Letzte Worte, Letztes Glück

Ich weiß in dem Moment das es ein Traum ist, als ich die Schneeflocke bemerke. Ein kleiner, weißer Eiskristall, der sich so sanft auf meine Hand legt, gerade als ich das Essen in der Suppenküche verteile.
Fasziniert schaue ich sie an, denn sie ist so schön, dass mein waches-Ich sich daran erinnern soll. Doch schon als ich Aufblicke, ist die Schneeflocke vergessen.
Der ganze Essenssaal ist in Schnee gehüllt. Die Leute, die hier Schutz vor der Kälte suchen und mit einer warmen Mahlzeit ihren Magen füllen wollen sind erstarrt.
Eisskulpturen, die sich nie wieder bewegen werden.

Und es sind nicht nur die Leute, die ich normal hier antreffe, es sind meine Vertrauten. Gesichter, die mich vorwurfsvoll anstarren. Langsam bewege ich mich vorwärts, während ich in die Augen meiner Familie und meiner Freunde sehe. Und es zieht mich zu einer Ecke - und egal wie sehr ich es versuche, und egal wie sicher ich mir bin, dass es nur ein Traum ist - schreite ich immer weiter voran. Und ich blicke in das letzte erstarrte Gesicht.
Es ist das von Thomas. Anklagend auf mich gerichtet.
Und es verwandelt sich.
Und dann ist es mein eigenes.

Dann schrecke ich hoch. Schrecke hoch und falle. Und ich bin dankbar, dass ich endlich wach bin - doch spüre ich kein Schmerz. Und ich blicke nach oben, in die grelle Sonne und als ich mich langsam an das Licht gewöhne, erkenne ich die Umrisse eines Baumes. 
"Warum bin ich gefallen?", murmle ich, als ich mich aufsetze und mir die Hände vors Gesicht schlage. Sie sind eiskalt.
Einige Äste liegen um mich verteilt. Ich bin von diesem Baum gefallen.

"Weil du nicht hineinpasst.", höre ich eine pubertierende Jungs Stimme leise sagen.

Sofort schaue ich auf. Und im Türrahmen einer Küche steht Jeffrey. Jeffrey, wie ich ihn damals zum ersten Mal gesehen habe. 
Seine Worte lassen mich wie die Eisskulptur fühlen.
Wie ein aufgeschrecktes Reh rennt er plötzlich los. Ich springe von der Anrichte runter und ich will ihn hinterher, doch ich kann nicht rennen.
Und stattdessen falle ich, falle ich zu den Füßen von Jeff. Meinen Jeff, der mich weder sehen, noch hören kann. Meinen Jeff, den ich für immer verlassen habe.

Ich trau mich nicht die Augen zu öffnen, als ich erneut das Gefühl habe zu erwachen. Ich versuche meinen Atem zu kontrollieren und die Hitze meines Körpers zu ignorieren. Unangenehm klebt der Stoff meiner Kleidung an meiner Haut. Eine leichte Vibration spüre ich an meinem Kopf und als sich eine Hand auf meinen Oberschenkel legt, schrecke ich ohne es zu wollen hoch.

Panische schaue ich mich um. Durch eine dreckige Frontscheibe blicke ich auf eine schmale Straße. Weit und Breit ist kein weiterer Verkehrsteilnehmer zu sehen, dafür häufen sich die Bäume am Straßenrand umso mehr. Der Abdruck meiner Wange am Seitenfenster verblasst rasch, nahezu so schnell, wie das Licht der Sonne just in diesem Moment einen neuen Tag einleitet. Unwillkürlich fange ich an zu schmunzeln. Genau dieses Szenario hatte ich im Kopf, als ich mein Gedicht für die Schule geschrieben habe. Plötzlich bin ich mir sicher, dass ich nicht mehr in einen meiner Träume gefangen bin.

"Hast du doch nicht schlecht geschlafen?", kommentiert eine tiefe Stimme mein Lächeln.

Sofort schaue ich zu dem Fahrer des Autos. Jeffreys Blick ist starr nach vorne gerichtet. Fährt er schon die ganze Nacht durch?

"Besonders gut geschlafen habe ich nicht. Ich habe schlecht geträumt.", antworte ich, während ich mir feuchte Haarsträhnen aus meinem Gesicht streiche. Bei meinen Worten wird mir die durchgeschwitzte Kleidung auf meiner Haut immer mehr bewusst. "Ich habe nur gerade an eins meiner Gedichte gedacht. Genauer gesagt an eine Strophe davon. -  Kannst du gleich irgendwo anhalten? Ich müsste mal." Ich greife nach einer angebrochenen Flasche Wasser und trinke sie leer. Erst dabei bemerke ich, wie viel durst ich hatte.

"Wir machen gleich eine Pause. - Ist es denn ein schönes Gedicht?", fragt er. Im Licht der Morgensonne sieht seine Haut noch viel heller aus.

"Nein. Nicht direkt. Vielmehr etwas, dass mich immer nachdenklich macht."

"Erzähl es mir."

"Du willst ein Gedicht von mir hören?" Es ist ein halbes lachen, was ich hervor bringe. Ich habe nie geglaubt, dass ihm sowas im entferntesten interessieren könnte. Aber wenn ich so darüber nachdenke, habe ich mir eigentlich noch nie so richtig darüber Gedanken gemacht.

"Ich will mich nicht wiederholen müssen."

"Schon gut. Ich glaube, ich kriege aber nur die eine Strophe hin", ich schließe meine Augen und suche nach den ersten Wörtern. Dann räuspere ich mich. "- Die Sonne geht auf,
der Morgen beginnt,
Zeit kehrt zurück,
bevor sie uns wieder durch die Finger rinnt. -
Das ist die Strophe, an die ich denken musste."Ich öffne meine Augen und schaue wieder aus dem Fenster.

"Und weiter?", erwartungsvoll schaut er kurz zu mir rüber.

Ich zucke mit meinen Schultern. "Da komme ich gerade nicht drauf. Ich habe meine ganzen Gedichte nicht im Kopf, zudem  war es glaube ich sowieso die dritte Strophe."

"Dann trage eins deiner anderen Gedichte vor.", fordert er mich auf.

Ist das sein Ernst? "Oh man. Ich - hm. Die meisten Gedichte trage ich eigentlich niemanden vor. Die sind meist super kitschig und ich -", ich atme tief ein und aus. Meine Worte wird er nicht gelten lassen. "Also gut -", noch einmal hole ich tief Luft. Langsam spreche ich meine nächsten Worte.

"Letze Worte,
letztes Glück,
gib mir Tage noch zurück.
Lass die Zeit kurz stehen bleiben,
lass vergessen unser schweigen.

Letzte Worte,
letztes Glück,
-
komm du zu mir zurück."

Der Kloß in meinem Hals wächst mit jedem Wort, welches ich vortrage. Es ist das Gedicht, was wirklich niemand hören sollte.

"Ist es etwas negatives für dich, wenn man eine gewisse Zeit schweigt?", fragt er nach einem Moment der Stille.

"Nein, ganz und gar nicht.", lächelnd schüttle ich mit meinen Kopf. "Ich liebe es auch mal zu schweigen. Aber in dem Gedicht ist das Schweigen auch nicht so gemeint. Ich meine in den Zeilen viel mehr die Zeit, in der man einander nicht sieht, einander verlassen hat. Eine Zeit, die man vergessen möchte, weil man ohne den anderen ist."

"Wieso hast du es geschrieben?"

"Du stellst fragen." Ich schaue zu meinen Händen, dann wieder raus. "Die Worte kamen zu mir und ich habe sie nieder geschrieben. Sie gelten jedem, den ich verloren habe. Sie gelten meinen Großvater, seit er gestorben ist. Sie gelten meiner Schwester, seit ich sie so selten sehe. Sie gelten meinen Eltern, weil ich sie verlassen habe. Sie golten dir, als du verschwunden bist. Ich glaube die Worte gelten für jeden, der eine wichtige Person verliert."

Während ich rede, biegt er in einen kleinen Feldweg ab und bringt das Fahrzeug zum stehen. 

"Vielleicht kannst du die Worte auch für eine Person, die du verloren hast anwenden.", füge ich leise hinzu. Ich habe keine Ahnung was in seinem inneren vorgeht. Ich weiß nicht, wie es ihm damit geht, dass er seine Eltern, Familie und Freunde verloren hat. Ich bezweifle, dass er mit mir jemals darüber reden wird.

Statt eine Antwort zu erhalten, schaut er mich einfach nur an. Es ist das erste Mal, dass ich diesen trauernden Blick an ihm sehe. Das erste Mal, dass er so zerbrechlich wirkt. Es zerbricht mir mein Herz.
Langsam hebt er seine Hand zu meiner Wange und streicht sanft darüber. Ich will ihn in den Arm nehmen. Doch bevor ich überhaupt reagieren kann, schnallt er sich ab und steigt aus dem Auto. Ich folge ihm. Folge ihm aus den warmen Innenraum, raus in die Kälte.

Gemeinsam gehen wir ein Stück. Seine Hände hat er in seine Hosentaschen gesteckt.

"Was hast du geträumt?", spricht er mich an und wechselt damit das Thema.

"Ich erinnere mich nicht mehr so richtig. Da -", ich versuche mich an einzelne Details zu erinnern. Umso mehr ich es versuche, umso mehr verblasst die Erinnerung. "Da war Schnee. Ein Raum voller Schnee. Und ich bin gefallen. Aber ich weiß nicht mehr, wieso ich gefallen bin. Du warst auch da. Aber ich glaube nicht so richtig." Verlegen schaue ich zu Boden. Meine nächsten Worte spreche ich in den Saum meiner Jacke. "Jedenfalls hat es sich angefühlt, als wärst du Meilen entfernt."

"Lucia." Er bleibt stehen und ergreift meine Hand. Ich bin so perplex, dass ich es gar nicht richtig bemerke. Doch dann stoppt er auch meine Schritte, denn er zieht mich zu sich. Zieht mich zu sich in seine Arme. "Fühlt sich das wie Meilen an?", fragt er mich flüsternd. Seinen warmen Atem spüre ich auf meiner Kopfhaut.

"Nein.", murmle ich in den Stoff seines Pullovers. Vorsichtig erwidere ich seine Umarmung. Mein Ohr liegt direkt auf seinem Herz. 

Und es schlägt. Es Pocht. So Lebendig. Und ich -

Wir -

lösen uns leicht voneinander.

Schauen uns an.

Und kommen uns näher.

So nah -

dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spüre.

Dass sich seine Lippen -

dass sich unsere Lippen

berühren. 

Und mein Herz es pocht -

es schlägt für uns zwei.

"Alles wieder gut?", fragt er, als wir uns voneinander lösen. 

"Ja." Ich nicke. "Ich-". ich zeige auf ein Haufen Gestrüpp in kurzer Entfernung. "Ich verschwinde dann Mal." Und zerstöre damit den Moment. Am liebsten würde ich mir dafür selbst eine verpassen.

"Tue das. Und beeile dich."

Als ich fertig bin machen wir uns auf den Weg zurück zum Auto. Ich fühle mich Wahnsinnig dreckig, doch eine Gelegenheit mich zu waschen hatte ich noch nicht. Das Blut auf meinen Rücken ist getrocknet - in Verbindung mit dem Schweiß fängt es an zu jucken. Ich sehne mich nach einer Dusche.
Und trotzdem nimmt Jeff meine Hand.

"Wegen deinem Albtraum -", fängt Jeff an, "hat er auch mit dem Polizisten zu tun gehabt?" Es klingt wie eine beiläufige Frage. Sie ist es nur nicht.

Am liebsten würde ich gar nicht antworten. Ich habe den gestrigen Tag komplett verdrängt und nun kommen die Bilder hoch.

Bilder von Blut.
Bilder von Tränen.
Bilder des Verrates.

In der Sekunde meines Handelns habe ich mich endgültig entschieden. Ich habe einen Weg eingeschlagen, von dem es keinen zurück mehr gibt. Einen Weg, der niemals auf mein altes Leben treffen wird.

Ich habe mich entschieden. Und nun muss ich damit leben.

"Ich weiß es nicht.", antworte ich mit dem Blick starr nach vorn gerichtet. Meine Hand löse ich widerwillig von Jeffreys.

"Belastet es dich?"

Ich wage es nicht ihn anzusehen. "Das ich Thomas getötet habe?" Ich kann kaum sprechen. Das verdrängen hat sich so viel besser angefühlt.

"Ja. Es war dein erster Mord." Seine Hände steckt er wieder in seine Hosentaschen.

"Totschlag.", verbessere ich ihn. "Ich hätte das Messer kein zweites Mal in seine Brust gerammt, wenn er bei meinem ersten Stoß nur schwer Verletzt worden wäre."

"Aber du wusstest, dass du sein Herz treffen wirst.", stellt er fest. Er hat recht. Aber es ist nicht meine Schuld. Das kann nicht meine Schuld sein.

"Ich musste dafür sorgen, dass uns nur noch mein Dad konfrontiert." Meiner Stimme zwinge ich ruhig zu bleiben. Sie klingt erschreckend monoton.

"Ja.", antwortet Jeffrey. "Aber du hättest auch mir das Messer geben können."

"Ja.", meine ich resigniert. Das hätte ich. 

"Ich hätte dich dann als Geisel nehmen können. Dein Vater hätte nie auch nur in die Nähe von dir geschossen."

Stumpf gebe ich ein lachenden Schnaufer von mir. Er hat recht. Aber die Wahrheit ist mir zu viel. "Und dann? Mein Dad hätte uns immer weiter verfolgt. Wir wären nie frei. Doch jetzt wo ich sein Herz gebrochen habe? Jetzt haben wir eine reelle Chance." Ich presse meine Lippen zusammen.
Ein Tropfen.
Ein Tropfen und dann laufe ich über.

"Wir hatten immer eine Chance."

"Ach ja?" Seine Worte machen mich unglaublich wütend. "Wirklich? Bist du dir da ganz sicher? Wieso hast du denn dein Messer überhaupt runter geschmissen? Wieso hast du dich überhaupt auf dieses 'Spiel' eingelassen? Wäre ich nicht gekommen, hätte es für uns beide überhaupt keine Chance gegeben!"

Von ihm kommt ein schnauben. "Du weißt nichts darüber."

"Dann erkläre es mir! Wie wärst du der Situation entkommen?"

Doch darauf antwortet er mir nicht. Ich bekomme nur eine Gegenfrage. "Stört es dich denn gar nicht, dass du jemanden umgebracht hast?"

Damit überrumpelt er mich. "Ich -", ich ringe nach den richtigen Worten. Immer noch wütend. Doch mir fallen keine ein. Und meine Wut verblasst. "Ich weiß es nicht." Ich fühle mich hilflos. Wie kann ich sowas nicht wissen?

"Du weißt es nicht?"

Und ich schau ihn nur an.

Ich weiß es wirklich nicht.
Doch ich will keinen Streit.

"Wir müssen noch die Kugel aus deinem Bein entfernen. Und am besten unsere Klamotten wechseln.", wechsel ich das Thema, als wir wieder beim Auto sind. Zielstrebig laufe ich zum Kofferraum.

"Das hat Zeit." Seine Stimme ist weder genervt noch erfreut. Es ist sein neutraler Ton, den er fast immer benutzt. Ein Ton, den ich nicht deuten kann.

"Wir hätten es gestern schon direkt machen müssen, Jeff. Wir müssen die Wunde zumindest desinfizieren." 

"Dann mach schnell." Doch gerade als ich die Sachen aus dem Auto zusammen sammel, unterbricht er mich. "Und Lucia -"Er packt mich an meinen beiden Oberarmen und dreht mich gewaltsam zu ihm um. Ich bin so überrascht, dass ich nicht wage etwas zu sagen. Nur mein Herz meldet sich immer und immer wieder.
Und es stolpert.
Und stolpert.
Und stolpert.
Ich bin nicht mehr Gebieter meines eigenen Körpers. Das ich die Kontrolle verloren habe, habe ich nicht einmal gemerkt. Einen Augenblick zögert er - ein Moment in dem mein Herz aufhört zu schlagen - doch dann presst er seine Lippen auf meine. Es ist kein sanfter Kuss. Kein unschuldiger Kuss wie bisher. Er ist aufregend, hungrig und verlangt nach mehr. Ich bin so überrascht, dass ich vergesse zu atmen. Dass ich wenige Sekunden seine Berührung nicht erwidern kann. Doch als ich anfange seinen Kuss nachzugeben, miteinzusteigen, presst er sich enger an mich. Seine Hand gleitet über meinen Körper und hinterlässt eine Spur des Glücks. Trotz der Kälte spüre ich nur seine Wärme, als er meine Jacke und mein Shirt zu Boden gleiten lässt. Es ist ein Gefühl, welches ich zuvor noch nie so intensive gespürt habe. Und ich fühle mich bereit. Da ist keine Spur der Unsicherheit, die mich Berührungen sonst haben fühlen lassen.
Ich fühle ihn. Ich rieche ihn. Ich schmecke ihn. Meine ganzen Sinne sind auf ihn fixiert.
Und ich will es gar nicht anders.

Ich will nur ihn.

Okay. Es werden noch 3 Kapitel kommen. Das letzte normale Kapitel, der Epilog und dann mein Autoren Kommentar, wo ich wieder paar Fakten zu der Geschichte schreiben werden. Die beiden letzten richtigen Kapitel werden direkt hintereinander veröffentlicht, sodass ihr das Ende direkt lesen könnt. Die Kapitel werden wahrscheinlich länger als die normalen. Es kann sein (ist aufjedenfall nicht geplant)das vorher doch noch ein Kapitel kommt (also noch insgesamt 4), wenn ich merke da fehlt noch etwas oder wenn ich etwas vergessen habe, aber das werdet ihr dann erfahren. 
Ich vermisse diese Geschichte jetzt schon. Es tut wirklich weh, jetzt das Ende zu schrieben ...
Aber ich werde mich danach anderen Geschichten widmen, wo ich euch hoffentlich wieder sehen werde! Falls ihr Fragen an mich über die Geschichte habt, könnt ihr mich alles dazu fragen! Werde das aufjedenfall zu meinen Fakten schreiben :) 
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen.
Und ich hoffe ihr seid gesund und bleibt es auch!

Eure Schoki.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top