stellen. Und so wie er noch vor zehn Sekunden auf mich gewirkt hatte, schien er nicht den Hang zur Gewalt verspürt zu haben. Ich ärgerte mich sofort, dass ich nicht besser aufgepasst hatte. Hätte ich genauer nachgesehen, hätte ich bestimmt denjenigen gefunden, der die Zeit angehalten hatte. Jessie war es nicht gewesen, sonst wäre ich Teil des Geschehens gewesen. Ich wäre nicht eingefroren worden. Irgendjemand hatte aber geschnipst und die Zeit gleich dazu genutzt, Jessie kaltblütig zu ermorden. Eine andere Erklärung gab es nicht. Der Gedanke daran, wie ich völlig erstarrt dagestanden hatte, während jemand Jessie erwürgt hatte, ließ mich erschaudern. Einerseits befreiten mich die Regeln des Zeitanhaltens von dem ständigen Herumlungern zwischen der Zeit, aber andererseits machten sie mich schwach. Hätte ich diesen anderen Geist doch nur gesehen. Ich überwand mich endlich, mit meinem Ring Stacey anzurufen. Sie meldete sich am anderen Ende der Leitung und ich redete direkt auf sie ein.

„Es war ein Geist, Stacey. Er hat Jessie getötet. Es muss ein Geist gewesen sein. Ich war hier und ich habe mit ihm gesprochen und"

„Du hast mit dem Mörder gesprochen?", fragte Stacey ungläubig. Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte.

„Mit Jessie. Ich habe mit Jessie gesprochen und jetzt ist er tot."

„Ein weiterer Geist?"

„Ja, ein Geist." Ich sah den toten Jessie nicht mehr an. Wieso musste unter all den Geistern, die auf dieser Welt wandelten, von all diesen bösen Menschen, von denen so viele noch immer keine Reue empfanden, unbedingt Jessie sterben? Der gute und fast reine Jessie. Den Mitgliedern, die neben mir aus ihren Portalen stiegen, würdigte ich keines Blickes. Sie ignorierten mich ebenfalls, als ich auf allen Vieren zur Seite rutschte, damit sie Jessie genau wie die anderen Toten ebenfalls anstarren und sich davon überzeugen konnten, dass er getötet worden war.

„Olivia, du kommst besser hierher. Du kannst dort nichts mehr tun", sprach Stacey aus meinem Ring. Ich rappelte mich auf und mit einem letzten Blick auf den toten Geist teleportierte ich mich in Staceys Büro, obwohl ich genau wusste, dass es nun genauso ablaufen würde, wie bei den letzten beiden Toten. Wir würden um ein paar nichtssagende Akten herumstehen und überlegen, wer so etwas tun würde. Wir würden keine Antwort finden und resigniert nach Hause gehen und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit würde ich mich währenddessen noch einmal mit Devan fetzen, weil sein Ego nicht damit klarkam, dass er diesen Fall nicht lösen konnte. Korrin würde versuchen, uns zu beruhigen und vielleicht nebenbei noch meine Gedanken ausspionieren. So lief es immer und es war nichts, was ich jetzt noch über mich ergehen lassen wollte.

„Du solltest dich erst einmal beruhigen", begrüßte mich Stacey. Sie stand mitten im Raum und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

„Ich bin ganz ruhig", antwortete ich schnell. Ich war vielleicht kein seit Jahren meditierender Mönch, aber ich hatte mich im Griff.

„Dann erzähl uns, was passiert ist", kam die Aufforderung von der dritten Person, die just in diesem Moment neben uns auftauchte.

„Lies es doch", entgegnete ich Korrin aufgebracht. Er sah mich an und in ihm schien es zu brodeln. Vielleicht war diese Bemerkung unnötig gewesen, aber gerade jetzt verspürte ich das Bedürfnis, irgendwo meine Wut abzulassen.

„Liv, werde jetzt nicht zickig", beschwichtigte mich Stacey mehr oder weniger erfolgreich.

„Erzähl du mir bloß nicht, was ich tun soll. Es ist gerade ein Geist direkt vor meiner Nase gestorben. Und zwar nicht nur irgendeiner, sondern Jessie. Mein Jessie. Und er war gut. Zu gut. Er hat das nicht verdient. Und ich finde schon, dass ich jetzt das Recht habe, ein wenig zickig zu sein", fuhr ich die beiden an. Devan, der nun auch auftauchte, musterte uns prüfend.

„Hüter freunden sich nicht mit Geistern an", kommentierte er meinen Ausbruch kurz. Ich krampfte meine Finger in meiner Hand.

„Lass mich mit deinem Hüter-tun-dies-nicht-Hüter-tun-das-nicht-Scheiß in Ruhe. Nur weil du ein emotionsloser Gesteinsbrocken bist, muss das nicht jeder andere Mensch auf dieser Welt auch sein. Du solltest lieber mal einsehen, dass du nicht so wichtig bist, wie du dir das vorstellst", bekam auch er nun meinen Frust zu spüren. Im Gegensatz zu Stacey, die von meinen Worten sichtlich überrascht zu sein schien, starrten Korrin und Devan mich nur aus ausdrucksloser Miene an.

„Wenn du mit deinen persönlichen Hasstiraden fertig bist, könnten wir dann ja langsam mal anfangen, über den Fall zu reden. Wenn es der Dame denn gerecht ist."

War das gerade der erste sarkastische Satz aus Devans Mund? Ich erwiderte nichts und verschränkte nun auch wütend die Arme.

„Du meintest, ein Geist hätte ihn getötet?", versicherte Stacey sich. Ich nickte.

„Es muss einer gewesen sein. Ich..." Weiter kam ich nicht, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und bestimmt ein halbes Dutzend Männer betraten den Raum. Sie guckten uns einen nach dem anderen finster an, bevor einer von ihnen anfing zu sprechen.

„Olivia Watson." Er musterte mich prüfend. „Und Devan Cherwood." Der Blick glitt zu Devan. „Sie sind hiermit festgenommen. Und Korrin, Sie werden ebenfalls unter Arrest gestellt."

Devan und ich tauschten einen schnellen Blick, um zu prüfen, ob der jeweils andere wusste, was hier gerade passierte. Doch keiner von uns hatte eine Antwort auf diese absolut lächerliche Situation.

„Worum geht es?", fand Stacey ihre Stimme als Erste wieder.

„Halten Sie sich zurück, Ms. Lewis, sonst geraten Sie auch unter Mitverdacht", drohte der Anführer der ziemlich unsympathischen Truppe vor uns. Stacey machte einen Schritt auf ihn zu und stellte sich damit schützend vor uns.

„Sie werden die drei nicht mitnehmen können, ohne ihnen mitzuteilen, für was sie angeklagt worden sind. Wir sind hier vielleicht nicht in der Menschenwelt, aber es hat trotzdem jeder seine Rechte", feuerte sie gegen ihn. Er musterte sie kurz nachdenklich und wandte sich dann zu uns.

„Sie werden festgenommen wegen des Mordes an sechs Sündern. Es besteht ein sicherer Tatverdacht gegen Sie."

Ich schnappte nach Luft. Selbst Devan zeigte für einen Moment eine Reaktion. Er ließ die Arme fallen und seine Augen wurden groß, bis er sich wieder unter Kontrolle bekam und den Blick unseres Gegenübers stur erwiderte.

„Das kann nicht sein. Wir haben damit nichts zu tun", stellte er klar. Der Mann hob eine Augenbraue und sah uns abschätzig an.

„Was Sie getan oder nicht getan haben, entscheidet ganz allein das Gericht und bis diese Entscheidung gefallen ist, werden wir Sie mitnehmen", entgegnete er und kam auf uns zu. Ich zuckte zurück, als einer seiner Männer den Arm nach mir ausstreckte, doch Stacey machte eine beschwichtigende Geste.

„So wird es nicht besser, Olivia", warnte sie mich eindringlich. Widerwillig ließ ich mich von dem Mann mitziehen. Devan und Korrin wurden ebenfalls abgeführt. Keiner von uns sagte noch etwas, denn es gab nichts, was diese Situation jetzt noch retten konnte. Wer auch immer auf die unsinnige Idee gekommen war, Devan und ich – und eventuell auch Korrin – wären Mörder, schien sich sicher zu sein. Irgendetwas musste sie dazu veranlasst haben, uns für absolut schuldig zu halten. Besonders wenn sie mit ihrem Verdacht zwei der weltweiten Hüter beschuldigten. Ich warf einen Blick zu Devan, der mit versteinerter Miene neben mir hergeführt wurde. Und wenn der eigene Vater Vorsitzender war. Gäbe es keinen felsenfesten Beweis gegen uns, dann hätte Mr. Cherwood das hier doch niemals zugelassen. Ich schluckte. Aber es konnte keinen festen Beweis geben, schließlich waren wir nicht schuldig.

„Sie müssen uns erklären, was es ist, was sie so sicher macht, dass wir schuldig sind", forderte Devan. In seiner Stimme lag keinerlei Wertung, keine Provokation oder Wut. Er sprach wie sein Vater. Kalt. Ohne jede Emotion.

„Wir müssen gar nichts", giftete der Mann, der ihn am linken Arm hielt, zurück.

„Sie können uns nicht verhaften, ohne zu sagen warum. Wir haben diese Geister nicht umgebracht, also vielleicht können wir dieses Missverständnis einfach durch ein vernünftiges Gespräch aus der Welt schaffen", sprang ich Devan zur Seite und war selbst überrascht davon, wie ruhig ich in dieser Situation bleiben konnte. Zumindest äußerlich. Innerlich hätte ich gerade gerne jedem der Anwesenden eine Kopfnuss verpasst, weil sie mir meinen sowieso schon katastrophalen Abend noch mehr vermiesten. Da wir nicht schuldig waren, musste tatsächlich ein Missverständnis vorliegen und das könnten wir bestimmt bereden, aber diese Steroiden-Junkies ließen das nicht zu. Wir wurden in einen Gang gezerrt, den ich in meinen drei Jahren als Hüterin bestimmt noch nicht einmal betreten hatte, und hielten dann vor einer schweren Gittertür an. Solche protzigen Türen hatten wir sonst nirgendwo und irgendwie schwante mir, was jetzt kommen würde und wo wir uns hier befanden. Es dauerte nicht lange, da ging die Reise weiter. Devan, Korrin und ich – auf jeder Seite von zwei Wächtern flankiert, die uns ziemlich unangenehm am Arm gepackt hielten – wurden durch Flure gezogen, die nicht mehr so schön waren, wie die, die ich sonst aus dem Ratsgebäude kannte. Die Wände waren kahl und nicht so schön tapeziert und vertäfelt. Um uns noch einmal daran zu erinnern, was nun auf uns zukam, und um ein wenig Film-Atmosphäre zu schaffen, erreichten wir nun ein dickes Gitter, das den hässlichen Flur von dem Rest seiner selbst trennte. Es wurde aufgeschlossen und wir traten hindurch. Ich warf ein paar nervöse Blicke von links nach rechts und sah Gefängniszellen, in denen die verschiedensten Persönlichkeiten saßen. Geister, die in roter Farbe leuchteten. Wisser, die nicht so makellos aussahen, wie man es von ihnen kannte, und auch ein paar normale Leute, die wohl Mitglieder sein mussten. Sie saßen in ihren kleinen Zellen und starrten uns mutlos entgegen. Ich erkannte einen Geist, der sich gegen die Gitterstäbe seiner Zelle stützte und uns anscheinend etwas sagen wollte, doch von eine der Wachen mit einem bösen Blick davon abgehalten wurde. Eine Zelle weiter erkannte ich einen Wisser, der kraftlos an der Wand in seinem Quartier lehnte und uns mit seinen unheimlichen grauen Augen folgte. Schnell wandte ich meinen Blick ab und richtete ihn wieder auf den Rücken von Korrin, der vor mir hergezerrt wurde. Der Flur war für ein Gefängnis angenehm breit. Mein Hollywood-verstörtes Ich hätte mit schmalen Gängen und metallenen Böden gerechnet, aber stattdessen erwartete uns ein sauberer Steinboden und ein Gang von bestimmt zwei oder drei Metern Breite. Ich war dankbar dafür, denn so kamen wir den Gefangenen nicht allzu nahe. Gleichzeitig keimte in mir auch die Frage auf, warum wir wie Schwerverbrecher behandelt wurden. War der Rat sich so sicher, dass wir schuldig waren? Bestand nicht einmal die geringste Chance, dass wir sie vom Gegenteil überzeugen konnten?

„Nicht gleich den Mut verlieren", zischte Korrin mir über die Schulter hinweg zu. Er hatte wieder in meinen Gedanken gestöbert. Ich erinnerte mich an seinen Unterricht und hielt die Mauer aufrecht, die meine Gedanken von ihm fernhalten sollte. Vermutlich war das in diesem Augenblick nicht besonders wichtig, weil wir drei alle dasselbe dachten, aber ich hatte genug davon, dass er in meinen Gedanken lesen konnte, als wären sie Teil einer öffentlichen Bücherei.

Wir kamen unsanft zum Stehen und ich erkannte eine Zelle, die mir sympathischer war als die, die wir bisher gesehen hatten. Sie war nicht nur größer, sondern auch leer. Keine zehn Pferde hätten mich jetzt in eine Zelle mit ein paar ernsten Verbrechern gekriegt. Ganz ohne Gegenwehr ließ ich mich dann doch nicht durch die altmodischen Gitter hindurchschieben. Hatte die Gemeinschaft die Fortschritte der normalen Welt da draußen etwa völlig verpasst? Es gab so etwas wie Türen, wenn nötig sogar elektronisch. Wahrscheinlich einfach nicht dramatisch genug für die gute alte Gemeinschaft der Hüter. Dass die sich überhaupt so nennen durften, schließlich buchteten sie gerade zwei dieser ach so tollen Hüter ein. Und zwar wegen Nichts.

„Meckert nicht zu sehr", gab einer der Männer noch einen schlauen Spruch zum Besten, bevor sie uns drei in dieser Zelle zurückließen. Wütend stampfte ich durch den kleinen Raum. Zu unseren Mitgefangenen in den Zellen neben uns befand sich wenigstens eine Betonmauer, sodass wir keinen von ihnen sehen mussten, doch wirklich wohl fühlte ich mich dennoch nicht.

„Das können die nicht einfach so machen", beschwerte ich mich. „Wir sind unschuldig. Was denken die denn, warum wir Geister töten sollten? Und dann auch noch welche, die wir mochten."

„Die du mochtest", ging Devan scharf dazwischen. „Ich mag keinen dieser Geister und du solltest das eigentlich auch nicht. Schon einmal darüber nachgedacht, dass genau diese großartige Vertrautheit, die du mit den Geistern teilst, das Problem ist? Warum sonst haben sie uns erst festgenommen, nachdem dein toller Freund ermordet wurde? Vielleicht haben sie dabei auch gleich noch herausgefunden, dass du mit einem Geist zusammenwohnst, und dich, und uns gleich mit, für völlig bescheuert erklärt."

Korrin hob die Hand. „Beruhigt euch gefälligst mal wieder", forderte er rau.

„Ich werde mich nicht so einfach beruhigen", knirschte Devan. „Deine verdammte Arbeitseinstellung von wegen, warum muss ich immer alles machen, und deine viel zu vertraute Verbindung zur Menschenwelt sind wahrscheinlich genau das Problem hier. Ich sitze in dieser Zelle, weil Madame nicht in der Lage ist, ihren Job so zu machen wie wir anderen."

Diese Worte brachten das Fass zum Überlaufen. Wie gerne hätte ich mich jetzt auf Devan gestürzt und ihm höchstpersönlich den Hals umgedreht. Einzig allein seine klare Überlegenheit in Größe und Kraft hielten mich davon ab. Stattdessen brüllte ich ihm entgegen, was ich von seiner Meinung hielt.

„Du kannst gerne weiter hier rumschmollen und mir die Schuld geben, aber wenn du auch nur eine Sekunde darüber nachdenkst, dann merkst du, dass wir absolut keine Ahnung haben, weswegen wir hier sind. Wir wurden beide verhaftet, hast du das etwa schon vergessen? Dafür, dass du so ein verdammt toller Hüter bist, schiebst du die Schuld aber ziemlich schnell jemand anderem in die Schuhe."

„Leute, ich meine es wirklich ernst", rief Korrin sichtlich verärgert dazwischen. „Los, Olivia. Nenn ihn noch einen selbstgerechten Spießer und du Devan, nenn sie ein verantwortungsloses Kind. Aber seid euch im Klaren darüber, dass keine Streiterei der Welt uns aus dieser Zelle herausbringt. Wir bleiben hier drin, egal ob ihr euch nun zerfleischt oder nicht."

Devan öffnete den Mund, überlegte es sich dann aber anders und schloss ihn wieder. Ich setzte mich demonstrativ so weit wie möglich von ihm entfernt an eine Wand und stierte in den Flur. Uns gegenüber saß ein Geist in seiner Zelle, der uns schadenfroh beobachtete. Mein Bedürfnis, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, war übermächtig. Wut trieb mich offensichtlich schnell in die Gewalt. Waren wir vielleicht deswegen hier?

„Wie kommen die darauf, dass wir - oder ihr - diese Geister getötet haben?", versuchte Korrin, eine vernünftige Konversation zu beginnen.

„Vielleicht, weil unsere Kollegin hier die beste Freundin des neuesten Opfers war", vermutete Devan mürrisch. Ich hielt mich zurück und blieb an Ort und Stelle sitzen.

„Aber genau das ist doch das Widersprüchlichste", warf ich so ruhig wie möglich ein. „Wieso sollte ich jemanden töten, den ich mochte?"

„Vielleicht sind sie deinen geheimen Gelüsten nach Gewalt auf die Spur gekommen", sagte Korrin neutraler, als es die Worte selbst waren. Ich konzentrierte mich erneut auf meine mentale Mauer.

„Jetzt mal ganz ehrlich: Die können kein klares Beweismaterial gegen uns haben. Wieso sagen sie das dann? Und warum tut dein Vater nichts dagegen?", fragte ich an Devan gewandt. Bei der Erwähnung seines Vaters schoss sein Kopf in die Höhe und er funkelte mich wütend an.

„Weil mein Vater im Sinne der Gemeinschaft handelt und wenn die glaubt, dass wir schuldig sind, dann kann er uns nicht frei herumlaufen lassen."

„Dein Vater glaubt also, du wärst ein Mörder?", hinterfragte ich und schnaubte verächtlich. Devan verkrampfte sich sichtlich.

„Das habe ich nicht gesagt und nicht gemeint. Aber er kann nicht im persönlichen Interesse handeln, dann wäre er nun einmal kein guter Vorsitzender."

„Ach stimmt", erwiderte ich sarkastisch. „Um Vorsitzender zu sein, muss man ein emotionsloser Spießer sein. Steht wahrscheinlich in der Jobausschreibung. Dann hast du ja schon einmal gute Chancen, deinem Vater auf den ehrenwerten Thron zu folgen."

„Du hast keine Ahnung von den Angelegenheiten des Rates, also halte dich mit deinen schlauen Sprüchen gefälligst zurück."

„Verdammt, muss ich euch knebeln, oder was?", fauchte Korrin dazwischen. „Ihr seid nicht besser als ein paar Kinder, die sich gegenseitig das Spielzeug geklaut haben. Mal ehrlich, wie alt seid ihr denn bitte?"

Devan und ich lehnten uns schmollend zurück und Korrin schloss erschöpft die Augen.

„Und bitte, kriegt eure Gedanken in den Griff. Ich kriege noch Kopfschmerzen bei der ganzen Wut."

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