kleines Büchlein

Zu Hause angekommen kann ich an nichts anderes mehr denken. Frustriert schmeiße ich mich auf mein Bett, nachdem ich der Konversation mit meinen Eltern entkommen bin.

>Denk an das Geschenk, Mal'ach< Lese ich die Wörter in seiner Stimme in meinem Kopf, die auf diesem kleinen Zettel fein säuberlich niedergeschrieben sind. Mit meinen Zeige- und Mittelfingern beider Hände halte ich ihn weit von mir gestreckt und starre ihn an, in der Hoffnung, dass ich ihm noch mehr Informationen entnehmen könnte.

"Denk an das Geschenk, Mal'ach.", spreche ich die Wörter flüsternd aus, als ob ich dann besser Bescheid wüsste. "Denk an das Geschenk."

Doch was meint er bloß damit?

Unglücklich drehe ich mich auf meinen Bauch und greife nach dem kleinen Buch ohne Umschlag. Auf dem Weg zurück habe ich bereits jede Seite sorgsam begutachtet, konnte aber keine weiteren Notizen entdecken. Alles, was ich dem Aufbau entnehmen kann, ist, dass es sich bei dem Büchlein um eine Bibel handelt.
Einer Bibel in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Eine Bibel ... die viel weniger Inhalt besitzt.

Kann es ...

Nach einer kurzen Recherche bin ich schlauer. Bei dem Büchlein handelt es sich tatsächlich um etwas, was zum Teil in der christlichen Bibel vorkommt. Denn das Buch ist eine Tora, in hebräischer Schrift mit lateinischen Buchstaben. Und die Tora ist ein Teil der Tanach, der hebräischen Bibel. Das Büchlein besteht also aus den fünf Büchern von Mose. 

Aber wie hilft es mir nun weiter?

Noch einmal blättere ich die ganzen Seiten durch, in der Hoffnung doch noch einen Code oder ähnliches zu finden. Aber die Mühe ist vergebens. 

Denk an das Geschenk.
Denk an das Geschenk.
Denk an das Geschenk.
 

Steck vielleicht dahinter eine Botschaft? So sehr ich mir auch meinen Kopf zerbreche, mir fällt nichts ein.

"Scheiße!" Das Buch fliegt quer durch mein Zimmer. Meine Stimme ist ein wütender Schrei, der meine Verzweiflung wiedergibt. 

Das Buch ist an der Wand abgeprallt und in einen meiner Klamottenhaufen gelandet. Und als ich das Buch aus dieser Entfernung betrachte, fällt mir noch etwas anderes ins Auge.

Mein grauer Pulli.

Mein grauer Pullover, den ich an dem Tag getragen habe, als ich meinen Vater im Krankenhaus besucht habe. Besuchen wollte. Doch die Krankenschwester ...
Ich habe Jeffrey dort angetroffen. Gerade als ich ins Zimmer ging. Und er steckte mir etwas zu, was ich einfach in meine Tasche gleiten ließ.

Was ist wenn ...

Ich springe von meinem Bett auf und stolpere zu dem Haufen, um meinen Pullover hervorzuziehen. Hastig greife ich in die Taschen und als meine Finger etwas berühren, fängt mein Herz an schneller zu schlagen.

Es ist eingewickelt in Zeitungspapier. Mit meinen Fingerspitzen packe ich es aus und ohne es erwartet zu haben, liegt ein silbernes Amulett in meiner Handfläche. Vorsichtig streiche ich über das kalte Objekt. "Denk an das Geschenk, Mal'ach.", flüstere ich, als ich über die Gravierung in den so winzigen Buchstaben streiche. Eine Gravierung, die mir all meine Sorgen der letzten Wochen nimmt. 
Auf dem Deckel steht in fein säuberlicher Schrift das Wort 'Mal'ach' geschrieben. Und als ich den Anhänger umdrehe 'Du wirst nicht fallen'.
Mit aller Kraft drücke ich das kalte Metall gegen meine Brust. Es ist das wärmste Gefühl, welches ich seit langem gespürt habe. Doch ohne weiter Zeit zu schinden, halte ich den Anhänger wieder vor mir und mit einem kaum hörbaren Klickenden Geräusch habe ich das Schmuckstück geöffnet.  Ich halte die Luft an, als ich das Stück Papier daraus entnehme und erst dann das Bild von mir darin erkenne. Wann hat er das wohl gemacht? Frage ich mich, während ich den Zettel auffalte. 

>Falls wir uns verlieren suche an dem Ort, an dem du meine Vergangenheit gefunden hast.<

Es ist das einzige, was ich sofort verstehe, denn darunter sind nur lauter Zahlen geschrieben.

"Da war ich schon.", flüstere ich glücklich, nehme  die Tora  wieder an mich und setze mich an meinen unordentlichen Schreibtisch. Okay. Wenn ich richtig liege, dann muss ich die Zahlen in Wörter oder Buchstaben übersetzten. Mehr nicht.

Ungeduldig schlägt mein Herz gegen meinen Brustkorb. 

Und dann werde ich ihn wieder finden. 


Es hat nicht lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, dass es sich bei den Zahlen um eine Seite, eine Zeile, ein Wort und schließlich um einen Buchstaben aus der kleinen Tora handelt. Zufrieden mit mir selbst übersetze ich den Zahlencode und bin sogar schneller als erwartet. Als ich fertig bin, übertrage ich die Buchstaben ordentlich von meinem Schmierzettel in die Tora.
Bei seiner Botschaft handelt es sich um einen Ort. Einen Ort, für den ich bereit sein muss weiter zu gehen. Und vermutlich würde ich da auch erst nach Ansätzen suchen müssen, um ihn letztendlich wirklich wieder bei mir zu haben. Wohin wird er sich wohl verschlagen haben?

Ich darf keine Zeit verlieren

Aus meinem Schrank krame ich ein langärmliges schwarzes Oberteil und eine dunkle Hose, die ich gegen meine jetzigen Klamotten tausche. Unter meinem Bett hohle ich einen Rucksack hervor, den ich zuvor als Schultasche genutzt habe. Schnell packe ich mir frische Unterwäsche und Socken ein, sowie einen Pullover und ein Shirt. Ich weiß nicht wie lange ich unterwegs sein werde. Vielleicht finde ich ihn schon morgen, vielleicht erst in einer Woche. Die lange Kette von Jeffrey hänge ich mir um und lasse das Amulett unter mein Shirt verschwinden. Meine langen Haare bürste ich durch und flechte ich mir danach zu einem einfachen Zopf. Auch die Bürste, die Tora, sowie einen Stift lasse ich in meinem Rucksack verschwinden. Aus dem Badezimmer hohle ich noch schnell meine Zahnbürste und aus dem Versteck in meinem Zimmer krame ich meine Ersparnisse zusammen. Dann noch mein Pass und mein - 

Mein Notfallplan. 

Brauche ich ihn überhaupt noch?

Ich schüttle resigniert meinen Kopf, doch stecke ich ihn dennoch ein. Es ist etwas, an das ich mich klammern kann. Ein Rettungsrings, den ich jederzeit greifen könnte.

Und als ich so fertig dastehe, wird mein Körper von einem schmerzlichen Gedanken durchzogen.

Ich muss nicht nur bereit sein weiter zu gehen. 
Ich muss bereit sein mich von meinen Eltern zu verabschieden.
Ich muss bereit sein, mein bisheriges Leben hinter mir zu lassen.
Neu zu starten.

Ich muss bereit sein zu gehen.

Mir wird schlecht.

Ist es das, was ich will?
Das, wonach mein Körper die letzten Wochen geschrien hat?

Und es ist mein inneres, das mir antwortet.

Ja.

Ja, ich will es.

Ich schlucke meine Tränen herunter, als ich zu dem Bild meiner Familie blicke, was schon so viele Jahre über meinem Schreibtisch hängt.

Ich werde ganz neu anfangen. Ohne Alen. Ohne meine Mutter. Ohne meinen Vater. 

Ohne groß nachzudenken nehme ich das Bild von der Wand und befreie es aus dem Bilderrahmen. Ich falte es. Dreimal. Und drehe das Papier dann zwischen meinen Fingern, bevor ich es in meine Hosentasche stecke.
Aus einer meiner Schubladen krame ich Briefpapier hervor und - 
und halte einen Moment inne.

>Mir geht es gut< Ist alles, was ich zustande bin zu schreiben. Doch noch bevor ich den Zettel in dem dazugehörigen Umschlag packen kann, fällt ein Tropfen auf die Schrift, der die Tinte leicht verschwimmen lässt.


***


Ich klopfe dreimal und warte kurz. Gerade als ich wieder - dieses Mal lauter und zügiger - gegen die Tür Hämmern möchte, wird die Tür aufgerissen.

"Lucia. Was machst du denn hier? Wir haben heute doch gar keine Sitzung?"

"Ich habe dein Auto vor der Praxis gesehen und dann einfach gehofft, dass du da bist.", sage ich ganz außer Atem. 

"Na dann komm doch rein." Albert öffnet die Tür etwas weiter.

"Nein, nein. Schon gut.", ich lächel leicht. "Ich wollte dich nur etwas fragen." Aus meiner Jackentasche krame ich den Brief für meine Eltern. "Würdest du den nach etwas Zeit meinen Eltern geben?"
Ich habe daran gedacht, ihn einfach in mein Zimmer liegen zu lassen oder ihn später per Post zu verschicken, aber da gibt es keine Garantie, dass meine Eltern ihn lesen werden. Außerdem werden sie sicher jemanden brauchen, wenn sie mein Verschwinden bemerkt haben.

Wiederwillig nimmt er ihn entgegen. "Warum überreichst du den Brief deinen Eltern nicht selbst?" 

"Weil meine Eltern ihn zum richtigen Zeitpunkt erhalten sollen. Dann, wenn sie zu dir kommen." Ich habe mich schon umgedreht und bin paar Schritte gegangen, als ich wieder Alberts Stimme wahrnehme.

"Lucia!", ruft er mir hinterher. 

Ich bleibe stehen und blicke zu ihm. Er tritt aus seiner Praxis heraus und folgt mir in den Flur.

"Das ist aber kein ...", seine Stimme bricht, "Du weißt, du kannst mit mir über alles reden - ich weiß das Liebeskummer hart sein kann, aber das ist keine Lösung.", fängt er an. Die Angst und die Fürsorge ist ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

"Das ist kein Brief vor einem Selbstmord. Keine Sorge." Ich lächle ihn an und schließe seine Hand mit meinen beiden ein. "Ich-" Ich weiß nicht was ich sagen soll, sagen kann. "Ich habe endlich eine Antwort von ihm bekommen." Das Amulett. Es ist die Antwort, die ich gesucht habe. 

"Und du bist dir sicher dass das kein-"

"Natürlich."

"Nunja, du siehst ja wirklich besser aus als die letzten Wochen, aber -" Ich merke wie schwer er sich mit der Situation tut.

"Albert, es ist alles gut." Wieder Lächle ich. Ein echtes Lächeln. Und dann umarme ich ihn. Als ich mich von ihm löse, bewegen sich meine Beine schon von ihm weg. Doch noch bevor ich in den Fahrstuhl eintrete, drehe ich mich um und sage: "Danke Albert. Danke für alles."

Und damit lasse ich auch ihn hinter mir.


***


Die Suche nach Ihm erwies sich als die reinste Schnitzeljagd. Kam ich an einen Ort an, fand ich dort einen Zettel mit neuen Zahlen vor. Und dann ging alles wieder von vorne los. Es fühlte sich an, als würde er nicht existieren.
Als würde ich einem Mythos hinterherjagen. 
Dabei schien die Orte willkürlich gewählt, als hätte er selbst nicht gewusst, wo er als nächstes hin sollte. Als wäre es ein Streich.

Erschöpft von der Suche nach ihm gehe ich langsam das Industriegebiet ab. Das nächste Ziel ist ganz in der Nähe. Zur Bestätigung hohle ich die Karte aus meiner Jackentasche, die ich unterwegs gekauft hatte. Denn nicht immer musste ich die Zahlen mithilfe der Tora übersetzen, da er manchmal auch die Koordinaten seines nächsten Ziels hinterlassen hat.
Vor einem verlassen wirkenden Haus komme ich zum stehen. Einige der Fenster sind zugenagelt. Das muss es sein.

Da es schon dunkel ist und niemand weit und breit zu sehen ist, gehe ich geradewegs auf das Grundstück. Die Vordertür ist verschlossen, doch ist zu meinem Glück die Hintertür schon mal aufgebrochen wurden, weshalb ich zu keinem Stein greifen muss.

Leise betrete ich das verstaubte Haus. Überall liegen Scherben und Flaschen und einige der Wände sind mit Graffiti beschmiert. Sofort verschwindet meine Hoffnung, dass ich ihn hier antreffen würde. Ein Ort, der anscheinend so oft besucht wird, kann kein dauerhaftes Versteck von ihm sein. 
Frustriert kicke ich gegen einer der Flaschen, so dass diese klirrend zu Boden fällt.

Wie lange würde dieses Spiel -

Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, spüre ich etwas scharfes an meinem Hals.

Sofort ziehe ich scharf die Luft ein und reiße meine Hände nach oben. "Nein, bitte -"

"Geh schla-", spricht eine männliche Stimme gleichzeitig hinter mir, die bei meinem Winseln jedoch stockt. Klirrend fällt etwas zu Boden und als ich nach unten Blicke, sehe ich zu meinen Füßen ein Messer blicken. Sofort spüre ich den brennenden Schmerz an meiner Kehle und drücke reflexartig meine Hand gegen die Blutlinie.

Mit einem Ruck werde ich umgedreht. Ich kann mich kaum auf den Füßen halten, doch zwei starke Arme geben mir Halt. Bevor ich die Gesamtsituation realisiert habe, versinke ich schon in zwei Eisblaue Augen.

Augen, die ich immer erkennen werde.

"Mal'ach." Höre ich seine vertraute Stimme sagen. 

Schlagartig bekomme ich eine Gänsehaut. Mein Herz setzt aus, nur um dann wieder über sich selbst zu stolpern.

Und es stolpert.
Und schlägt wie wild.
Und lässt meinen ganzen Körper erschüttern.

"Du bist hier." Seine Stimme ist verwundert. Flüsternd. Seine Finger streichen die Narbe meiner Wange entlang. Er ist so sanft.
Seine Berührung ist so sanft.

Und es stolpert.
Und schlägt wie wild.
Und lässt mich all meinen Kummer vergessen.

Jeffrey.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top