KAPITEL 03 | JAMES
Charlie ist nicht mehr das schüchterne Mädchen mit den Sommersprossen und den albernen Kosenamen. Sie hat sich in jeder Hinsicht verändert und alles in mir schreit danach, wissen zu wollen, was der Grund dafür ist.
Eigentlich sollte mich ihre Veränderung nicht wundern, denn immerhin haben wir uns das letzte Mal vor elf Jahren gesehen, als sie noch sechs und ich sieben Jahre alt gewesen bin. Trotzdem frage ich mich, was passiert sein könnte, dass sie so abwehrend auf alles reagiert, was ihr über den Weg läuft. Mom erwähnte, dass sie schon seit der Begrüßung so gewesen ist, während Dad meinte, dass er sich das bei einer Siebzehnjährigen bereits gedacht hat. Aber ich habe das Gefühl, dass mehr dahinterstecken muss.
Niemand benimmt sich ohne Grund so.
Meine Augen schweifen über die Buchstaben und Wörter, aber trotzdem verstehe ich nur wenig. Nachdenklich lasse ich das Buch in meinen Schoß sinken und schaue nach draußen aus dem Fenster. Mom ruft mich in diesem Moment schon zum fünften Mal, weshalb ich mich seufzend auf den Weg in die Küche mache.
Währenddessen versuche ich mir Charlies Gesicht in Erinnerung zu rufen und es mit dem Gesicht von dem sechsjährigen Mädchen zu vergleichen. Zwischen den beiden liegen mindestens Welten.
Wenn ich mich recht erinnere, ist ihre Gesichtsform früher deutlich runder gewesen, jetzt ist sie eher herzförmig mit ein paar Sommersprossen, die geblieben sind. Die hellbraunen Augen sind beinahe dieselben und auch der einzige Grund, warum ich sie überhaupt wiedererkannt habe. Ihre Haare sind deutlich dunkler als früher und auch der leicht gewellte Pony ist neu. Außerdem ist es ungewohnt, sie so geschminkt zu sehen, auch wenn es ihre ohnehin schon großen Augen erstaunlich hübsch betont. Sind ihre Augen schon immer so groß und ausdrucksstark gewesen? Als kleiner Junge sind mir diese Details nie aufgefallen. Ihre Klamotten haben ziemlich viel Haut gezeigt, die sie offensichtlich nicht verstecken wollte und die meine Gedanken schnell auf etwas völlig anderes gelenkt haben.
Charlie ist nämlich verdammt attraktiv geworden. Und das weiß sie auch, da bin ich mir sicher.
Nichts an ihr deutet auf Unsicherheiten oder irgendwelche Komplexe hin. Mir gefällt ihr loses Mundwerk, solange sie damit niemanden beleidigt, auch wenn ich mir sicher bin, dass es aufgesetzt ist. Sie wirkt so, als würde sie krampfhaft jemand sein wollen, die sie nicht ist.
»Deck doch bitte den Tisch, James.« Mom wirkt noch gestresster als sonst, als sie mir die Teller samt Besteck in die Hand drückt. »Und wärst du so nett und holst Charlie? Eden kriegt sie nicht aus ihrem Zimmer heraus, was Artie wiederum dazu bringt, auch nicht sein Zimmer zu verlassen und jetzt kommt wahrscheinlich niemand zum Essen, dabei wollte ich doch, dass sich hier jeder wohl fühlt und alles schön ist, damit ...«
Ich unterbreche sie lächelnd. »Mom, beruhige dich, okay? Alles ist gut, so wie es ist. Und das Essen riecht hervorragend.«
Ihre verkrampften Schultern senken sich, was auch mich ein wenig entspannt. Ich mag es nicht, wenn sie oder Dad sich so unter Druck setzen. Der Druck der Farm lastet ohnehin schon auf ihnen.
Nachdem ich den Tisch gedeckt habe, werfe ich einen flüchtigen Blick in mein Zimmer und überprüfe, ob die Bücher in den Regalen noch an den richtigen Stellen sind. Miles bringt sie manchmal mit Absicht durcheinander, nur um herauszufinden, ob ich es auch bemerke. Lächelnd schließe ich meine Zimmertür.
Als würde ich nicht sofort sehen, wenn etwas fehlen würde.
Danach gehe ich direkt auf Charlies Gästezimmer zu und halte dann inne. Was will ich eigentlich zu ihr sagen? Sie wird ja wohl kaum herauskommen, wenn ich ihr dieselben Dinge wie ihre Mom an den Kopf werfe. Ich überlege, ob es klug wäre, diesmal ihre Sprüche zu ignorieren, anstatt noch einen draufzusetzen. Aber ich komme zu dem Entschluss, dass es keinen Sinn ergibt, vorsichtig mit ihr umzugehen, wenn sie sowieso schlecht gelaunt ist und alles und jeden auf dieser Welt hasst.
Entschlossen klopfe ich an.
Sie seufzt so laut, dass ich es klar und deutlich höre. »Ich habe gesagt, ich habe keinen Hunger, Mom. Außerdem bin ich müde.«
»Grumpy«, werfe ich ein. »Für Essen ist man nie zu müde.«
Sie sagt daraufhin nichts, aber ich höre hinter der Tür plötzlich seltsame Geräusche, die mich an das leise Klicken einer Fotokamera erinnern.
Misstrauisch kneife ich die Augen ein wenig zusammen. »Darf ich fragen, was du gerade tust?«
»Nein«, kommt es prompt zurück.
»Dann formuliere ich die Frage eben anders. Sag mir sofort, was du da machst.«
»Das war keine Frage, James.« Obwohl ich sie nicht sehen kann, höre ich ein kleines Lächeln in ihrer Stimme. Vielleicht täuschen mich meine Sinne aber auch. »Und um deine nicht vorhandene Frage zu beantworten: Ich schlafe.«
»Du schläfst?« Spöttisch lache ich auf. »Und was machst du in zehn Minuten, wenn wir alle am Tisch sitzen?«
»Da schlafe ich auch.«
Ich kann mich nicht mehr zurückhalten, meine Augen zu verdrehen und seufze dabei genervt auf. »Mach die Tür auf, Grumpy. Jetzt. Sonst gibt es nie wieder Abendessen für dich, solange du hier bist. Und meines Wissens nach bist du das noch für zweiundneunzig Tage.«
»Also umgerechnet: eine halbe Ewigkeit.«
Es dauert ein paar Sekunden, dann höre ich plötzlich das Entriegelungsgeräusch und die Tür geht auf. Charlie ist bereits im Schlafanzug. Obwohl es erst acht Uhr ist, hat sie es offensichtlich ziemlich eilig damit, den Tag abzuschließen und an nichts mehr zu denken. Die schulterlangen schwarzen Haare sind wie vorhin im Nacken zurückgebunden und der Pony ist auf irgendeine skurrile Weise gewellt und gerade zugleich.
»Sag mal, bist du etwa nur hier, um mich abzuchecken?«, gibt sie empört von sich.
Ich hebe langsam den Blick. »Bist du eigentlich immer so direkt?«
»Starrst du denn immer so offensichtlich?«
»Nicht immer«, entgegne ich und betrete ohne Umschweife ihr Zimmer, das sie bereits gehörig umgestellt hat.
Das Bett steht jetzt am geöffneten Fenster, die Kommode ist direkt neben der Tür und sie hat eine Menge Lichterketten aufgehängt, die den Raum in ein besseres Licht tauchen als die alte Deckenlampe. Sie hat sich außerdem die Mühe gemacht, zwischen jede kleine Glühbirne ein Bild aufzuhängen, auf dem jedoch nie sie oder irgendeine andere Person zu sehen ist.
Wenn ich genau hinschaue, sind es auch keine gewöhnlichen Fotos. Es sind Polaroidbilder, die Landschaften oder Urlaubsplätze zeigen.
»Klar, machʼs dir ruhig gemütlich«, murmelt Charlie kaum hörbar, als ich mich weiter umsehe.
Irgendwann drehe ich mich zu ihr um und ignoriere ihre Worte geflissentlich. »Du hast immer noch ein Faible für Lichterketten?«
Sie nickt und wirkt zum ersten Mal, seit sie hier ist, nicht genervt von allem. »Sie spenden das schönste Licht, das es gibt. Ich kann besser einschlafen, wenn sie an sind.«
»Ich weiß.« Meine Mundwinkel heben sich. »Das war auch schon so, als wir Kinder waren. Was ist mit den Polaroidbildern? Die hast du früher noch nicht gemocht.« Ich zeige auf das Bild, auf dem ein leerer Strand zu sehen ist, der von den Meereswellen bedeckt wird. »Hast du das fotografiert?«
»Es war in Italien vor drei Jahren. Ich hatte ja eigentlich vor, noch mal dorthin zu gehen, um wieder zu fotografieren, aber eure tolle Farm hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Zum Ende hin wird sie immer wütender.
»Kurz bevor wir weggezogen sind, hast du noch gesagt, wie gerne du uns besuchen wolltest.«
Mir ist klar, dass das eine halbe Ewigkeit her ist, aber etwas in mir möchte wissen, an wie viel Charlie sich noch erinnern kann. Sie wirkt jedoch nicht so, als würde sie das ebenfalls herausfinden wollen, als sie sich auf ihr Bett fallen lässt und mit stoischer Miene auf die Tür zeigt. »Wenn du nur hier bist, weil du in Erinnerungen schwelgen willst, kann du gleich wieder die Fliege machen. Ich brauche keine Gesellschaft.«
Dass sie mit mir oder mit Belle so redet, macht mir kaum etwas aus, weil ich weiß, dass es nur leere Worte sind. Aber dass sie mit ihrem Verhalten auch meine Mom verletzt, die versucht alles perfekt für jeden hier zu machen, passt mir ganz und gar nicht. Sie hat keine Ahnung, wie es ist, ernsthafte Geld- und Existenzprobleme zu haben, denn wenn sie es wüsste, würde sie sich ganz anders verhalten. Allein aus Respekt würde sie sich anders verhalten.
Ohne darüber nachzudenken, gehe ich auf die Steckdose zu und ziehe das Kabel der Lichterkette heraus. Im nächsten Moment ist es beinahe stockdunkel im Zimmer, nur der Mond spendet ein wenig Licht.
»Was zum ...?« Sie lässt die Frage wütend in der Luft hängen und stapft schnellen Schrittes auf mich zu, um mir das Kabel aus der Hand zu reißen.
Als sie es erneut in die Steckdose stecken will, nehme ich es ihr weg und schleudere es aus dem Fenster. Das war wirklich nicht geplant und wenn ich nicht so wütend wäre, hätte ich fast angefangen zu lachen.
Wann wirft man schon mal eine Lichterkette aus dem zweiten Stock?
»Bist du irre?«, schreit sie beinahe.
Meine Miene bleibt hart, als ich sage: »Wenn du in zehn Minuten nicht zum Essen kommst, landet nächstes Mal nicht nur das Kabel in unserem Innenhof, Grumpy.«
Sie legt den Kopf in den Nacken und sieht zum zweiten Mal heute richtig sprachlos aus, während sie mir ins Gesicht blickt.
Perfekt. Eine sprachlose Charlie. Was will ich mehr? Obwohl ich es verhindern will, muss ich doch ein wenig grinsen.
Mich wundert es nicht, dass Charlie zehn Minuten später tatsächlich am Esstisch sitzt. Direkt vor mir. Sogar nicht mehr im Schlafanzug. Sie hat sich extra umgezogen und trägt nun enge Jeans und ein knappes Top.
Ihr Blick ist so wütend, dass ich schon wieder fast losgeprustet hätte. Weiß sie eigentlich, wie verkniffen ihr Gesicht gerade wirkt? Wenn sie ihr ganzes Leben lang so guckt, bleibt der Gesichtsausdruck irgendwann noch bestehen.
»Schön, dass wir alle hier sitzen können.« Mom sieht ehrlich glücklich aus und allein dafür hat sich die Lichterkettenaktion gelohnt.
Dad hält sein Bier in die Höhe und sieht stolz in die Runde. »Auf ein paar aufregende Wochen!«
Die Einzige, die nicht mit anstößt, ist natürlich Charlie.
»Willst du gar nichts essen, Charlotte?« Ihre Mom macht den Eindruck, als würde sie ihre Tochter für ihr Verhalten am liebsten quer über den Tisch anspringen.
Diese Spannung gefällt mir wirklich gar nicht. Ich trete Charlie ganz leicht gegen das Schienbein, woraufhin sie so fest ausholt, dass ich am liebsten laut aufgeschrien hätte. Kraft hat sie, das ist schon mal klar. Ich blicke sie wütend an, woraufhin sie mich mit ihren riesigen Augen beinahe erdolcht.
Als sie nicht hinguckt, schnappe ich mir ihren Teller und lege ein bisschen von dem Gemüse darauf. Beim Fleisch zögere ich ein wenig. Charlie ist, seit ich denken kann, Vegetarierin und wenn sie nur halb so überzeugt von dieser Ernährungsweise ist wie früher, dann ist sie es wahrscheinlich immer noch. Also gebe ich ihr nur noch ein wenig Kartoffelbrei auf den Teller und stelle ihn ihr vor die Nase.
Sie sieht mich weniger wütend an als noch gerade eben, aber trotzdem kommt kein »Danke« über ihre Lippen.
Dann eben nicht.
»Ich kann mir vorstellen, dass ihr die Sommerferien besser hättet verbringen können«, fängt Dad plötzlich an, während er sich über die müden Augen reibt und insbesondere Charlie und Artie ansieht. »Aber ich bin wirklich dankbar dafür, dass ihr und eure Mom uns helfen wollt.«
»Ich mag Bauernhöfe«, entgegnet Artie. »Und Kühe! Miles und ich waren vorhin bei den Kühen. Die musst du morgen unbedingt sehen, Charlie.«
Sie schenkt ihm ein kleines, echtes Lächeln, das mich aus irgendeinem Grund kurz völlig vergessen lässt zu atmen. »Ich würde die Kühe wirklich gerne sehen.«
»Ich kann sie dir zeigen«, werfe ich ein wenig zu schnell ein.
Sie wirkt nicht gerade begeistert davon. »Okay.«
»James und Belle werden dir morgen ohnehin alles zeigen, Charlie.« Eden fuchtelt ihrer Tochter dabei drohend mit der Gabel vor der Nase herum.
Charlies Mutter und meine Eltern besprechen für die kommenden Wochen, wer für was zuständig ist, aber es kommt mir nicht so vor, als würden Charlie und Artie richtig zuhören. Trotzdem bin ich zufrieden, als sie sich noch Nachschlag holt und beim Kauen genüsslich seufzt.
Als sie ab und zu lächelt, während Artie mit ihr redet, ertappe ich mich dabei, wie ich sie anstarre und aus irgendeinem Grund nicht mehr damit aufhören kann. Was mache ich hier eigentlich? Ständig klebt mein Blick wie Sekundenkleber an ihr, dabei ist sie charakterlich gesehen nicht einmal mein Typ. Sie ist anstrengend, schnell genervt und launisch und von solchen Mädchen halte ich mich eigentlich fern.
Aber manchmal gibt es diese kleinen Momente, in denen sie mehr wie sie selbst wirkt. Wie zum Beispiel vorhin, als sie die Lichterketten betrachtet hat oder wenn ihre Aufmerksamkeit ihrem kleinen Bruder gilt. An dieser Version von ihr ist nichts aufgesetzt und ich habe vor, mehr von der lächelnden Charlie zum Vorschein zu bringen.
Wenn ich sie schon drei Monate lang aushalten muss.
Jetzt lacht sie leise, während Artie mit seinem Essen spielt, und dreht den Kopf im nächsten Moment zu mir. Kauend und lächelnd betrachtet sie mich, wobei es mir so vorkommt, als würde ihr gefallen, was sie sieht. Mir geht es ja leider ganz genauso.
Und trotzdem ist und bleibt Charlie Gibson das unausstehlichste Mädchen, das ich seit langem getroffen habe.
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