KAPITEL 02 | CHARLIE

James sieht lange nicht mehr so aus wie der siebenjährige kleine Junge, der er einmal gewesen ist. Dieser Kerl, der vor mir steht, ist in jeglicher – komplett objektiver – Hinsicht perfekt und das denke ich nicht oft. Eigentlich sogar nie. Noch immer starre ich ihn an und gebe mir nicht einmal besonders viel Mühe dabei unauffällig zu sein.

Mein Blick fällt zunächst auf sein Gesicht. Das Erste, was ich ausgiebig betrachte, sind seine hohen, leicht geröteten Wangenknochen und seine schön geschwungenen Lippen. James besitzt diese Art von Gesicht, das man einfach nicht vergessen kann, auch wenn man es noch so sehr will. Seine Haut ist gebräunt und steht stark im Kontrast zu seinen hellen Haaren, die im Sonnenlicht wie gesponnenes Gold wirken. Plötzlich erscheint ein Bild des kleinen Jungen mit seinem blonden Lockenkopf vor meinem inneren Auge. Jetzt jedoch sind seine Haare kurz, leicht gewellt und ein wenig dunkler als damals.

Als er ebenfalls zu mir aufsieht und bemerkt, dass ich auf einem Heuballen stehe, zieht er eine belustigte und fast schon durchtriebene Miene. Meine Knie werden weich, was ziemlich ungewohnt ist. Auch dass mein Herzschlag schneller wird und laut in meinen Ohren widerhallt, ist keine normale Körperreaktion für mich.

Schluckend wandern meine Augen von seinen breiten Schultern zu seinem Bauch, der sich unter dem engen und verschwitzten T-Shirt abzeichnet. Er macht den Eindruck, als hätte er sich gerade eben noch körperlich angestrengt, denn er hält eine halbvolle Wasserflasche in der linken Hand und seine Brust hebt und senkt sich unkontrolliert, während auch er mich ausgiebig betrachtet.

Belle presst sich lachend die Hand auf den Mund. »Meine Güte, ihr seid ja schlimmer als Bella und Edward, als sie sich das erste Mal begegnet sind.«

»Du hast Twilight gesehen?«, frage ich fassungslos, kann den Blick aber immer noch nicht von James und seinem blöden perfekten Gesicht abwenden.

»Wir leben in New Falcon, nicht auf dem Mond, Charlie.«

Endlich sehe ich zu Belle, die jetzt fast schon nachdenklich lächelt und zwischen James und mir hin und her schaut.

Ich spüre ein leichtes Brennen an meinen Beinen, was mich plötzlich wieder in das Hier und Jetzt zurückbringt und endgültig durchdrehen lässt. Riesige rote Kratzer ziehen sich von meinen Waden bis zu meinen Oberschenkeln. Natürlich habe ich genau heute einen Minirock angezogen, der mich vor dem Stroh nicht schützen konnte, als ich hochgeklettert bin. Angewidert streiche ich die Strohreste von meinem knappen Top, während ich einen genervten Laut ausstoße. Seit nicht einmal fünfzehn Minuten befinde ich mich in New Falcon und es fühlt sich bereits wie eine halbe Ewigkeit an.

James besitzt die Dreistigkeit, über meinen Zustand zu schmunzeln. Seine Augen liegen ein paar Sekunden zu lange auf meinen Beinen, um bloß von den Kratzern gefesselt zu sein, aber er macht keine Anstalten wegzugucken.

»Wie wäre es, wenn du mir ins Gesicht siehst, Mistkerl?« Keine Ahnung, warum ich ihn so anfahre, denn um ehrlich zu sein hat mich sein Blick nicht einmal gestört.

Zu meiner Überraschung verschwindet das Grinsen nicht aus seinem Gesicht, als James mir fast schon provozierend in die Augen sieht. »Mistkerl? Wie charmant. Vielleicht solltest du erst mal von da oben runterkommen, bevor du vor lauter Übermut noch ausrutschst.«

»Du denkst, ich rutsche aus?«, frage ich lachend und strecke ihm im nächsten Moment meine Zunge heraus.

James hebt spöttisch die geschwungenen Augenbrauen, die ein paar Nuancen dunkler sind als seine Haare. »Was bist du? Zwölf?«

»Auf einer Skala von eins bis zehn, ja.«

Belle verschränkt schnaubend die Arme vor der Brust. »Du denkst dir auch jeden Abend vor dem Einschlafen diese Sprüche aus und bist im Nachhinein unglaublich stolz auf dich, wenn sie am nächsten Tag Verwendung finden, oder?«

Ich spitze ein wenig die Lippen. »Nicht neidisch sein, Tinkerbell. Obwohl du wirklich allen Grund dazu hast, wenn man bedenkt, dass du mich erst seit ein paar Minuten kennst und bereits einsehen musst, dass ich dich in so ziemlich jedem erdenklichen Aspekt übertreffe.«

Jamesʼ Grinsen ist plötzlich wie weggewischt, als er sagt: »Eigentlich übertriffst du uns gerade nur mit deiner Größe, Grumpy. Und vielleicht noch mit deiner Arroganz.«

Belle sieht ihn dankbar an. Dadurch, dass James so empfindlich reagiert, ist es klar und deutlich für mich, dass zwischen ihnen weitaus mehr als nur Freundschaft sein muss. Niemand setzt sich für eine gewöhnliche Freundin so vehement ein, oder? Allerdings bin ich auf diesem Gebiet nicht wirklich eine Expertin.

Da fällt mir wieder ein, dass ich Brenna und Owen schreiben wollte, also schaue ich auf mein Handy, während ich einen Schritt nach vorne mache. Plötzlich stolpere ich und rutsche vom Heuballen herunter. Unsanft lande ich mit dem Hintern auf dem Boden, schließe die Augen und lehne mich stöhnend an das Stroh.

Ich bin offiziell am Tiefpunkt meines Lebens angekommen. Es gibt keinen Empfang, ich habe aufgeschürfte Beine und mein Steißbein pocht so sehr, dass ich mich nicht einmal bewegen kann.

»Charlie, gehtʼs dir gut?« Belles Stimme ist direkt vor mir und klingt seltsam panisch.

Ich stöhne auf, ob vor Schmerz oder genervter Anspannung, weiß ich nicht so genau.

Langsam öffne ich die Augen und blicke geradewegs in Jamesʼ Gesicht. Ich muss ihn ein bisschen zu lange angestarrt haben, denn er runzelt verwirrt die Stirn, als ich mich nicht mehr bewege.

»Brauchst du Hilfe oder wieso rührst du dich nicht vom Fleck?«, fragt er langsam.

Fassungslos öffne ich den Mund, bekomme aber kein Wort heraus, weil ich aus irgendeinem Grund plötzlich das Sprechen verlernt habe. Ich glaube, das ist noch nie vorgekommen. Oder es ist so lange her, dass ich nicht mehr weiß, wann es das letzte Mal passiert ist.

Jamesʼ Lippen verziehen sich zu einem provokanten Lächeln. »Erinnerst du dich überhaupt noch an mich, Charlotte?«

»Charlie«, verbessere ich ihn automatisch. »Warum sollte ich mich nicht erinnern?«

»Wie soll ich das jetzt am besten ausdrücken, Grumpy?« Er atmet einmal tief durch, dann erscheint wieder dieses provokante Grinsen auf seinen Lippen. »Bis jetzt hast du mir gegenüber nur dein eingebildetes Gehabe und deine lahmen Sprüche gezeigt. Und dabei warst du früher so nett und unschuldig.«

Perplex öffne ich den Mund. »Also in meiner Erinnerung warst du deutlich weniger vorlaut.«

»Das nehme ich jetzt mal als Kompliment«, entgegnet er, während er einfach nach meinem Handgelenk greift und mich hochzieht, als würde ich fast nichts wiegen.

Schnell mache ich mich von ihm los und ignoriere den Schauer, der mir über den Rücken läuft. Den habe ich wahrscheinlich nur aufgrund meines schweren Sturzes bekommen. Ist es normal, dass sich plötzlich alles dreht? Ich bin versucht, an meinen Fingernägeln zu kauen, aber James und Belle starren mich so unverwandt an, dass es mir fast schon unangenehm ist. Mir wird auf einmal kotzübel und meine Kehle fühlt sich seltsam trocken an. Sind das vielleicht die Symptome dieses schrecklichen Ortes?

Belle untersucht mich mit einem besorgten Blick, dann wirft sie fassungslos die Arme in die Luft. »Und alles nur wegen ein bisschen Empfang?«

»Halt ... halt die Klappe«, bringe ich hervor, während die Übelkeit immer schlimmer wird.

James drückt mir mit zusammengezogenen Augenbrauen seine Wasserflasche in die Hand, die er schon die ganze Zeit gehalten hat. Sie ist nur noch halb voll, was bedeutet, dass er bereits daraus getrunken hat. Das heißt, dass ich gleich seinen Speichel in meinem Mund haben werde. Und das wiederum ist wie ein Zungenkuss, oder nicht?

Sag mal, habe ich mir den Kopf gestoßen? Natürlich ist es nicht wie ein Zungenkuss. Ich greife nach der Flasche, trinke gierig alles aus und wische mir schwer atmend das restliche Wasser von Kinn und Mund.

»Wow, das ist das erste Mal, dass du dich wie ein typisches Farm-Mädchen benimmst«, kommentiert Belle meine Geste.

Ich strecke ihr den Mittelfinger entgegen, greife seufzend nach meinem Koffer und gehe stumm an den beiden vorbei, wobei ich keine Ahnung habe, wohin ich eigentlich laufe. »Was wollt ihr?«, frage ich, als die beiden mir folgen.

»Meine Wasserflasche«, antwortet James, als wäre es offensichtlich, während er auf meine linke Hand zeigt. Tatsächlich habe ich vergessen, sie ihm zurückzugeben. Seine Mundwinkel heben sich amüsiert, als er sich Belle zuwendet. »Hast du ihr schon die Farm gezeigt?«

»Ich kam noch nicht dazu. Außerdem ist sie nicht gerade einfach, wie du vielleicht bemerkt hast.«

Wütend funkele ich sie an. »Noch so ein Kommentar und ich mache Frühstücksbrei aus dir, Tinkerbell.«

Während James schmunzeln muss, es aber mit einem Husten kaschiert, ist Belle alles andere als zum Lachen zumute. »Wieso zeigst du ihr nicht alles, James? Ich für meinen Teil habe meinen Bedarf an Überheblichkeit für heute schon gestillt.«

Damit dreht sie sich einfach um und verschwindet, wobei ihr blonder Pferdeschwanz hin und her wippt. Ich fühle mich nicht einmal schlecht, dass sie geht. Am liebsten hätte ich ihr noch irgendetwas hinterhergerufen, aber das wäre nun wirklich etwas kindisch gewesen.

James räuspert sich neben mir. »Nimm deinen Koffer und komm mit, Grumpy.«

»Erstens: Nenn mich nicht so. Und zweitens würde ein Gentleman den Koffer selbst nehmen«, murre ich, aber er hat mir bereits den Rücken zugewandt und ist losgelaufen. Ich folge ihm mies gelaunt, aber das scheint ihn nicht zu stören. Mir kommt es fast so vor, als wäre er jetzt am liebsten an jedem anderen Ort, nur nicht hier bei mir.

Ich kann es ihm nicht wirklich verübeln.

Mit einer ausladenden Armbewegung zeigt er auf das Haus links von uns. »Das ist das Wohnhaus, in dem du ...«

Ich unterbreche ihn. »Das hat mir Belle schon erklärt. Man kann dort schlafen, essen und kochen, aber sollte auf gar keinen Fall aufs Klo gehen.«

»Stimmt«, entgegnet er, als er plötzlich stehenbleibt. Ich glaube, jetzt ist das letzte bisschen Lust, mich hier herumzuführen, bei ihm endgültig verpufft. »Dein Zimmer ist im zweiten Stock. Wenn du links abbiegst und geradeaus läufst, kommst du zu einer Tür mit einem selbstgemalten Bild von Belles kleinem Bruder Miles.«

Ich sage nichts und halte einfach nur seinem provozierenden Blick stand.

»Ich habe noch andere Dinge zu erledigen.« Er vergräbt die Hände in seiner verwaschenen Jeans und kneift dann ein wenig die Augen zusammen. »Aber ich bin mir sicher, du schaffst es auch allein, deinen Koffer auszuräumen. Immerhin bist du ja so viel besser als wir.«

Ich ignoriere den letzten Teil seiner Aussage, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. »Das warʼs?«, frage ich stattdessen, während ich verwirrt die Augenbrauen zusammenziehe. »Gibt es hier nicht viel mehr zu sehen?«

»Doch«, erwidert er nur mit einem kleinen Lächeln.

»Und warum zeigst du es mir dann nicht?«

Er mustert jeden Winkel meines Gesichts, bis er mir wieder in die Augen sieht und betont gleichgültig mit den Schultern zuckt. »Weil du nicht den Eindruck machst, als würde es dich interessieren.«

Ich weiß, was er hören will. Was jeder hier hören will. Ich soll sagen, dass ich eine tolle Zeit haben werde und dass mein Urlaub auf dieser Farm besser sein wird als mein geplanter Trip nach Italien, aber das wäre gelogen. Und ich tue wirklich viele ungerechte Dinge, aber Lügen gehört definitiv nicht dazu. Außerdem stimmt es, was er sagt. Mich interessiert diese Farm nicht, mich interessiert der Wohltätigkeitsdrang von Mom und Artie nicht und James Westwood interessiert mich am allerwenigsten.

Also umschließe ich den Griff meines Koffers und gehe stumm an ihm vorbei ins Wohnhaus. Ich höre ihn hinter mir leise ausatmen und ertappe mich selbst ebenfalls dabei, wie ich die angehaltene Luft endlich herauslasse.

»Pass auf, dass du nicht über die Türschwelle ...«, ruft er mir genau in dem Moment nach, als ich ausrutsche und es mich zum zweiten Mal in zehn Minuten auf den Boden legt.

Ich fluche laut und ausgiebig.

Wenn das nicht die Konsequenzen meiner eigenen miesen Taten sind.

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