stolperndes Herz


Lucias Sicht

Ich laufe und fahre nicht mit dem Bus.

Meine Bilder, meine Gedanken, habe ich meiner Kunstlehrerin überlassen. Nach meiner Auseinandersetzung mit Lukas hielt sie es für das Beste, dass ich meine Mutter anrufen würde und ich nach Hause gehe. Ich sagte ihr, dass ich ins Krankenhaus zu meinem Vater möchte, da meine Mutter auch dort sein wird. Sie überprüfte es gar nicht. Sie glaubte mir. Sie bestand nicht einmal darauf mit meiner Mutter zu sprechen. Wäre mein Vater nicht in dieser Situation, hätte ich wahrscheinlich schon Nachsitzen müssen oder hätte einen Tadel bekommen.
Ich wäre nach der Situation in Mathe und der von heute sicher von der Schule geflogen.

Aber jetzt ...

Jetzt haben sie Alle Mitleid mit mir. Sie fassen mich mit Samthandschuhen an, weil sie glauben, dass sie mich zerbrechen könnten. Das sie mich brechen werden.

Als hätten sie wirklich so viel Einfluss.
Als würden sie es jemals schaffen.

Als –

Als wäre ich selbst nicht stark genug.

Tief atme ich ein und aus, als ich den Gedanken zu Ende denke. Er stimmt mich einige Sekunden traurig.

Sie denken ich bin schwach.
Sie denken wirklich ich bin schwach.

Doch dann realisiere ich: Ich habe auch vor ihnen geweint.

Ich habe schwäche zugelassen.
Ich habe sie ihnen bereitwillig gezeigt.

Eine Schwäche, die ich nicht einmal als Kind zulassen wollte. Ich schnaube.
Und genau in diesem Moment wird mir klar, welchen Ort ich aufsuchen möchte.



Ich laufe nicht zum Krankenhaus oder nach Hause.
Ich habe meine Mutter nicht angerufen.

Ich will nicht mit ihr oder meinem Vater reden. Ich will mich nicht verantworten müssen oder denen die Wahrheit erzählen. Ich will nicht in ihre enttäuschten Gesichter sehen.

Meine Eltern werden mich auch für schwach halten. 
So schwach, wie ich an der Beerdigung von meinem Opa war.

Ich laufe lange, bis ich an den Ort komme, an dem ich die ganze Zeit gedacht habe. Ich schaue hoch zu den trostlosen Zweigen – das letzte Mal als ich diesen Baum gesehen habe, war er voll mit Blättern und Blüten. Erst als mein Nacken in der Position anfängt steif zu werden, schüttle ich meinen Kopf und laufe um den Baum herum. Ich suche einen passenden Ast, an dem ich mich hochziehen kann. Als ich ihn gefunden habe, klettere ich.
Ich setze mich auf einen dicken Ast, auf dem ich früher mit meiner Freundin saß. Von hier haben sie und ich das Gegenüberliegende Haus auszuspionieren.

Sie wollte immer hier sein. Sie war so verknallt in den Jungen –
Und ich später in seinen Bruder.

„Mal'ach?", mein Blick gleitet automatisch zur Stimme. „Was machst du hier?" Meine Augen suchen den Bruder und als ich ihn entdecke, lächle ich.

„Dasselbe könnte ich dich fragen." Ich merke selbst, wie meine Stimme plötzlich viel leichter klingt. Schlagartig ändert sich mein Gemütszustand.
Bis ich mich daran erinnere, dass er keine Gegenfragen mag. „Ich kann es dir nicht so genau beantworten. Ich hatte das Bedürfnis hier her zu kommen. Ich habe nicht großartig darüber nachgedacht."

So wie ich zuvor, klettert auch er den Baum hoch. Er ist lediglich um einiges schneller. Als er auf meiner Höhe ankommt, hält er sich mit einer Hand an einem Ast über mir fest. Seine andere Hand streicht mir meine Strähnen aus dem Gesicht. „Du hast überall Farbe.", bemerkt er und beobachtet mich genau. 

„Ich habe gemalt."

„Und du siehst müde aus." Er legt zwei seiner Finger unter meinem Kinn und hebt meinen Kopf leicht an.

„Ich habe die ganze Nacht gemalt." Ich presse meine Lippen zusammen. Immer noch verharrt er in seiner Position.

Ich will nicht das er geht.

„Du solltest nach Hause gehen und dich schlafen legen.", sagt er ohne große Überzeugungskraft.

Das will ich auch nicht.

Meine Mundwinkel ziehe ich leicht nach oben. „Ich würde gerne noch etwas hierbleiben. Setz dich doch neben mich." Ich beende den Augenkontakt und rücke ein Stück zur Seite. Aber er setzt sich nicht.

Und mir wird schlecht.

„Was machst du hier?", frage ich ihn in diesem Stillen Moment. Ich Blicke auf das Grundstück vor mir. Seit dem Brand hat es niemand gewagt ein neues Gebäude auf diesem zu bauen. 

Ich will ablenken. Das flaue Gefühl aus meinen Gedanken vertreiben.

„Ich habe mich gewundert wo du hin willst. Ich bin dir gefolgt."

„Du hast mich also vorher beobachtet." Mein Herz macht zwei schnelle Schläge. Als würde es über sich selbst stolpern.

„Ja."

„Machst du das öfter?" Ich kenne die Antwort bereits. Er hatte es schon mal gesagt.

Aber ich kann es nicht glauben.

„Ja." Sein Blick durchbohrt mich. Er hat angefangen, mit einer immer wieder rausfallenden Strähne von mir zu spielen.

„Also bist du immer in meiner Nähe."

Er antwortet mir nicht direkt. „Nein."

Wieder stolpert mein Herz. „Nein?" Ich schlucke. Ich weiß nicht, was seine Antwort in mir auslöst.

Erleichterung? Furcht? Verzweiflung?
Was ist das nur in mir?

„Ich beobachte dich schon lange. Aber ich kann nicht immer in deiner Nähe sein. Ich habe auch Sachen, die ich erledigen muss." In seinen Augen schimmert wieder dieser Funken. Ein Funken, der mir Angst bereitet. „Außerdem kann ich nicht immer an einen Ort bleiben." 

Es klingt ...

„Du willst gehen?", meine Stimme überschlägt sich fast. Und mein Herz stolpert. Meine Hand kralle ich fest um einen Zweig.

„Ja."

„Wieso?"

„So ist es nun Mal."

„Das beantwortet meine Frage nicht. Wieso?" Meine Stimme bricht.

„Mal'ach -" Er zieht fest an meiner Haarsträhne.

„Wieso." Mein Herz stolpert und stolpert und stolpert. Es überschlägt sich immer und immer wieder.

„Ich kann nie lange an einem Ort bleiben. Ich bin schon viel zu lange hier."

Nein.
Bist du nicht.
Dich hat doch keiner gefunden. Du kannst hierbleiben.
Hier.
In meiner Nähe. 

„Dein Vater wird bald wieder auf den Beinen sein. Er wird nach mir suchen. Er wird mich finden. Er ist zielstrebiger als seine Kollegen." Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Als würde er mich damit trösten wollen.

„Kommst du zurück?"

Er geht sicher nur für ein paar Tage.
Er wird nur ein paar Tage weg sein.
Tage. Tage. Tage.
Ich wiederhole es immer und immer wieder. So kann ich es mir selbst einreden.
Glaube ich.

Er weicht meinem Blick aus. „Ich komme jedes Jahr zurück."

Und es stolpert schon wieder.

Und wieder.
Und wieder.
Und wieder.

„Jedes Jahr? Du meinst ..." Seine Hand umgreift mein Kinn.

„Ja."

Nein.

Nein.

Nein." Meine Augen füllen sich mit Tränen. „Du kannst nicht gehen."

„Du bist frei, Mal'ach." Seine Hand drückt fest zu, Schmerz durchfährt meinen Kiefer, doch ...

Doch dann lässt er los.

„Du gehörst mir Mal'ach.", flüstere ich. Die Worte auf meinen Rücken scheinen zu brennen. „Ich gehöre dir."

Dir.

Ich bekomme keine Luft. Meine ganze Luft ist verbraucht. 

Die ganzen Schmerzen sind mir egal.

Sie zeigen ..., dass er da ist.
Sie zeigen doch, dass er da ist.

Nein.

Ich –

Das Lächeln in seinem Gesicht bleibt. „Ich bin dein Gegenstück, Mal'ach. Genau wie du mein Gegenstück bist. Aber ich kann hier nicht bleiben. Und du kannst nicht gehen."

Ja.

Das hatte ich ihm gesagt.

Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht kann.

Wieso habe ich es gesagt?

Darüber könnte ich Stunden philosophieren. Und ich würde keine Antwort erhalten. 

Ich würde immer nur die Frage wiederholen. Und mir sagen, dass er nur paar Tage geht. 
Ich würde sagen, das mein Herz gar nicht stolpert, sondern einfach nur Luftsprünge macht. 
Ich würde sagen, das er mein Gegenstück ist, sowie ich seins bin. Das er deswegen gar nicht lange fortbleiben kann. Schließlich sind wir zwei Teile eines perfekten Ganzen.
Ich würde mir einbilden, dass ich sein gehen verdrängen kann. Das ich es verdrängen kann, wie die Toten an Billys Geburtstag. 

Ich würde erkennen, dass ich ohne die Erleichterung seiner Schmerzen nicht mehr schlafen kann. 
Das ich ohne seine Worte nicht mehr Besonders, sondern nur Anders sein werde.
Das ich ohne ihn nicht hineinpasse. 

Das ich ohne ihn fallen werde.

Mein Herz stolpert und ich kralle mich in seinem Pullover fest.  Lasse die Träne über meine Wange laufen.

Ich lasse ihn sehen, wie schwach ich bin.

Ich lasse ihn sehen, dass er mich brechen kann.

Er.

Und meine Lippen ...  meine Lippen lasse ich ganz sanft seine streichen. 

Mit einem Herzen, dass für eine Sekunde vergisst zu stolpern.

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