Kapitel 1



Teil 1
Gegenwart

„Lasset die Party beginnen!"

Mürrisch trat ich aus dem lodernden Kreis hinaus und hob den goldenen Ring auf, um ihn wieder an seinen rechtmäßigen Platz an meinem Finger zu stecken.

„Wow, wo kamst du denn jetzt her?" Mein heutiger Fall stand mit großen Augen vor mir und schien von meinem Auftreten beeindruckt zu sein. Ich legte den Kopf schief und musterte ihn. Ein nicht allzu helles Orange spiegelte sich auf seiner gläsernen Gestalt. Als ich den Blick von ihm abwandte und meine Umgebung inspizierte, rümpfte ich instinktiv die Nase. Eine dreckige Gasse am Rande einer ebenso dreckigen Stadt. Gern genommener Ort für meine Missionen, aber definitiv nicht mein Favorit. Die Gedanken bei dem gemütlichen Beisammensitzen zurück im Diner rief ich mir die drei Punkte Liste in den Kopf, in der Hoffnung, heute schnell fertig zu werden. Mit Fremdgängern gab ich mich nicht gerne ab. Sie widerten mich gerade zu an.

„Willst du mir jetzt verraten, was das hier soll? Eben saß ich noch in meinem Auto und bin in einen verdammten Baum gefahren und dann steh ich hier und du tauchst auf. Wo bin ich überhaupt?"

Seufzend zog ich die Schultern zurück und begann meinen Vortrag, den ich dabei so kurz wie möglich hielt. Mit so einem Kleinkaliber wollte ich wirklich nicht mehr Zeit verbringen, als ich musste.

„Mein Name ist Olivia und ich bin offizielle Hüterin der Geistwelt auf dieser Erde. Falls du es noch nicht gemerkt hast, wo du doch dein Auto so elegant um einen Baum gewickelt hast, du bist tot. Du bist zurückgekommen auf die Welt, weil du zu Lebzeiten Sünden begangen hast."

Ich warf einen erneuten Blick auf das Orange, das ihn umgab und fuhr dann fort. „Du hast dreißig Tage auf dieser Welt Zeit, um deine Schuld zu begleichen, was dadurch geschieht, dass du andere vor dem Sünden bewahrst." Gott, wie ich es hasste, mit Fremdgängern zu arbeiten. Primitive Vollblutidioten, die nach ihrem Tod so viel Macht bekamen. Hätte ich mir dieses System ausgedacht, hätten solche Kandidaten gerade mal das Schnipsen bekommen, aber so viel Kontrolle war mir nicht vergönnt.

„Du weißt, dass das ziemlich verrückt ist, oder?"

Sein Blick war skeptisch und ich hätte ihm gerne das Lexikon der Geistgeschichte mit seinen tausend Seiten um die Ohren gehauen.

„Tu mir bitte einen Gefallen und schau dich mal an." Ich tippte mit dem Fuß auf den kalten Asphalt und wartete darauf, dass mein Gegenüber endlich die Welt verstehen würde.

„Hast du mal einen Spiegel?"

Ich stöhnte auf. Dieses Prachtexemplar hier vor mir war wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte – und dabei sprach ich nicht von seiner Sünderfarbstufe.

„Guck an dir runter, du Einfaltspinsel!"

Er befolgte meinen gut gemeinten Rat und seine Augen weiteten sich, als er seine gläserne Gestalt das erste Mal wahrnahm.

„Wie cool ist das denn, ich glänze ja." Er kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

„Also wenn es dir nicht zu sehr missfällt, ich habe noch andere Termine, wir sollten jetzt fortfahren."

Ich hatte zwar keine Termine, sondern nur einen äußert interessanten Nachmittag mit meinen Freundinnen, aber dieser Auftrag versprach nicht besonders unterhaltend zu werden. Während die Intelligenzbestie sich noch selbst bewunderte, führte ich meinen Vortrag fort. Punkt zwei auf der Liste:

„Du bist mit gewissen Fähigkeiten ausgestattet als Geist, die dir helfen, deine Aufgabe zu erfüllen. Am besten lernst du das alles, wenn du es einfach versuchst." Ich hatte nun die ungeteilte Aufmerksamkeit des jungen Mannes. „Schnipse bitte einfach einmal, dann siehst du ja, was passiert."

Und bitte dalli, bis es auffällt, dass ich zu lange auf der Damentoilette bin.

„Schnipsen?" Ich musste mich unter seinem fragenden Blick zurückhalten, ihn nicht so lange zu schütteln, bis er aufhörte, dumme Fragen zu stellen.

„Ja schnipsen und jetzt bitte zackig."

„Ich kann aber nicht schnipsen."

Ich stöhnte auf. Das hatte ich ja in drei Jahren Berufserfahrung noch nicht erlebt.

„Mein Gott, so schwer ist es nicht. Finger an Finger und schnipsen und jetzt los."

Ich machte es ihm vor und er versuchte auf ziemlich erbärmliche Art und Weise, es mir gleichzutun. Ein paar klägliche Versuche später entkam seinen Fingern endlich ein leiser Laut, der sofort seine Wirkung erzielte. Es wurde still in der Gasse und Mister Schnips-Legende sah sich überrascht um.

„Mit dem Schnipsen hältst du die Zeit an, was du gerade nur an den fehlenden Geräuschen erkennst." Mein Blick fiel auf die Metalltür zu meiner Rechten. Der Hintereingang einer Bar. Was auch sonst? „Lass uns jetzt reingehen, dann zeige ich dir den Rest."

Ich machte einen Schritt auf die Tür zu und mein Sorgenkind hüpfte mir hinterher.

„Heißt das jetzt, wo ich doch ein Geist bin, dass ich auch durch Wände laufen kann und so?"

Standardfrage.

„Ja, aber..."

Rumms.

Was zum...? Ich schüttelte ungläubig den Kopf, während Mister Ich-höre-nicht-bis-zum-Ende-zu von der Tür zurückstolperte und beide Hände an seine Nase legte.

„Verdammt, das war jetzt echt hinterhältig."

Ich schnaubte.

„Hör mir bis zum Ende zu, du IQ-Schleuder! Du kannst eben nicht durch Wände oder Menschen oder alles andere gehen, wenn du die Zeit anhältst. Dann bekommst du eine feste Gestalt, sonst könntest du deine Arbeit nicht machen. Also du wahrscheinlich schon, aber andere Sünder nicht unbedingt." Ich öffnete entnervt die Tür und betrat mit dem noch immer jammernden Anhängsel, das mich nach meiner Ansprache nun verständnislos anstarrte, die Bar. Menschen saßen an den heruntergekommenen Tischen und Bedienungen rannten zwischen den Tischen umher. Zumindest hatten sie das getan, bevor mein Schüler es endlich geschafft hatte, ein erfolgreiches Schnipsen hervorzubringen, um sie damit allesamt einzufrieren.

„Wow, das ist ja mal richtig krass", bemerkte er jetzt und vergaß seine lädierte Nase.

Punkt 3. Wir kamen voran. Ich führte den staunenden Schüler zu dem Holztresen, hinter dem gerade ein Barkeeper dabei war, einen Cocktail zu mischen. Auf dem Tresen stand vor einem alten Mann, der eine viel zu deutliche Fahne hatte, ein kurzes Glas voll Tequila. In dem Interesse seines Wohlergehens kippte ich für ihn dieses Gläschen Gift und wandte mich dann der eigentlichen Szenerie zu, die sich ebenfalls am Tresen abspielte. Auf einem der Hocker saß eine Frau in ihren Zwanzigern mit perfekt gestylten, blonden Haaren und einem engen Kleid, das ihre Vorzüge gekonnt in Szene setzte. Neben ihr saß ein Mann in Anzug, bestimmt schon in den späten Dreißigern und gaffte sie gierig an. Ich verdrehte die Augen und ließ meinen Blick wieder zu meinem Schüler gleiten, der noch immer die Szene bestaunte.

„Aber Klatschen kannst du, oder?", fragte ich ihn jetzt skeptisch und trommelte auf das glatte Holz des Tresens.

„Das ist jetzt ein Scherz, oder?" Er verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und fixierte mich mit seinen zusammengekniffenen Augen wütend. „Ist es dein Job, mich fertig zu machen oder was soll das werden?"

Ich ging nicht darauf ein, sondern deutete nur auf den Mann in Anzug, der die Blondine neben ihm noch immer mit seinen Blicken verschlang.

„Klatsche einmal und bitte direkt vor seiner Nase!", befahl ich ungeduldig.

„Wenn du mich nur lächerlich machen willst, dann..."

„Mein Gott, jetzt mach endlich, ich habe wirklich nicht ewig Zeit."

Widerwillig trat er vor den Mann und klatschte nach einigen Sekunden Zögern einmal in die Hände. Ich beobachtete die kleine Welle Energie, die um den Kopf des Opfers schwappte und wandte mich dann meinem Schüler zu.

„Jetzt erklärst du ihm, dass er diese Frau" Ich deutete auf die Blondine. „nicht anbaggern will."

Mein Geist musterte die Blondine nun auch mit einem Blick, der dem des Anzugträgers nicht gerade wenig ähnelte, und blickte mich dann spöttisch an.

„Warum sollte er das nicht wollen? Ich weiß, du bist eine Frau und verstehst das nicht, aber diese hier ist echt ne Bombe."

Ich verdrehte die Augen und trat einen Schritt vor. Ein wirklich schwieriger Schüler. Ich hob den Arm des Mannes und deutete auf seine Finger. Jetzt schien dem Geist auch der silberne Ring an seinem Ringfinger aufzufallen und er atmete scharf ein.

„Ich soll ihn davon abhalten, seine Frau zu betrügen, nicht wahr?"

Ich staunte ehrlich über diese Auffassungsgabe.

„Ja, genau das ist deine Aufgabe, also sag es ihm jetzt. Direkt in sein Gesicht und wenn du fertig bist, klatscht du zweimal hintereinander. Wieder direkt vor ihm."

Er hob eine Augenbraue und sah mich kurz an, als erwartete er, ich würde jeden Moment auflachen und ihm sagen, das wäre nur ein Spaß, aber als ich seinen Blick nur stur erwiderte, wandte er sich schließlich von mir ab und tat wie geheißen. Er sprach seinen Befehl und klatschte zweimal. Die zweite Welle umfing das Opfer und dann war es vorbei. Ich bedeutete ihm, mir zu folgen und wir verzogen uns in eine eher abgelegen Ecke des Ladens, von wo aus wir den Tresen gut im Blick hatten.

„Deine Aufgabe besteht darin, andere Männer vor dem Fremdgehen zu bewahren, damit sie nicht so enden wie du." Ich warf ihm einen scharfen Seitenblick zu. „Mit jeder guten Tat, die du vollbringst, verlierst du an Farbe, bis du schließlich rein bist und die Welt verlassen kannst. Dafür hast du dreißig Tage Zeit. Bist du am dreißigsten Tag nicht weiß, bleibst du für immer auf der Erde, und zwar als Geist, so wie du bist. Menschen sehen die Geister nicht und sie fühlen sie nicht und sie hören sie auch nicht. Ziemliche einsame Angelegenheit also. Ich würde dir demnach raten, deine Sünden zu begleichen und dafür solltest du dir ein besseres Gespür zulegen."

Mein Schüler starrte mich an.

„Farbe?"

Zweite Standardfrage.

„Ich sehe die Farben der Geister. Begehen sie Sünden, bekommen sie Farbe. Sie bewegen sich auf der Farbpalette Rot, je nachdem wie schlimm die Vergehen waren. Du bist mittelorange, also ungefähr eine vier."

„Vier?"

„Vier von zehn, ja."

„Warte mal!" Er legte sich die gläsernen Finger an die Lippen und ich stöhnte genervt auf.

„Warum siehst du mich, wenn mich sonst niemand sieht?"

Dritte Standardfrage, die ich eigentlich bereits beantwortet hatte.

„Ich bin die Hüterin der Gemeinschaft für Geister dieser Welt. Mein Job gestaltet sich wohl als schwierig, wenn ich euch Fachidioten nicht sehen kann."

„Muss ich mich jetzt die ganze Zeit von dir beleidigen lassen?"

„Sag mir, dass du alles verstanden hast und deine Aufgabe erledigen kannst, und ich verschwinde. Ich bin sowieso verabredet."

Mein blitzgescheiter Schüler begutachtete noch einmal den Raum und nickte dann langsam.

„Also ich schnipse nochmal, bringe die Welt wieder in Bewegung und dann geht's weiter?"

Ich nickte erleichtert.

„Woher weiß ich, wenn ich weiß bin?"

„Gar nicht. Du gibst Gas, vollbringst schön viel Gutes und am dreißigsten Tag kommt das Gericht zusammen und lässt dich entweder frei oder nimmt dir deine Gaben und fesselt dich an diese Welt."

„Klingt sehr verlockend."

„Ein Grund mehr, fleißig zu sein."

„Okay, okay, ich werde brav sein."

Ich nickte zufrieden. Mein Schüler schnipste und augenblicklich setzte sich die Szenerie um uns herum wieder in Bewegung. Der Mann, der so optimistisch auf die Blondine zugehalten hatte, kräuselte jetzt die Stirn und stand von seinem Hocker auf, was die Blondine mit einem verwirrten Blick quittierte. Ich zog mich in den Flur zu den Toiletten zurück und der Geist folgte mir.

„Sehen wir uns nochmal wieder?", fragte er, während ich mir den Ring vom Finger zog.

„Bei Gericht", antwortete ich ihm wahrheitsgemäß und ließ den Ring zu Boden fallen.

„Simsalabim!" Der Ring traf auf dem Boden auf und der lodernde Kreis kam wieder zum Vorschein. Ich trat hinein und sofort erschien der leuchtende Bildschirm vor meinen Augen.

„Zurück, woher ich gekommen bin", diktierte ich, winkte meinem Schüler zum Abschied zu und verschwand aus dem miefenden Laden. Sekunden später landete ich in dem vertrauten Umfeld der Damentoilette in unserem Lieblings-Diner. Schnell hob ich den Ring auf und verließ die Toilette. Zurück im Laden steuerte ich auf den Tisch zu, an dem meine Freundinnen saßen und die Milchshakes genossen, die offensichtlich schneller gewesen waren als ich. Ich ließ mich neben Stella, die ich vor einem Jahr kennengelernt hatte, als ich nach New York City gezogen war, auf die Sitzbank fallen und nahm einen Schluck des Erdbeershakes, der an meinem Platz stand.

„Ich hoffe, ich habe den spannenden Teil nicht verpasst", sagte ich dann und warf Cindy, die uns gegenübersaß, einen erwartungsvollen Blick zu. Sie schüttelte den Kopf und senkte ihren Blick auf den Milchshake.

„So spannend wird es nicht mehr." Sie rührte geistesabwesend ihr Getränk und sah dabei aus dem Fenster auf die geschäftigen Straßen New Yorks.

„Ist etwa nichts zwischen euch passiert?" Die Neugier in Stellas Augen war nicht zu übersehen. Ich schaltete meinen Blick um und wandte ihn von Stellas weißem Geist auf das pulsierende Innere meiner anderen Freundin. Ihr Geist leuchtete ebenfalls in milchigem Weiß, war aber deutlich aufgebrachter. Ihre Worte waren eine Lüge gewesen. Es war noch spannend geworden. Ich lehnte mich zurück und wartete darauf, dass Stella ihr die Wahrheit aus der Nase kitzeln würde. Ich genoss solche Momente sehr. Sie erinnerten mich an die Realität und befreiten mich von meinem von Geist geprägtem Arbeitsalltag. In solchen Momenten fühlte ich mich normal.

🎶

Ich folgte dem Strom hinunter auf den Bahnsteig der U-Bahn und wartete geduldig darauf, dass der Zug Richtung Brooklyn und weg von der Upper Side New Yorks einfuhr. Dabei beobachtete ich all die Menschen, die um mich herum wuselten.

„Du siehst müde aus. Schweren Tag gehabt?"

Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und ich holte mein Telefon aus meiner kleinen Umhängetasche. Ich hielt es mir ans Ohr und begann, zu sprechen.

„Jessie, lange nicht gesehen." Nicht wirklich wahr. Unsere letzte Begegnung, ebenfalls in der U-Bahn, lag erst einen Tag zurück. Mein Blick fiel auf den gläsernen Körper, der mit einem so hellen Hauch Rot beschattet war, dass ich ihn fast nicht sah, wie er dort an der Wand lehnte und ebenfalls die Menschen beobachtete. Seine struppigen Haare standen ihm wie immer wirr vom Kopf ab und er trug auch dieselben abgenutzten Klamotten. Ich war stolz auf ihn. Es waren erst fünfzehn Tage vergangen, seit ich ihn das erste Mal besucht hatte und er hatte bereits fast alles an Farbe verloren. Er würde keine dreißig Tage brauchen. Als Hüterin hatte ich die Möglichkeit, den Rat bereits vor Ablauf der Frist einzuberufen, wenn ein Sünder zu dem Zeitpunkt seinen Ausgleich erreicht hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie bei dem Fall Jessie auch nutzen würde.

„Du bist wie immer der absolute Höhepunkt meines Tages, wenn du weißt, was ich meine", flötete er und zwinkerte mir zu, während das Tosen des Zuges ertönte und ich mich in die Menge einreihte, die den Zug betreten wollte. Ich wusste genau, was Jessie meinte. Geister waren einsame Geschöpfe. Der einzige Mensch, mit dem sie reden konnten, war ich. Untereinander mieden sie sich lieber, was vermutlich in ihrer Natur lag, um ihre Strafe noch schrecklicher zu gestalten.

„Du siehst gut aus, wirklich", lobte ich den Jungen und nickte ihm anerkennend zu. Um nicht zu sehr aufzufallen, ließ ich meinen Blick von ihm abschweifen und wandte mich der Zugtür zu, aus der die Menschen strömten. Als sich der Pulk endlich in Bewegung setzte, folgte Jessie mir und überlagerte sich dabei mit einem älteren Mann in Anzug, dessen geröteter Geist durch den meines Freundes hindurchschien. Ich hatte gerade den Zug betreten und auf einen freien Sitzplatz zugehalten, als Jessie ohne Vorwarnung die Szene frieren ließ. Ich stolperte gegen einen Jungen und musste ihn festhalten, damit er nicht starr wie er war nach vorne kippte.

„Nächstes Mal mit Ankündigung, bitte." Ich warf Jessie einen tadelnden Blick zu. Auch wenn ich den Geist angesehen hatte - sonst wäre ich nun ebenso regungslos wie der Rest des Zuges - hatte ich den Schnipser nicht kommen sehen. „Mit Trompeten und Fanfaren, sonst breche ich irgendwann noch einem Unschuldigen die Nase."

Jessie musterte den Jungen skeptisch. „Unschuldig?"

Er konnte die Geister von Lebenden nicht sehen. Ich wusste nicht, wieso die Natur das so festgelegt hatte, vielleicht war es einfach nur ein fieser Trick, um den Sündern ihre Arbeit zu erschweren. Ich warf einen zweiten, genaueren Blick auf den Jungen und erkannte in seinem gefrorenen Energiefluss den leichten Anflug des mir so vertrauten Rot. Ich seufzte enttäuscht.

„In so jungem Alter. Hoffentlich fängt er sich noch einmal wieder."

Jessie musterte den Jungen mit traurigen Augen und ich klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. Er war ebenfalls noch jung gewesen, als er gestorben war. Ich hatte ihn kennengelernt, da leuchtete sein Geist in einem Rot der Stufe Fünf. Er war ein Dieb gewesen, seit er ein Kind war. Diese lange Zeit hatte sich nach seinem Tod durch einen Polizisten gerächt. Er war bei einem Fluchtversuch erschossen worden und ich wurde daraufhin zu dem Geist seiner selbst gerufen. Er hatte schnell gelernt, schnell verstanden.
Diebe konnten sich in New York City gut ausgleichen. An jeder Ecke wurde gestohlen. Jessie lebte praktisch in der U-Bahn. Auch in diesem Moment hielt er, darauf bedacht, niemanden anzurempeln, auf ein junges Mädchen zu, die mit geschickten Fingern versuchte, dem Anzugmann, der mir bereits vorher aufgefallen war, seine Brieftasche aus dem Jackett zu ziehen. Ihr Geist war bereits röter, als der von Jessie es jemals gewesen war. Jetzt aber wurde sie davor bewahrt, einen weiteren Fehler zu begehen. Jessie stand neben ihr, schüttelte traurig den Kopf und griff dann nach der Brieftasche, die sie bereits in der Hand hielt. Er nahm sie an sich und steckte sie dem Mann in eine andere Jackentasche, und zwar eine, die nicht so leicht zugänglich war. Die Hand des Mädchens schob er in ihre Hosentasche, um sie von dem Mann fernzuhalten. Wir beide wussten, dass diese Tat sie wahrscheinlich nicht vom weiteren Stehlen abhalten würde, aber es ging hier auch nicht um sie, sondern um Jessie. Er würde ausgeglichen werden und diese Welt verlassen können. Das Mädchen würde ich früher oder später als Glasfigur wiedertreffen.

„Es ist so traurig mitanzusehen", murmelte Jessie und ließ den Blick noch immer auf der eingefrorenen Diebin ruhen.

„Meinst du, mich hat auch mal jemand vom Stehlen abgehalten? Hätte ich das bemerkt?" Er legte den Kopf schief und sah mich nun an. Ich schüttelte den Kopf.

„Du hättest es nicht gemerkt. Aber selbst wenn es passiert ist, dann war es gut. Dann hätte dir jemand etwas Gutes getan, so wie du jetzt hier."

„Sie wird nicht aufhören, oder?" Er sah mich hoffnungsvoll an, während ich ihren starren Geist inspizierte. Ich sah das Rot in den fließenden Zügen und erkannte kaum die Reste des unterdrückten Leuchtens. Dieses Mädchen war verloren. Sie hatte oft gestohlen und das nicht, weil sie es brauchte, sondern weil es ihr Spaß machte. Sie würde sich nicht bessern. Ihre einzige Hoffnung war das Alter. Im Alter zeigten sie alle Reue. Die meisten Geister waren Verstorbene durch einen Unfall oder Ähnliches. Sie waren jung und hatten nie über ihre Sünden nachgedacht.

„Nein, das wird sie nicht."

Jessie wandte traurig den Blick ab.

„Wieviel kannst du sehen in diesen Geistern?", fragte er mich dann. Er hatte gesehen, wie ich den Geist dieses Mädchens analysiert hatte. Ich zuckte auf seine Frage mit den Schultern.

„Ich sehe einfach das Licht – oder das fehlende Licht – und es fallen mir diese Dinge in den Kopf. Sie stiehlt schon lange, steht auf den Kick. Diebin aus Leidenschaft, ganz klar." Diese Schlussfolgerung hätte ich auch aus ihren guten Klamotten und ihrem auch sonst so gepflegtem Äußeren ziehen können, aber Jessie glaubte mir. Er zog sich in Richtung Tür zurück und ich nahm wieder meinen Stehplatz hinter dem Jungen ein. Dabei hielt ich meine Handtasche fest umklammert. Bei roten Geistern wusste man ja nie.

„Wir sehen uns, Liffa." Mit den Worten schnipste Jessie, und ich stolperte weiter durch den Zug. Mein Schüler schob sich durch die sich schließende Tür und winkte mir vom Bahnsteig aus noch einmal zu. Ich setzte mich auf den freien Platz und sah ihm nach, als der Zug sich langsam in Bewegung setzte. Aus dem Augenwinkel sah ich die verwirrte Miene der Diebin, die nun das Abteil durchquerte, um sich ihr nächstes Opfer zu suchen. Ich seufzte. Es war hoffnungslos. Kein Geist dieser Welt würde jemals die Menschen vor sich selbst retten können. Und ich ebenfalls nicht.

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