Der Freak
In der Schule am nächsten Tag kommt es mir so vor, als würde ich von den meisten gemieden werden. Nein.
Es kommt mir nicht nur so vor, es ist so.
Vor der ersten Stunde kommt niemand zu mir, um wie üblich meine Hausaufgaben abzuschreiben. Ich habe zwar auch keine gemacht, aber - das wissen die ja nicht. Selbst Mitschüler, die gar nicht in meine Klasse gehen, mit denen ich nur diesen einzigen Kurs habe, kommen nicht bei mir an.
Selbst als klar ist, dass meine Sitznachbarin krank ist, setzt sich keiner neben mich. Sonst ergreift immer jemand die Chance, in Biologie neben mir zu sitzen. Schließlich ziehe ich denjenigen immer mit.
Und es fällt mir erst auf, als ich Janin hinter mir tuscheln höre.
Ich ertrage es.
Zumindest nach außen hin.
Die ganze Doppelstunde Bio sitze ich still auf meinen Platz und versuche die gedämpfte Stimme von Janin zu ignorieren. Aber es ist schwer. Denn sie hat eine wirklich nervige Stimme, erzählt aber umso besser Geschichten. Die Worte rieseln auf mich ein, als wäre ich selbst nicht der Protagonist ihrer Erzählungen. Wie sie mich darstellt, als wäre ich Irre. Wie sie über mich redet, als würde ich nicht einen Platz vor ihr sitzen.
Ist sie so dumm und bemerkt sie nicht, dass ich alles mitanhören kann? Oder hat sie es darauf abgesehen?
Mein Radiergummi reibe ich zwischen Zeigefinger und Daumen. So fest, dass meine Fingerkuppen ganz rot werden. Es soll mich ablenken, aber es hilft nur bedingt.
Wenn Janin schon so über mich redet, wie werden es dann wohl die anderen tun? Ich lasse meinen Blick durch den Übungsraum schweifen, sehe wie zwei andere die Köpfe zusammengesteckt haben und bilde mir ein, sie reden auch über mich. So wie sie mich alle ansehen, kurze, verstohlene Blicke, könnte ich gleich um eine Kurs-Diskussion über mich bitten. Das würde sie aller sicher brennend interessieren.
Um die Gedanken zu vertreiben, versuche ich angestrengt den Unterricht zu verfolgen. Doch die Worte, die die Lehrerin vor sich hin säuselt, wollen nicht in meinen Kopf rein.
Als hätte mein Gehirn eine Barriere geschaffen.
Ich versuche die Barriere auch auf meine Mitschüler anzuwenden. Vergeblich.
Deswegen ist die Pausenglocke ein solcher Befreiungsschlag. Schnell stopfe ich den College-block und die Federtasche in meinen Rucksack und verlasse den Raum.
Draußen auf den Flur sehe ich Ben. Instiktive will ich zu ihm - wir warten vor den Bioräumen immer aufeinander - doch ich halte mich zurück. Noch hat er mich nicht gesehen.
Vielleicht meidet er mich auch. Vielleicht will er nichts mehr mit mir zu tun haben. Zweifel nagen an mir. Ich will nicht, dass sie bestätigt werden. Lieber bleibe ich im unklaren.
Ich senke mein Blick zum Boden und laufe eilig weiter, doch es dauert keine Zehn Sekunden, da ruft Ben schon meinen Namen und kommt mir hinterher.
"Hast du nicht etwas 'Wichtiges' vergessen?" Er ist nun auf der selben höhe wie ich. Sein Tempo hat er mir angepasst.
"Ich habe dich nicht vergessen.", presse ich zwischen meinen Lippen hervor. Der selbst-ironische Klang in seiner Stimme beruhigt mich ein wenig.
"Aber?" Ben fasst mich am Arm und bringt mich in einer ruhigeren Ecke zum stehen.
"Ich wollte dir die Möglichkeit geben, nicht mit einem Freak wie mir gesehen zu werden." Selbstmitleid schwingt in meiner Stimme mit, die ich sofort unterbinde.
"Glaubst du Ernsthaft ich gebe etwas auf das Gerede der anderen?", fragend zieht Ben seine Augenbrauen in die Höhe. Das mag ich so an ihn. Er versucht die Dinge nicht zu verharmlosen. "Ganz abgesehen davon, dass du schon immer ein Freak warst." Ein Grinsen ziert sein Gesicht.
"Danke.", ich lächle ihn an. Seine Worte habe ich gebraucht. Sanft stoße ich ihn in die Rippen."Gleich und gleich gesellt sich eben gern."
"Das wollte ich hören." Zusammen gehen wir langsam zu den Treppen. "Hast du Geschichte schon gemacht?" Ich bin froh, dass er das Thema wechselt.
"Geschichte? Wir haben doch Philosophie?"
"Das ich einmal der Streber von uns beiden sein werde.", er schüttelt den Kopf. "Frau Steinbeck hatte Montag doch erwähnt, dass wir am Donnerstag Geschichte statt Philosophie haben werden. Dafür ist es dann nächste Woche andersherum."
"Oh."
"Oh? Ist das alles, was dir dazu einfällt?" Er klingt schon leicht entrüstet.
Ja. Ja, das ist alles.
In Geschichte sind meine Gedanken durchgehend mit mir selbst beschäftigt. Es ist ein Witz daran geglaubt zu haben, dass ich mich hier auf den Unterricht konzentrieren könnte, wenn es mir in Biologie schon nicht geglückt ist.
Wieso sollte ich mich überhaupt konzentrieren? Die Menschen über die wir sprechen sind doch eh alle Tot. Tot. Ein so unwirkliches, kleines Wort. Es klingt so unspektakulär, auch wenn es die Bedeutung dahinter nicht ist. Nicht seit ich den Tod gesehen habe.
Nicht seit mir bewusst ist, dass jeder ein Leben beenden kann. Dass er das Leben von allen beenden kann.
Wir sollten weniger darüber reden. Es wird einen Wahnsinnig machen. Schon der Gedanke daran. Es wird mich Wahnsinnig machen. Die Bilder hervorhohlen.
Auch ich könnte Tod sein. Aber ich Lebe. Ich Lebe dank ihn. Nur weil er mich verschont hat.
Meine Finger fangen sofort zu kribbeln an. Ich brauche frische Luft. Ich kann die weit entfernten Worte meiner Lehrerin nicht mehr ertragen. Wie sie redet, als wären die ganzen Menschen aus den Geschichtsbüchern noch real. Als würden sie noch existieren.
Das tun sie nicht.
So wenig, wie die junge Familie. Der kleine Prinz und Peter Pan.
Die Bilder treffen mich unvorbereitet. Mit einer Wucht, die mich schon wieder zu überwältigen droht.
Nein.
Nein.
Nein.
Nein!
Ich springe von meinem Platz auf. Durch den Schwung kippt mein Stuhl nach hinten. Sofort sind wieder alle Augen auf mich gerichtet. Jetzt werden sie alle noch mehr zu reden haben.
Aber das ist egal.
"Stopp!", schreie ich Frau Steinbeck an. "Hören sie auf damit." Das Kribbeln breitet sich auf meine Handflächen aus. Es zieht sich hoch zu meinen Armen.
"Lucia, was -" Sie hat keine Ahnung, wie sie reagieren soll. Vielleicht hält sie es für einen schlechten Scherz. Nein. Im Lehrerzimmer hat sich mein Verhalten sicher auch schon rumgesprochen. Ich sehe es in ihrer Mimik. Sie hält mich auch für Irre.
"Hören sie auf über die Menschen zu reden!", meine Stimme wird etwas lauter. Die Muskeln in meinem Gesicht spannen sich an.
"Die Menschen ... was? Lucia beruhige dich! Setz dich wieder auf deinen Platz!"
Immer mehr Bilder von toten Menschen erscheinen mir. Selbst die aus Filmen, die ich nie als schlimm empfunden habe.
"Hören sie auf über die Toten zu reden! Sie sind Tot! Verstehen sie?! Sie sind Tot!"
"Lucia!" Ihre Stimme erhebt sich. Ihre Hände zittern. Wahrscheinlich vor Wut. Seit wann traut sich auch eine mickrige, kleine Schülerin sich gegen die Lehrerin das Wort zu erheben?
"Napoleon starb 1821. Hitler starb 1945. Julius Caeser starb 44 vor Christus! Was interessieren uns die?", ich beginne etwas ruhiger, rede mich aber wieder in rage. "'Wir sollen aus der Geschichte lernen.'", äffe ich nach, "aber es wiederholt sich doch trotzdem alles! Merken sie das eigentlich? Die ganzen Kriege, all die Verfolgungen ... es wird immer Arschlöcher auf dieser Welt geben, die sowas veranlassen! Die können einen noch so tollen Geschichtsunterricht gehabt haben! Vielleicht gibt ihnen die Geschichte ja sogar erst den Anstoß darauf!" Ich kreische. Schmeiße meine Sachen vom Tisch. Wie ein Kleinkind.
Eine kurze Zeit, da ist es still. Offensichtlich traut sich keiner mehr etwas zu sagen.
Ich sacke in mir selbst zusammen. Meine Hysterie vermischt sich mit heulen. Nur das keine Tränen fließen. Für einen Augenblick schlage ich mir die Hände vors Gesicht. Dann, ganz leise: "Sie sind Tot. Versteht es doch endlich." Mit diesen Worten verlasse ich den Raum. Als die Tür hinter mir zu fällt, beginnt das Gerede. Und ich höre Bens Stimme. Wie er sie alle Auffordert, nicht in meiner derzeitigen Situation über mich zu urteilen. Wie er mich in Schutz nimmt.
Ben. Vielleicht ist er ja mehr Engel als ich. Doch den Gedanken streiche ich sofort wieder.
Vielmehr denke ich an meine letzten Worte. Ich selbst weiß nicht, ob ich damit die Personen aus den Geschichtsbüchern meine oder die Menschen, die Jeff getötet hat.
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