Liebe

Ich fühle mich ... nicht anders.

Doch alleine der Gedanke hinterlässt dieses kribbeln. Ist es das, wovon Elina mir erzählt hat?

Meine Füße habe ich auf den Beifahrersitz gestellt, die Knie fest an meine Brust gezogen. 
Jeff fährt schon wieder. Lange hat er sich nicht ausgeruht.
Unauffällig versuche ich zu ihm rüber zuschauen. Ein schüchterner Blick, als hätten wir vor ein paar Stunden nicht diese Berührungen ausgetauscht.

Er hat sich dazu nicht geäußert.

Er ist eingeschlafen. Ich selbst konnte kein Auge zu tun. Als er aufgewacht ist, ist er direkt weiter gefahren. 

Und nun liegen tausend Worte auf meiner Zunge ...  und ich kann mich nicht überreden sie los zulassen.

Wieso schaffe ich es nicht, mich selbst zu überwinden?

Meine eine Hand fängt an meine andere schmerzhaft zu kneten. Dabei gleitet mein Blick wieder in die Ferne. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Gegend mir nicht nur zufällig Vertraut vorkommt. 

"Du fährst zurück." Eigentlich wollte ich es als Frage klingen lassen. Doch dafür bin ich mir zu sicher. Schnell setzte ich mich gerade hin und verfolge im Seitenfenster eins der vorbeirauschenden Straßenschilder.

"Ja."

"Aber wieso? Meinst du nicht, dass sie uns finden werden?" 

Einen Augenblick schaut er in meine Richtung. "Dann sollen sie doch kommen." Bei ihm klingt es so leicht.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Eine Mischung aus stolpern und rasen.  "Das alles ist keine gute Idee." Meine schwitzigen Handflächen wische ich in den Stoff meiner Hose ab. So eine Situation halte ich kein zweites Mal aus.

Für so eine Situation ...

Für so eine ...

Für so eine würde nur noch mein Notfallplan reichen.

"Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt.", antwortet er harsch. Doch sofort scheint er sich selbst zu beruhigen. "Die werden überall nach uns suchen. Meinst du, dass sie uns in deiner Heimat erwarten?"

"Das hast du schon mit dem Krankenhaus gemeint." Einmal will ich das Steuer übernehmen. Einmal will ich entscheiden, bevor es nachher zu spät ist.

"Lucia." Er stockt. "Es wird alles wieder gut werden. Ich werde das alles wieder ins Reine bringen. Nur dafür müssen wir zurück. Ver- Vertrau mir." Noch nie habe ich ihn so zerbrechlich, so hilflos gesehen. Hatte er diese Seite schon immer an sich? Doch wieso ist er so? Gerade jetzt? Wir sind doch nicht annähernd in der Situation von letztens. 

Ich kämpfe mit mir selber. Will weiter nachhaken, doch entscheide mich dagegen. Es hat immer einen Grund, wenn er nicht weiter ausholt. Es ist besser so. " Ich vertraue dir."

Und wieder lasse ich die Stille uns verschlucken.



Ich beiße auf meine Zunge, als er den Wagen zum stehen  bringt.

Das kann nicht sein Ernst sein.

Das kann nicht - 

Ich schlucke die Überraschung, meine Nervosität herunter und weiß nicht wann ich mich schlimmer gefühlt habe. Als er mich das erste Mal hier her gebracht hat oder nun, wo schon so viel Zeit vergangen ist. So viel Zeit, die jemand anderen wie ein Augenblick vorkommt.

"Willkommen ... zu Hause.", wiederholt er murmelnd seine Worte von damals. Seine Hände befinden sich noch immer am Steuer. Sein Blick ist weiterhin starr nach vorne gerichtet.

Und ich kann nichts sagen und ich kann nicht reagieren und ich ... ich kriege kaum Luft.

"Du bist darüber nicht glücklich." Stellt er fest. 

"Das ist egal.", krächze ich leise. "Ich vertrau dir." Während ich spreche schnalle ich mich ab und verlasse das Fahrzeug. Hoffentlich ist mein Vater bei meiner Abwesenheit nicht auf dieses Gebäude gekommen.
Kälte schlägt mir entgegen. Der Himmel ist mit grauen, bauschigen Wolken zugezogen, die das letzte Sonnenlicht verschlucken. 
Auch Jeff ist nun aus dem Auto gestiegen. Er stellt sich neben mich und schaut wie ich auf das verlassene Gebäude.

"Ich habe nicht damit gerechnet, nochmal hier her zu kommen.", füge ich hinzu.

"Dann ist es eine noch größere Überraschung."

"Hm?", verdutzt schaue ich zu ihm.

"Welcher Tag ist Heute?"

"Ich habe die Tage nicht gezählt."

"Es ist Heilig Abend. Ich dachte - wenn du schon nicht bei deiner Familie sein kannst - dass du zumindest gerne in der Nähe von deiner Familie wärst."

Eins.
Zwei.

Und es ist schon wieder dieses klicken.

Eins.
Zwei.

Wieso überrascht es mich, wenn er so etwas sagt, so etwas tut?
Langsam müsste ich ihn doch besser kennen ...

Und er greift meine Hand und zieht mich vorwärts. Lässt mich ihn sprachlos folgen.

Wir sind auf der selben Etage wie früher. Im selben Zimmer, in dem wir Stundenlang Tic Tac Toe und Schach gespielt haben.

Für mich liegt es eine Ewigkeit zurück. Eine Ewigkeit, in der ich noch ein anderer Mensch gewesen bin.

"Ich habe gar kein Geschenk für dich.", wispere ich. Ich selbst mach mir nicht viel aus Geschenken. Aber ich mag es, wenn andere sich freuen. 

"Ich habe Weihnachten all die letzten Jahre nicht gefeiert. Ich brauche keine Geschenke. Ich will keine Geschenke."

"Was war denn das letzte, was du bekommen hast?"

Sein Finger zeigt in meine Richtung. "Das Amulett. Es ist ein Erbstück. Meine ... Mutter hat es mir geschenkt." 

Sofort berühren meine Fingerspitzen die Kette um meinen Hals. Der Anhänger ist schwer, doch ich spüre ihn kaum. Die meiste Zeit vergesse ich ihn sogar.

"Und die ... Gravur?"

"Die Gravur habe ich extra für mein Mal'ach angefertigt." Während er spricht schaut er zu Boden. "Nun. Was war dein letztes Geschenk?"

"Materielles? Das ... das müssten ... Die Schachfiguren, die du mir den einen Tag mitgenommen hast sein. Die müssten doch noch hier sein, oder? Was hältst du von einer Partie?"

Er grinst. "Willst du mich schon wieder Schachmatt setzen?"

Es ist nicht so, dass ich eine schlechte Verlieren wäre. Nur habe ich es nicht vermocht ihn Schach zu setzen. Stattdessen hat er mich Schach gesetzt, ohne dass ich mit einer meiner Figuren hätte eingreifen können. Bis zum Schluss habe ich geglaubt, dass ich ihn Schach setzen werde. 

"Du hast schnell gelernt.", murmle ich immer noch ganz erstaunt. "Sollen wir nochmal?"

"Nein." Er stößt die hölzernen Figuren zur Seite und zieht mich zu sich. "Sonst verliere ich mich noch in dem Spiel."

Ich schmunzle. "Du würdest dich in Schach verlieren?" Seine Worte kann ich nicht ganz ernst nehmen. 

"Ja, natürlich." Seine Hand fährt meinen Rücken entlang. Die Wörter, die er noch zu Ende bringen muss. "Wie du mir einst gesagt hast, man lernt seinen Gegenüber erst viel besser bei einer Partie Schach kennen." Seine letzten Worte klingen fast traurig. 

Behutsam drehe ich mich zu ihm um. Ich sitze zwischen seinen Beinen. "Was ist denn los?" Sanft fasse ich an seine Wange. Sofort legt er seine Hand auf meine.

"Ich habe dich Schachmatt gesetzt."

"Ja. Ich bin selbst überrascht.", schmunzle ich.

"Wir haben vor ein paar Stunden diese Berührungen ausgetauscht." Seine Finger gleiten meinen Arm entlang.

Ich kann gar nicht antworten, spüre nur das ich erröte.

"Du hast einen Menschen für mich umgebracht."

"Du warst in Gefahr." Wie könnte ich dann nicht alles Mögliche in Betracht ziehen?

"Die Worte auf deinen Rücken. Das Mal'ach war fast komplett abgeheilt. Ich konnte es noch nicht nach schneiden."

"Das kannst du jeder Zeit nachhohlen."

"Ja, bestimmt." Doch seine Worte klingen weiter bedrückt.

"Was ist noch los? Es gibt nichts, worüber du nicht mit mir reden kannst."

"Das würdest du nicht verstehen." Sein Blick weicht meinen aus. Und es bricht mein Herz, welches aufgrund seiner Nähe wie wild stolpert.

"Ich kann es versuchen." Ich will es versuchen. Ich werde es versuche. Ich werde ihn begreifen.

Er schnaubt. Und nur zwei Sekunden später liege ich mit meinem Oberkörper auf dem staubigen Boden. Noch näher an ihm, denn er ist nur wenige Millimeter über mir.

"Das kannst du nicht.", flüstert er. Sanft streicht er die Strähnen aus meinem Gesicht. "Denn du kannst nicht erahnen, was ich - was ich fühle."

Mein Herz - es stolpert.
Stolpert schlimmer als jemals zuvor.

Und es schmerzt. Es schmerzt aufgrund der Gefühle, die ich all die Wochen erlebt habe. 

Gefühle, die sich in diesem Augenblick bündeln. Die drohen mich zu zerbersten, denn ich bin mir meiner Emotion ihm gegenüber bewusst.

Es ist das schönste aller Gefühle, doch auch das schlimmste.

Und es stolpert.
Und rennt.
Und rast.

Und stolpert.

Stolpert über die Worte, die ich ihm schon die ganze Zeit sagen wollte. Sagen will.

Für die ich nie den Mut besessen habe.





"Jeffrey, ich -" Und es schlägt. Und seine blauen Irden treffen meinen Blick.





"Jeffrey, ich liebe d-" Und kein Atemzug. Kein Atemzug dauert es, da hört es auf zu stolpern.



Es zerbricht an den letzten Worten, die es hört.

"Du bist gefallen, Mal'ach."



Allwissende Sicht

Es passiert im selben Augenblick. 

Das Herz des Mädchen stolpert zum letzten Mal, als die ersten Eiskristalle zu Boden fallen.

Und das Monster bleibt reglos in seiner Bewegung. Er vermag es nicht, das Messer aus ihrer Brust zu ziehen. Das Messer, welches ihren weiteren Fall für immer verhindern wird.

Die Flocken hinterlassen am ersten Weihnachtsmorgen  eine dicke Schneeschicht. Eine Schneeschicht, die sich das Mädchen vom ganzen Herzen gewünscht hat.

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