Kapitel 1 - Neustart

Nie im Leben hätte ich geahnt, dass ich mich eines Tages im kältesten Winkel Amerikas wiederfinden würde.

Vor mir erstreckte sich eine Landschaft, die im winterlichen Schweigen beinahe unwirklich schien: schroffe Berge, deren Gipfel unter einer makellosen Schicht glitzernden Schnees verborgen lagen, und tiefgrüne Tannen, deren Äste sich unter der Last des Eises bogen. Der Atem der Natur schien eingefroren, während die klare, eisige Luft von einer stillen Erhabenheit erfüllt war. Flüsse und Seen, erstarrt zu funkelndem Glas, reflektierten das blasse Licht einer Sonne, die kaum über den Horizont stieg. Alaska im Winter war nicht nur kalt, es war zeitlos – ein Gedicht aus Frost und Stille, das in seiner rauen Pracht das Herz berührte.

Hinter mir das unaufhörliche Rauschen eines Motors. Die kleine klapprige Flugmaschine hatte mich mitten ins Nirvana gebracht und ich war auch noch freiwillig in sie hinein gestiegen. Vor Jahren hätte ich mich selbst für verrückt erklärt.

Was wollte eine Texanerin in Alaska? Wer tauschte schon freiwillig die Sonne gegen Schnee ein? Die einfachste Antwort war ein Jobangebot – ein scheinbar solider Grund, der sich gut anhörte und keine weiteren Fragen aufwarf. Die komplizierte Antwort schob ich beiseite, sorgfältig in die hintersten Winkel meines Bewusstseins verdrängt. Es war eine Wahrheit, die ich weder formulieren konnte noch wollte, ein Kapitel, das ich nicht zu öffnen bereit war. Vielleicht, dachte ich, würde die Kälte hier oben mir helfen, alles einzufrieren, was ich noch nicht hatte aufarbeiten können.

„Auf Wiedersehen!", rief mir der Pilot zu, während er die Koffer neben mich abstellte. Ich nickte ihm knapp zu und atmete tief ein. Die eisige Luft brannte in meinen Lungen, als hätte ich ein Bündel winziger Messerklingen verschluckt.

Mit klammen Fingern griff ich nach meinem Koffer und zog ihn über die schmale, schneebedeckte Landebahn. Die Räder schrammten über den gefrorenen Boden, und der Wind zerrte an meiner Jacke. Vor mir erhob sich das kleine Gebäude, das mit seinen schiefen Wänden und dem verwitterten Holz eher einer Hütte als einem Flughafen glich.

Wärme empfing mich, als ich durch die Tür trat. Der Geruch von Holz und Tannen lag in der Luft, während ich mich ein wenig umsah. Ein paar Bänke standen in der Mitte des Raumes, scheinbar für diejenigen, die auf den nächsten Flieger – oder besser gesagt auf die nächste Blechkiste – warteten, der sie wohl von diesem Fleckchen Erde wieder fortbringen sollte.

Ich fragte mich, ob ich mich auch eines Tages hier wiederfinden würde, um der Kälte zu entfliehen. Doch für diesen Moment war ich erstmal hier, um vor anderen Dingen wegzulaufen. Und eine Flucht genügte mir fürs Erste.

"Hallo und willkommen in Silver Creek", begrüßte mich eine stattliche Dame mittleren Alters. Sie stand an dem Tresen, der ebenfalls aus altem Holz angefertigt worden war.

"Guten Tag", erwiderte ich mit einem Lächeln, während ich näher trat.

"Was kann ich für sie tun?", fragte sie. Ihre Stimme war freundlich und erinnerte mich an warme Milch mit Honig.

"Ich bin Avery Garcia", stellte ich mich vor und reichte ihr meine Hand, die sie direkt kräftig schüttelte.

"Oh! Die neue Englisch und Kunstlehrerin", erwiderte sie begeistert, "ich bin Ivanna Anderson."

"Die Nachricht hat sich wohl schon herumgesprochen", schmunzelte ich und schob mir dabei eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht.

"Oh, das ist ein kleiner Ort, Miss Garcia." Ein Grinsen legte sich auf ihre Lippen.

"Verstehe." Nickend musterte ich sie kurz. Ivanna hatte ihre blonden Locken in einen Zopf gebunden und ihre grünen Augen funkelten erfreut. Kleine Falten bildeten sich an ihren Augen, zeugten davon, dass sie viel lachte.

"Greg sollte gleich hier sein, um Sie zum Hotel zu bringen. Wollen Sie solange einen Kaffee, Tee oder Kakao?", fragte sie.

"Einen Kakao gerne."

Bei einer heißen Schokolade konnte ich niemals widerstehen. Ein wissendes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht.

"Bring' ich Ihnen." Sie verschwand in dem Raum hinter dem Tresen und gab mir somit die Möglichkeit, mich noch einmal ein wenig umzuschauen. Es war gemütlich hier drinnen eingerichtet. Nichts erinnerte daran, dass dies eigentlich ein Flughafen sein sollte. Gemälde der eisigen Landschaft hingen an den Wänden, vermutlich um Neuankömmlingen die Gegend ein wenig zu zeigen. Eine große Karte mit Wanderrouten hing dort ebenfalls. Der alte Boden aus Holz knarrte unter meinen Füßen, während ich durch den Raum schlenderte. Durch das Fenster konnte ich die rohe Landschaft Alaskas entdecken. Weit und breit war bloß die weiße Decke aus Schnee zu sehen, im Hintergrund ragten Berge empor, majestätisch und rau zugleich.

Wenige Sekunden später kam sie mit einem To-Go Becher wieder, der bis zum Rand mit Kakao gefüllt war.

"Ich habe noch ein bisschen Zimt drauf gestreut", sagte sie mit einem schelmischen Lächeln.

"Das ist perfekt! Danke", erwiderte ich entzückt.

Ein Hupen von draußen ließ mich kurz erschrocken zusammenzucken, während meine steifen Finger den warmen Becher umklammerten. Automatisch hielt ich die Luft an und blinzelte ein paar mal.

"Oh, das ist bestimmt Greg!"

Ivannas Stimme klang, als sei ich meilenweit unter Wasser. Dumpf, wie ein ferner Hall, der durch dicke Schichten Eis drang. Ich blinzelte erneut, versuchte, den Nebel aus meinen Gedanken zu vertreiben, während die Wärme des Bechers langsam in meine kalten Finger kroch.

Ich entspannte mich wieder, während ich Ivanna dabei beobachtete, wie sie zur Tür eilte.

"Greg! Komm herein. Das Mädchen hat einen schweren Koffer dabei", rief sie nach draußen.

Ich schüttelte die Kälte, die sich auf meine Haut gelegt hatte ab und schmunzelte bei dem Begriff 'Mädchen'.

Ich war Ende zwanzig, da war ich doch eigentlich mittlerweile eine Frau.

"Und dann muss ich, ein alter Mann, den Koffer etwa tragen?", eine brummende tiefe Stimme ertönte und ein Mann mit grauen Haaren und Vollbart trat in den Flughafen.

"Oh, ich hätte auch nach draußen kommen können", versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

"Quatsch, das arme Ding ist die Kälte nicht so gewohnt wie du Greg. Sie hat ganz steife Finger", maßregelte Ivanna ihn zurecht.

"Cheechako!", murmelte er in seinen Bart hinein und schnappte nach meinem Koffer.

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, ehe ich ihm folgte. Kurz bevor ich die Türschwelle übertreten konnte, hielt mich Ivanna am Arm fest.

"Greg ist ein wenig eigensinnig. Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. Und falls Sie mal etwas brauchen, kommen Sie gerne jederzeit vorbei!", sagte Ivanna freundlich.

"Danke, duzen Sie mich gerne", erwiderte ich ebenso herzlich.

"Dann du mich auch, Liebes", sagte sie, ehe sie mich nach draußen scheuchte.

Während der Fahrt blieb Greg ziemlich ruhig. Er konzentrierte sich auf die verschneiten Straßen vor sich, seine Augen fest auf den verschwommenen Fahrbahnrändern, die im Schnee nur schemenhaft erkennbar waren. Das Radio plärrte leise alte klassische Musik, ihre sanften Klänge passten kaum zu der rauen, eisigen Umgebung, die uns umgab.

"Woher kommen Sie eigentlich?", fragte Greg dann, während wir durch einen Waldabschnitt fuhren.

"Texas", sagte ich, während ich die Tannen beobachtete, die an uns vorbeizogen.

"Das muss ein ganz schöner Temperaturschock für sie sein", brummte Greg.

"Da haben Sie Recht", stimmte ich ihm lachend zu.

Er hob bloß seine Augenbrauen, als sei es gar kein Witz gewesen, konzentrierte sich dann jedoch wieder auf die Straße.

"Ich wollte mal was anderes sehen", erklärte ich dann wieder ruhiger.

"Da haben sie sich ja wirklich das Richtige ausgesucht. Ich bin gespannt, wie lange Sie es in dieser Eiseskälte aushalten werden."

So wie er die Worte aussprach, meinte ich beinahe, dass er nicht daran glaubte, mich lange hier zu haben.

"Ich gebe nicht so schnell auf", erklärte ich dann zuversichtlich.

"Es ist gerademal Oktober. Die Tage werden kürzer, die Nächte kälter"

"Immerhin gibt es dann Schnee an Weihnachten", entgegnete ich, erntete dafür ein spöttisches Lachen.

"So eine sind Sie also", grunzte er.

Ich zuckte mit der Schulter, nicht wissend, was ich darauf entgegnen sollte.

Er bog um die Ecke, und ich konnte bereits die ersten Gebäude von Silver Creek entdecken. Die kleine Gemeinde lag wie ein vergessenes Juwel in der verschneiten Wildnis Alaskas, eingefasst von dichten Wäldern und schroffen Bergen. Die Häuser, rustikal und aus Holz gebaut, schienen sich gegenseitig Schutz zu bieten vor der Kälte, die ständig in der Luft hing. Die Dächer waren unter dicken Schneeschichten verborgen, und der Rauch, der aus den Schornsteinen stieg, bildete sich in der kalten Luft zu feinen Fäden.

An den Straßenecken standen vereinzelte Läden und kleine Cafés, deren Fenster mit Lichterketten geschmückt waren, die warm und einladend wirkten. Ein hölzerner Wasserkran ragt von einer der Ecken aus, und ein altes, halbverblasstes Schild mit der Aufschrift „Silver Creek General Store" schwingte sanft im Wind. Die Straßen waren nicht viel mehr als schmale, schneebedeckte Wege, die sich durch den Ort schlängelten und in den endlosen Wald zu führen schienen.

Es war ein Ort, an dem die Zeit langsamer verging – ein Ort, an dem jeder jeden kannte und das Leben sich still und inmitten der wilden Schönheit Alaskas entfaltet.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top