|2| Zwischen Tradition und Moderne

Tivars Sicht
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Vielleicht war die Zeit gekommen, heimzukehren, dachte Tivar und ließ seinen Blick über die Berliner Straße schweifen. Den Müll an den Straßenecken und die mit Graffiti besprühten Häuserfronten würde er sicher nicht vermissen. Genauso wenig die Menschen, die allesamt so wirkten, als hinge ihr Leben davon ab, wie schnell sie es zum nächsten Termin schafften.

Fast automatisch fuhr er sich über sein glatt zurückgegeltes Haar, um zu sehen, ob sich ja keine Strähne seines dunkelblonden Haares gelöst hatte. Dann nahm er sein Handy aus der Hosentasche. Zwölf unbeantwortete Nachrichten, drei Telefonate und nur noch eine Viertelstunde, bevor er wieder im Büro sein musste. Verdammt! Mit beschleunigten Schritten bog Tivar in das Café, um sich noch schnell ein Brötchen zu holen.

„Es wird Zeit, mein Sohn", hatte sein Vater gesagt, als sie das letzte mal telefoniert hatten. Zeit, von seinem Gesparten den Nachbarhof in Frankreich zu kaufen. Zeit, von seinen Bewunderinnen eine Frau auszusuchen, die sein Vater als würdig empfand — jung, blond und traditionell. Zeit, eine eigene Familie zu gründen.

Und doch zögerte er. Wolle mit fast dreißig immer noch nicht erwachsen werden, wie sein Vater gerne wiederholte, und keine Verantwortung übernehmen. Das sei sein Fluch.

Nur noch fünf Minuten.

Eilig biss Tivar von seinem Käse-Salami Sandwich ab und bog um die Straßenecke, die zur Bank führte, bei der er arbeitete — eine Glasfront in einem Betonkasten. Er hasste das Gebäude und sehnte sich nach dem Geruch von Heu und feuchter Erde. Nach dem Gefühl, nach einem Tag schwerer körperlicher Arbeit erschöpft auf dem Sofa zu sitzen und seinen kleinen Geschwistern vorzulesen. Mit Maïa auf seinem rechten Bein, Björn auf dem linken und einen Arm um den zarten Körper seiner jüngsten Schwester Adelise geschlungen.

Warum zögerte er, heimzukehren? Warum log er seine Eltern an und behauptete das nötige Geld für den Hof noch nicht zusammenzuhaben. War es sein Schicksal, für immer als unruhige Seele von der Verantwortung davonzulaufen? Oder hatten die Götter doch einen anderen Plan für ihn...

Eine Frau mit strengem dunklen Dutt stürmte gesenkten Kopfes aus dem veganen Café neben der Bank und rempelte ihn mit der Schulter an.

„Passen Sie doch auf!", zischte sie, doch ihre Stimme zitterte.

Er drehte sich zu ihr um einen bissigen Kommentar auf der Zunge, doch da erblickte er ihr Gesicht. Mehrere Schichten Make-up verdeckten wie eine Maske ihre Haut, doch es waren ihre Augen, die ihn innehalten ließen. Es waren die Augen eines Toten. Leblos und leer. Schnell schaute er weg und ging in die Bank.

Zurück in der kleinen weißen Zelle mit dem großen Fenster aß Tivar den letzten Bissen seines Brötchens und startete seinen Laptop. Doch seine Gedanken waren nicht bei den Zahlen und den Emails fordernder Kunden. Immer wieder sah er diese leeren Augen, hörte ihre zittrige Stimme. Hatte sie geweint?

Doch was kümmerte es ihn? Sie war nichts als eine dieser Großstadtschlampen, vor denen sein Vater ihn gewarnt hatte. Eine dieser Frauen, mit viel zu viel Makeup im Gesicht, die einen Mann nach dem anderen verführten und wahrscheinlich schon zig Abtreibungen hinter sich hatten. Wahrscheinlich weinte sie bloß, weil ihr letzter Geliebter sie durchschaut und verlassen hatte.

Tivar blickte aus dem Fenster und ließ seinen Blick über den Altbau auf der anderen Straßenseite schweifen. Wer da wohl alles schon gelebt hatte? Welcher historischen Ereignisse war dieses Gebäude schon Zeuge geworden? Doch Tivar wollte nicht über Geschichte nachdenken, denn das würde ihn nur wieder an seinen Vater erinnern.

Sein Blick glitt weiter über die gigantische Eiche, drei Blöcke weiter, die bereits erste Knospen ausbildete. Über ihre tief hängenden Äste, die perfekt zum Klettern wären. Wie gerne Tivar wieder Kind wäre! Dann würde er an einem warmen Frühlingstag wie diesem mit seinen Geschwistern durch den Hof tollen und auf Bäume klettern. Vielleicht würde ihre Mutter ihre Schullektionen nach draußen verlegen. Eine heile Familie... eine scheinbar perfekte Welt...

Tivar seufzte und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu. Wenn Tivar bloß nicht damals den Namen seines Vaters gegoogelt hätte. Wenn er bloß nicht angefangen hätte, alles zu hinterfragen.

Irgendwie war das heute nichts mehr mit der Konzentration. Als Tivars Blick erneut aus dem Fenster wanderte, blieben seine Augen an der Bank unter der großen Eiche hängen. Ein großer Ast hing halb über der Frau, die dort mit hochgezogenen Beinen und auf den Knien abgestützten Ellenbogen saß. Doch durch die Blätter hindurch konnte er einen dunklen Dutt erkennen. Er kniff die Augen zusammen. Das war sie doch! Die Frau, die ihn mittags angerempelt hatte. Oder spielte ihm sein Verstand einen Scherz?

Wie sie dort unter der Eiche saß, wirkte es beinahe idyllisch wie auf einem alten Gemälde. Die Trauernde Maid, nannte er es in Gedanken, während er sich kurzerhand krankmeldete und den Aufzug nach unten nahm. Heute würde er sich sowieso nicht mehr konzentrieren können.

Als er sich der Frau näherte, wusste er selber nicht warum. Sie war definitiv nicht sein Typ im romantischen Sinne: viel zu hager, in hautengen Jeans und einem geblümten rosa Oberteil bekleidet, mit viel zu viel Makeup und diesem zurückgegelten Dutt, der sie zwar perfekt im Trend, aber dennoch um viele Jahre älter wirken ließ.

„'Allo", sagte Tivar langsam und deutlich, um seinen französischen Akzent zu überspielen, „darf isch misch zu Ihnen setzen?"

Sie hob den Kopf und blickte ihn aus ihren leeren Augen an. Sie wirkten geschwollen, als müsse sie weinen, aber hätte keine Tränen mehr übrig. War es ihre Traurigkeit und die geradezu um Hilfe schreiende Haltung, die ihn reagieren ließ?

„Was wollen Sie von mir?", fragte sie mit einer nahezu emotionslosen Stimme.

Ach, die typische deutsche Direktheit! Aber mit einem Norweger als Vater wusste er damit umzugehen. „Sie wirken sehr niedergeschlagen", sagte er sanft und erwiderte ihren Blick.

Sie brach den Augenkontakt ab und blickte auf ihre Hände. War sie schüchtern? So hatte sie jedenfalls nicht gewirkt, als sie ihn mittags angeschnauzt hatte.

„Isch bin übrigens Tivar. Und Sie?", versuchte er, sie aus der Reserve zu locken.

Ihre Augen weiteten sich leicht und sie musterte sein Gesicht, als suche sie nach etwas. „Isla", murmelte sie.

Immerhin eine Reaktion, dachte Tivar und lächelte. „Schön Sie kennenzulernen, Isla."

Sie nickte und ihre Mundwinkel hoben sich in einem Lächeln, dass ihre kastanienbraunen Augen nicht erreichte.

Er gestikulierte zum veganen Café, wo sie vorher herausgestürmt war. „Dürfte ich Sie vielleicht zu einem Café überreden? Der muntert Sie bestimmt wieder auf."

„Nein! I-ich meine—" Sie schüttelte heftig den Kopf und musterte ihn. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe gleich noch einen Termin." Sie stand auf und lächelte flüchtig. „Es war auch sehr schön, Sie kennenzulernen."

Tivar schaute ihr nach, als sie schnellen Schrittes davonging und schüttelte den Kopf. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, einfach so eine fremde Frau anzusprechen? Er lachte auf — wahrscheinlich dachte sie jetzt noch, er wolle was von ihr!

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