Kind sein
Dumpfe Schritte nehme ich wahr, es hört sich so an, als gehe jemand die Treppen herunter. Dann merke ich, wie sich mein Körper leicht hin und her bewegt, wie jemand meinen Körper hält. Auch beginne ich die Schmerzen an meinen Rücken zu spüren, da wo ich angefasst werde und aus Reflex beiße ich mir auf meine Unterlippe.
Der Geruch von Holz schleicht in meine Nase, erst kaum wahrnehmbar, dann immer intensiver, und ich weiß in wessen Armen ich mich befinde. Die letzten Stufen scheinen erreicht zu sein, denn eine Tür wird geöffnet und mein Körper befindet sich wieder im Freien.
Weg von diesem Albtraum.
Fort von dem kleinen Prinz und Peter Pan.
„War ich ... Ohnmächtig?", wage ich es zu fragen. Die Bilder der Grausamkeit dringen wieder in meine Gedanken.
„Ja." Er klingt monoton, desinteressiert.
„Wie lange?"
„Nicht lange. Zehn, Fünfzehn Sekunden."
„Und jetzt?", flüstere ich. Was will er jetzt tun, nachdem er mir sein Werk gezeigt hat?
Jetzt, wo ich es nicht mehr direkt vor Augen habe, kommt es mir unwirklich vor. Weit weg. Als stünden Kilometer und Jahre dazwischen. Obwohl sich der Moment so grausam in meinen Kopf gebrannt hat, scheinen die Bilder zu verschwimmen. Zu zerfließen.
Vielleicht war alles auch nur Einbildung.
„Verschwinden wir.", antwortet er mir, „Ich werde dich zu dir Hause fahren." Behutsam setzt er mich ab. Ohne nachzudenken suchen meine Hände an seinen Körper halt, denn meine Beine sind kraftlos. Er hält mir die Tür auf und ich steige ein.
Nach Hause.
Einen Augenblick stocken meine Gedanken. Nach Hause. Aber ich will nicht alleine in diesem großen Haus hocken.
„Kannst du mich auch am Krankenhaus rauslassen?" Vorsichtig stelle ich diese Bitte. Dort sind meine Eltern. Meine Eltern sind mein zu Hause.
Der kleine Prinz und Peter Pan. Der kleine Prinz und Peter Pan. Der kleine Prinz und Peter Pan.
Ich will jetzt nicht ohne meine Eltern sein. Nicht Heute.
Eine einzelne Träne stiehlt sich über meine Wange. Mein Blick verfängt sich im Seitenspiegel des Wagens – er ist falsch eingestellt – und ich kann sehen wir gerötet meine Augen sind. Niedergeschlagen starre ich raus, bemerke wie der Wagen an Fahrt auf nimmt und sehe den Sonnenstrahlen dabei zu, wie sie versuchen gegen die Wolken anzukämpfen. Ich bekomme keine Antwort von ihm, aber er fährt in die richtige Richtung.
„Du?", hauche ich vorsichtig in die Stille. „ ... Ich werde das niemals vergessen können." Ob ich mehr zu ihm oder mir spreche, weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts mehr.
„Nie ist eine schrecklich lange Zeit."
Ruckartig drehe ich mich zu ihm. Meine Hände krallen sich in den Sitz fest und fassungslos sehe ich ihn an. Wieder Grinst er, wie vorhin, als er mir die Toten zeigte.
Der kleine Prinz und Peter Pan.
Peter Pan.
Wieso benutzt er ein Zitat von Peter Pan, um mir zu antworten?
>Never is an awfully long time<
Macht er sich lustig über mich?
Spottet er?
Verstümmelte Beine, Kinderverkleidungen und die klaffende Wunde mitten im Herzen.
Hitze steigt in mir hoch. Alles kommt in mir hoch.
Er hat eine Familie ausgelöscht. Wegen mir. Weil ich ihn wütend gemacht habe.
Schuld.
Schmerzvoll zieht sich mein Herz zusammen. Es verkrampft sich und einen Augenblick hoffe ich, dass es stehen bleibt.
Aber es schlägt, fängt bei meinen nächsten Gedanken wieder an zu schlagen. Er hätte auch meine Freunde oder Familie töten können ... stattdessen ... hat er mir Fremde umgebracht.
Im selben Moment überwältigen mich zwei Gefühle: Dankbarkeit und Selbsthass.
Niemand, den ich Liebe, ist umgekommen, weswegen ich Dankbar bin. Und für diesen Selbstsüchtigen Gedanken verabscheue ich mich ...
Selbstsucht. Selbstsucht. Selbstsucht.
Ich verschließe meine Augen und lächle ihn an. Es ist die einzige logische Reaktion, die mir einfällt. Erst leicht und liebevoll, dann so sehr, dass es sich nach einiger Zeit merkwürdig anfühlt. Aber ich halte es. Ich sitze da und lächle ihn an und stelle mir vor er wäre der Junge von damals.
Ich stelle mir vor, dass der Schuss, an den ich mich noch an Billys Geburtstag erinnere, ihn getroffen hätte. Stelle mir vor, wie Blut aus der Wunde fließt. Stelle mir vor, dass das Blut schwarz ist. Stelle mir vor, dass ich denken könnte, er sei kein Mensch.
Stelle mir vor, dass ich seinen Wahnsinn so erklären könnte.
Stelle mir vor, ... dass ich die Waffe gehalten hätte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lässt er mich am Krankenhaus aussteigen. Ich sehe ihn gar nicht erst nach, sondern stürme gleich ins Gebäude, rauf zu der Station, in der mein Vater liegt.
Jede Stufe die ich erklimme, zieht meine Schultasche mich ein Stückchen nach unten.
Meine Mutter ... wo ist sie? Wundere ich mich, als ich ankomme.
Ich öffne die Tür zu dem Zimmer meines Dads und verschließe sie gleich wieder. Aus der einen Ecke des Zimmers nehme ich mir einen Stuhl und stelle ihn an sein Bett. Setzte mich und krame ich der schweren Tasche nach meinem Handy.
Ich warte, bis es an ist und tippe dann die Nummer meiner Mutter ein. Nach den vierten Klingeln nimmt sie ab.
„Mum.", bin ich erleichtert, als sie rangeht.
„Hallo Lucia." In ihrer Stimme klingt Sorge mit bei.
„Wo bist du?"
„Im Blumenladen. Ich wurde angerufen, dass Sarah Magendarm hat und musste doch zur Arbeit. Wieso? Ist etwas passiert?"
„Nein, alles ist gut. Ich bin nur im Krankenhaus und habe mich gewundert, wo du bist. Meinst du, du könntest mich nach der Arbeit hier abholen?" Mit meinen Fingern ergreife ich Nervöse einen von Dads Schläuchen. Leicht spiele ich mit dem ausgewählten.
„Nein, das dürfte kein Problem sein. Aber willst du wirklich solange da bleiben? Ich muss heute bis Neunzehn Uhr arbeiten ..., wegen deiner Schule und so."
„Das ist kein Problem. Ich kann hier meine Schularbeiten erledigen und ein wenig für die bevorstehende Bioarbeit lernen. Außerdem habe ich auch noch das Buch mit, welches ihr mir zum Geburtstag geschenkt habt.", versuche ich sie zu überzeugen.
„Okay. Ich muss jetzt Schluss machen, gerade ist ein Kunde gekommen. Ich liebe dich. Bis heute Abend."
‚Ich dich auch.', will ich noch sagen, aber da hat sie schon aufgelegt. Kurze Zeit sehe ich noch mein Handy an, bis ich es wieder weglege.
Seufzend greife ich nach einen College Block aus meiner Tasche und beginne mit meiner Mathe Hausaufgabe, die nur aus einer Kurvendiskussion einer Exponentialfunktion besteht. Schnell bin ich fertig, mache lieblos Erdkunde, wo wir ein Bericht über ein Industrieland unser Wahl schreiben sollen und schau mir ein paar Vokabeln in Spanisch an, obwohl wir keine lernen sollten. Eine halbe Stunde lerne ich dann auch noch Biologie; Symbiosen, Parasitimus und Räuber-Beute Beispiele muss ich mir vor der Ökologie Arbeit nun nicht mehr ansehen. Schließlich krame ich den Roman „1984" heraus, betrachte aber nur das Cover und lege es dann wieder beiseite.
Mir ist nicht nach lesen.
Mir ist nach rein gar nichts zumute.
Erst jetzt wage ich es, meinen Vater genauer zu betrachten.
Er schläft.
Noch immer.
Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht?
Ein Schauer überfährt mich.
Jeffs Interpretation von dem kleinen Prinzen taucht wieder in meinem Kopf auf. Zerflossen und vermischt mit dem Bild meines Vaters.
So darf es einfach nicht kommen.
Meine Kiefermuskeln spannen sich an, mit meiner Hand greife ich nach der Hand meines Vaters. Sie ist viel zu kalt. Panisch suche ich nach seinem Puls und kann erst wieder atmen, als ich ihn dumpf gegen meinen Finger schlagen spüre.
„Papa.", flüstere ich. „Wieso wachst du denn nicht auf?"
Ich weiß, es ist Sinnlos mit ihm zu reden. Und ich glaube auch nicht daran, dass er mich hören oder spüren kann. Aber ich rede ja auch nicht seines willen mit ihm, sondern meines wegen. Ich brauche ihn. Jetzt.
Und zwar nicht hier im Krankenhaus.
„Ich weiß, dass auch du mal deine Ruhe brauchst. Dass es deinen Körper gut tut, wenn du diese Pause mal machst. Aber wir brauchen dich auch. Mama, Alen. Ich brauche dich. Gerade jetzt." Mit meinen Oberkörper kuschle ich mich ein wenig an den meines Dads. Auch wenn ich dieses Unbehagen wieder dabei spüre.
„Papa, wach auf." Meine Stimme bricht. Tränen rollen meine Wange hinunter, mein Gesicht presse ich in die Decke. „Ich versuche ja stark zu sein. Ich versuche ja alleine zurecht zu kommen. Ich versuche ja erwachsen zu sein. Aber ich schaffe es nicht." Die Decke verschluckt die meisten meiner Wörter. Die Decke oder mein weinen.
„Papa. Bitte. Ich brauche dich. Wenn du doch nur wüsstest. Wüsstest was ich in letzter Zeit durchmachen musste." Ich höre mir selber beim Weinen zu. „Du wolltest mich immer vor allem beschützen. Du und Mum. Und jetzt? Ich kann mit niemanden darüber reden. Ich muss stark sein, um alle die ich Liebe zu schützen. Weißt du, wie sehr er mir schon wehgetan hat? Er zieht mir an den Haaren, stößt mich, schändet meine Haut, quält mich psychisch und dann ... dann ist er immer so nett, liebevoll. Und dann wieder gemein. Ich kann das nicht. Das wird mir alles zu viel. Ich verstehe meine eigenen Gedanken nicht mehr, ich verstehe mich selber nicht mehr. Aber ich muss stark sein. Ich muss stark sein. Dabei bin ich doch schwach. Schwach und klein und in Gedanken oft noch ein Kind. Ich will wieder in der Blase leben, die so viele Eltern für ihre Kinder bauen, ich will nicht, dass sie zerplatzt. Zwar habe ich schon oft geglaubt, dass ich reif sei, aber das bin ich nicht.", meine Stimme klingt schon beinahe Hysterisch. „Ich will Schokoladeneis essen, dass du mir Kartentricks zeigst und dass Mama uns dabei liebevoll zusieht. Ich will, ich will, ich will. Hörst du? Ich bin ein kleines Kind. Lass mich Kind sein, bitte. Ich schaffe es nicht. Ich bin nicht gemacht für diese Welt. Ich bin nicht dafür gemacht, dass ich meine Liebsten vor jemanden beschützen muss. Bitte. Lass mich doch so Egoistisch sein, wie ich gerne möchte." Meine Stimme stirbt. Mein Schluchzen verdeckt sie und es ist egal, denn es macht alles kein Sinn.
Doch. Macht es.
Denn es ist wahr.
Ich will wieder ein Kind sein.
Gefangen in meiner eigenen Blase.
Heulend schlafe ich ein. Es ist ein friedlicher Schlaf. Friedlich und schön.
Ein Schlaf, in dem ich Kind sein kann.
Sobald meine Mutter kommen und mich wecken wird, werde ich wieder mehr Kraft haben. Ich werde weiterhin erwachsen sein können, für alle, die ich Liebe.
Aber jetzt bin ich ein Kind.
Ein Kind, das bei seinem Vater ist.
Und ich bin ihm dankbar, und denke dass er mich vielleicht doch gehört hat. Denn wieder einmal beschützt er mich. Auch wenn nur für den Moment.
Die Kapitel werden inzwischen immer etwas länger :3 Mal sehen ob ich das halten kann XD
Danke für jeden, der sich diese Geschichte und meine verkorksten Gedankengänge durchließt :D Was ist euer Lieblings Buch? (also nicht auf wattpad) :p würde mich mal interessieren :D Tschüsschen :p (achja, wenn in der nächsten Woche nichts kommt, kann es an der ganzen Arbeit liegen und tut mir dann Leid :S)
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