Wiedersehen




Song: Ballad of the Lonely Hearts - Black Veil Brides

In your mind of paradise, every dream that lives inside, sometimes the future feels so far and the devil always bites. All your dreams that now have died


Zur leise laufenden Musik lauschend liege ich auf dem unbequemen Bett und starre Löcher in die vergilbte Decke, die einst weiß gewesen sein muss. Ich weiß nicht, was mich heute erwarten wird. Timo hatte mir vor einigen Tagen gesteckt, dass ich Besuch empfangen werde. Oft habe ich in den letzten Tagen, die ich hier noch immer eingesperrt bin, darüber nachgedacht, ob ich bereit dafür bin. Bereit, ihn wiederzusehen. Ich weiß nicht, ob ich ihm in die Augen sehen kann, nachdem ich ohne ein Wort zu ihm fortgegangen bin. Wieder. Lange konnte ich jedoch keinen Tag über heute und das, was mir bevorsteht , nachdenken, denn ich wurde beinahe auf Schritt und Tritt verfolgt. Der blonde Gnom scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, jede meiner Bewegungen genauestens zu begleiten und mir die Ohren voll zu quatschen. "Hast du Hunger?", fragt er, während er neben mir auf der Bettkante sitzt und mich dabei von der Seite mustert. Ich versuche, ihn zu ignorieren, doch er quasselt ununterbrochen weiter: "Also ich habe auf jeden Fall Hunger. Eigentlich habe ich immer Hunger. Jetzt gerade könnte ich ein ganzes Kalb verspeisen!" Euphorisch schlägt er mir leicht mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, weshalb ich mich sofort aufsetze, mit der Faust aushole und ihm direkt auf den Oberarm boxe. Ich hasse es, wenn man mich ungefragt berührt oder anfasst. Noch weniger kann ich es leiden, wenn man mich schlägt, ohne, dass ich vorher provoziert habe. "Kannst du nicht einmal deine gottverdammte Fresse halten?!", fahre ich ihn genervt an und lasse mich wieder auf das Bett fallen, bevor ich meine Arme hinter meinem Kopf verschränke, damit ich wieder die Decke anstarren kann. "Ich kann meinen Mund zwar halten, aber dann wäre mir langweilig." Ohne ihn anzuschauen, höre ich, dass er schmollt. "Das ist nicht mein Problem. Such dir eine Beschäftigung." Jetzt schaue ich ihn an. Er erwidert meinen Blick und zieht die Stirn kraus. "Was soll ich denn machen? Hier gibt es nichts, womit man sich beschäftigen kann." Er legt seine Hände in den Schoß, weshalb seine Schulter herunter hängen. "Was weiß ich? Hol dir einen runter", schlage ich ihm vor und richte mich auf, setze mich auf die Bettkante. Ich will weg von hier, weg von ihm, alleine sein. Dieser blonde Zwerg hat eine Eigenart an sich, die mir ganz und gar nicht gefällt.

Ich stehe auf. Sofort springt auch der Blonde auf. "Wo gehst du hin?", fragt er. Die Begeisterung in seiner Stimme ist kaum zu hören. Gerade eben hat er noch schmollend auf meinem Bett gesessen und jetzt hört er sich so an, als wolle er Bäume ausreißen. "Weg", antworte ich ihm lediglich und trete aus dem Raum. Bevor ich die Tür hinter mir schließe sage ich noch an ihn gerichtet: "Wehe du folgst mir." Doch er kommt auf mich zu und stellt sich vor mich, sieht zu mir auf. "Wieso denn? Ich möchte dich begleiten." Genervt verdrehe ich die Augen und schlucke das Verlangen, ihm ins Gesicht schlagen zu wollen, runter. "Gut, dann mach ich deine Justin-Bieber-Frisur zu einem Toupet für Arme." Ich wende mich zu gehen. Zum Glück folgt er mir dieses Mal wirklich nicht.

Ich schlendere durch die unendlich scheinenden Gänge mit bunten Wänden und unterdrücke das Verlangen, mich bei der grauenhaften Farbwahl auf den nächstbesten Pfleger, der meinen Weg kreuzt, zu übergeben. Ziellos irre ich durch die Einrichtung und ignoriere jeden der Blicke, die mir die Anderen zuwerfen. Sie sind, wie ich, hier, um sich helfen zu lassen bei ihren Problemen, doch eigentlich sind wir alle Gefangene. Es spielt keine Rolle, welcher Grund ausschlaggebend für den Aufenthalt im Schloss gewesen ist. Dieser Grund hält uns gefangen. Gefangen in uns selbst. Der Körper umhüllt die Seele eines Menschen, doch hier drin, in diesem Gebäude, werden unsere Seelen nicht umhüllt, sondern gefesselt. Unsere Probleme vernebeln unsere Sicht auf uns selbst, auf unsere Handlungen und auf unsere Mitmenschen. Viele sind nicht einmal mehr Herren ihrer Taten. Sie handeln instinktiv ohne groß darüber nachzudenken, was sie anderen damit antun.

"Mika!" In meine Gedanken vertieft, bekomme ich erst mit, dass mich jemand ruft, als diese Person meinen Arm ergreift. Ich fahre herum, die Faust erhoben, bereit, mich zu verteidigen. Timo steht vor mir, seine Miene sieht freundlich wie immer aus. Er schient nicht geschockt über meine Handlung zu sein. Ein sanftes Lächeln umspielt seine schmalen Lippen, als er mir in meine Augen sieht. "Ich habe dich gesucht. Kommst du? Dein Besuch wartet." Er lässt meinen Arm los, dreht sich weg und geht los. Augenblicklich beginnt mein Herz zu hämmern. Mir wird schlecht und meine Hände fangen an zu zittern. Erst jetzt realisiere ich meine Umgebung. Ich bin zu den Räumen der Psychologen und Psychiater gelaufen, ohne es zu merken. Was hat mich hier her gebracht? Warum ausgerechnet hier hin und nicht raus auf das Gelände? Oder in den Gemeinschaftsraum zu der Gitarre?

Langsam laufe ich Timo hinterher und versuche, durch Anhalten der Luft, meinen Herzschlag zu kontrollieren. Mein Herz schlägt so schnell und stark, dass es schon wehtut. Mit jedem Schritt werden Aufregung und Nervosität schlimmer, stärker. Ich will es ausschalten.
Timo geleitet mich durch die hohen Gänge und mittlerweile habe ich wieder meine Orientierung verloren. Wenn er mich nachher nicht wieder abholt, werde ich nie wieder zurück in das Zimmer finden, in welchem ich nächtigen muss. Dann werde ich ihm den Kopf umdrehen. Vor einer großen Tür aus dunklem Holz bleibt er letztendlich stehen. "Hier finden die Treffen mit Angehörigen und Besuchern statt. Ihr seid nicht die einzigen in diesem Raum, also versuch bitte, dich zu benehmen." Ausdruckslos sehe ich ihn an. "Versprich es mir, Mika!", sagt er mit Nachdruck. Ich verdrehe die Augen. "Ich verspreche es", gebe ich genervt von mir und lege meine Hand auf die golden schimmernde Türklinke. Alles in mir schreit danach, mich einfach umzudrehen und wegzurennen, doch hinter mir steht Timo. Ich spüre seinen Blick in meinem Nacken, als ich zögere, die Tür zu öffnen. Wenn ich jetzt einen Rückzieher mache, wird Noah mir niemals verzeihen können. Ich werde ihm nie mehr unter die Augen treten können. Dann sollte ich am besten eine Schaufel besorgen und mir ein schönes Plätzchen unter einem Kirschbaum suchen, damit ich mich selbst vergraben kann.

Ich atme tief durch und drücke die Klinke nach unten. Den Blick zu Boden gerichtet trete ich in den Raum ein, in dem es plötzlich leise wird, als ich die Tür hinter mir schließe. Ich straffe die Schultern und bemühe mich darum, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Ich lasse meinen Blick durch den Raum gleiten, bis er an einem hochgewachsenen jungen Mann mit einer schwarzen Cap und Dreitagebart hängen bleibt. Mir stockt der Atem, mein Herz schlägt noch schneller, als es das ohnehin schon tut. Meine Hände werden unangenehm schwitzig und ich merke, wie mir das Butl in den Kopf schießt. Da ist er. Noah steht an dem Fenster und ist der einzige in diesem Raum, der mich nicht anstarrt, sondern zum Fenster rausschaut. Er steht seitlich, sodass ich sein Seitenprofil mustern kann. Die dichten schwarzen Wimpern umrahmen seine braunen Augen. Seine Arme hat er vor der Brust verschränkt, die Cap hat er mit dem Schirm nach hinten gerichtet aufgesetzt. Es steht irgendwas darauf, doch ich kann es nicht lesen.

Langsam nähere ich mich ihm, unsicher, was ich tun soll. Wie soll ich mich verhalten? Wie wird er auf mich reagieren, wenn er mich sieht? Diese und noch mehr verunsichernde Fragen schießen mir durch den Kopf, bis ich es nicht mehr aushalte und mir den Kopf mit der nicht gebrochenen Hand halte. Kurz bevor ich mich neben ihn stellen kann, bemerkt er mich und dreht seinen Kopf zu mir. Meine Augen brennen, als ich ihm in die seine schaue, weshalb ich den Blick so schnell es geht, abwende. Ich höre seine Schritte und die Zeit scheint still zu stehen, während ich darauf warte, dass er mich schlägt, mich schubst, mir eine Standpauke vor all den anderen Leuten hier gibt. Doch ich warte vergebens.
Seine Arme schließen sich um meinen Oberkörper und ich werde an ihn gedrückt. Tränen fließen nun aus meinen Augen und ich kralle mich in die Sweatshirtjacke, die er anhat. Ich will ihn nicht loslassen, ich brauche seinen Halt, seine Arme, die mich über dem Wasser halten und mein Ertrinken verhindern. Ich habe das Gefühl, der Boden reißt unter meinen Füßen weg, es bildet sich ein schwarzes Loch, in das ich drohe zu stürzen, doch Noah hält mich fest. Er verhindert, dass ich in das Loch falle und mich verliere.

Er schiebt mich sanft von sich, hält seine Hände aber auf meinen Schultern. Ich kann die Tränen in seinen Augen sehen. Er hat also auch geweint. Schuldbewusst wende ich den Blick ab und schaue auf den Boden. All das ist meine Schuld. Hätte ich ihm vor ein paar Wochen gesagt, was ich vorhabe, hätte er sich niemals Sorgen um mich machen müssen. Er würde nicht hier stehen und weinen, ich könnte mir sicher sein, dass er mich jetzt nicht hasst.
"Schau mich bitte an." Der Klang seiner Stimme war schon immer wie Musik in meinen Ohren. Allein durch seine Stimme schafft er es immer, mich zu beruhigen, mich auf den Boden zu holen, mich aus der Schwärze zu ziehen. Ich kann mich nicht dagegen wehren, ihn anzusehen. Er ist umgeben von Magie, die mich beeinflusst. "Ich bin froh, dass es dir gut geht, Mika." Ein Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. Eines, das bis in seine braunen Augen reicht. Augenblicklich beruhigt sich mein Herzschlag. "Dir geht es doch hoffentlich gut, oder?" Sorge tritt in seine Augen, als er mich von Kopf bis Fuß mustert. Ich nicke, unfähig, auch nur ein Wort rauszubringen. "Bist du dir sicher? So dünn warst du noch nie. Bitte sag mir, dass es dir wirklich gut geht", fleht er mich an, seinen Blick wieder in meine Augen gerichtet. Ich will ihm sagen, dass es mir beschissen geht, dass ich nach Hause will, dass mich hier alles ankotzt und dass ich es auch so schaffen kann, endgültig von den Drogen wegzukommen. Doch ich nicke wieder nur.

Ich weiß, dass er mir das nicht abkauft und dass er mir am Liebsten eine Standpauke halten würde, doch ich merke, dass er sich zurücknimmt, da wir nicht alleine sind.
Noah geht zu einem der leeren Tische und setzt sich auf einen Stuhl. Unsicher folge ich ihm und setze mich ihm gegenüber auf den unbequemen Stuhl, der so aussieht wie in der Grundschule, nur in größer. "Was ist mit deinem Arm passiert?" Ich zucke nur mit den Schultern, um seinen Fragen auszuweichen. Es ist mir unangenehm, dass Noah mich so sieht. So zerbrechlich. Er verdreht die Augen, eine Eigenschaft, die wir teilen. "Ich habe mit deinem Psychiater gesprochen", beginnt er, was mich in Wut ausbrechen lässt. Doch bevor ich etwas sagen kann, unterbricht er mich sofort: "Beruhig dich, er hat mir nichts über deinen Zustand erzählt, ich bin nicht dein Erziehungsberechtigter. Er hat mir nur das erzählt, was ich ohnehin schon weiß."
Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, als eine ältere Dame mit einer Tasse und einer kleinen Kanne in den Händen auf uns zukommt und alles auf unserem Tisch abstellt. Verwirrt sehe ich mich in dem Raum um. Jetzt erst bemerke ich, dass dies hier aussieht wie ein kleines Café. Als ich wieder zu Noah sehe, gießt er sich aus der Kanne eine Tasse Kaffee ein. "Du bist impulsiv, aggressiv, hast immer noch Probleme mit dem Schlafen, was der Entzug wohl nicht zu fördern scheint." Wieder wende ich meinen Blick ab. "Versteh' mich nicht falsch, Mika. Ich bin nicht hier her gekommen, um dir Standpauken darüber zu halten, deine Mitmenschen nicht zu verprügeln oder den Pflegern ins Gesicht zu spucken. Dich darüber aufzuklären, welche Folgen das haben kann, ist nicht meine Aufgabe. Ich bin hier, weil ich dich sehen möchte, Mika. Weil ich dich in den letzten Wochen vermisst habe."

Ich sehe ihn an, schaue in seine Augen und finde dort diese Wärme, die meinen Magen schon immer erhitzt hat. Diese Wärme, die mich immer beruhigt hat, wenn ich vor Schmerzen geweint habe. Die Wärme, die mir immer sagt, dass alles wieder gut werden wird. "Bitte sag doch was", fordert er mich auf, doch in meinem Kopf herrscht eine akute Leere. Noah seufzt und holt etwas unter dem Tisch hervor. Eine kleine weiße Papiertüte, die er mir auf den Tisch stellt. "Guck rein. Ich dachte, es könnte deine Zeit hier ein wenig erträglicher machen." Er stützt sich mit den Unterarmen auf der Tischkante auf und beobachtet mich, während ich die Tüte zu mir auf den Schoß ziehe und hineinblicke. Ich hole ein Buch mit orangenem Cover hervor, auf dem eine Krähe abgebildet ist. Das Gold der Krähen. Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, als ich Noah wieder ansehe. "Wehe du freust dich nicht. Es hat mich ganz schön viel Überredenskunst gekostet. Und dazu musste ich auch noch eine Menge mieines Charmes spielen lassen, damit ich dir das Buch mitbringen durfte." Er zwinkert, während er lächelt. Dabei zeigt er seine Zähne. Dieses Lächeln steht ihm am Besten.

"Danke", hauche ich und fahre mit meinen Fingern über das Cover, dann über die seitlich eingefärbten Seiten. Im Gegensatz zu Das Lied der Krähen sind diese Seiten orange eingefärbt.
"Moment, höre ich da gerade, wie der kleine Mika sich bei mir bedankt?" Das Lächeln weicht einem Grinsen, das bei meinem wütenden Blick noch breiter wird. Dann nimmt er einen Schluck aus seiner Tasse. "Es tut mir furchtbar leid, aber ich darf dir keinen Kaffee anbieten. So wie ich Ellies Cousin verstanden habe, ist euch jeglicher Koffein untersagt." Als ich den Namen meiner Mutter höre, schwindet meine gute Laune aus meinem Körper, schwebt durch die Luft, bahnt sich einen Weg durch die Fenster und gleitet mit dem Wind davon. "Bitte entschuldige, dass ich deine Laune zerstört habe, weil ich deine Mum erwähnt habe." Sein sarkastischer Unterton bei diesen Worten macht mich wütend. Doch er ist der einzige Mensch, bei dem ich nicht das Verlangen verspüre, ihm physisch zu schaden oder ihn anzuschreien, egal, was er wie von sich gibt. "Du hast langfristig keine andere Wahl, Mika. Du musst dich mit ihr aussprechen, ihr müsst ins Reine miteinander kommen, sonst wirst du niemals richtig leben können." Er trinkt seine Tasse aus und schenkt sich neu ein. "Wie soll ich denn bitte jemals richtig leben können, wenn Julis Last auf meinen Schultern hängt, Noah?", zische ich sauer. "Tief in dir weißt du ganz genau, dass du keine Schuld daran trägst. Du willst es nur nicht sehen." er zuckt mit den Schultern. "Das habe ich dir schon öfter gesagt, aber du hörst nicht auf mich. Ich hoffe einfach nur, dass du bald aufhören kannst, dich selbst für Dinge zu bestrafen, auf die du keinen Einfluss gehabt hast." Noah sieht mich eindringlich an. Er lügt! Er weiß genau wie ich, dass ich Julis Tod hätte verhindern können. Noah schweigt. Was wohl in seinem Kopf vorgeht? Seine Miene ist unergründlich, ich kann sie nicht lesen, das hat mich schon immer an ihm gestört. Mich stört es seit je her, dass er immer genau weiß, wie es mir geht und wie ich mich fühle, ich aber nichts an Gefühlen in seiner Mimik finden kann.

"Es ist stickig hier, nicht wahr?" Er wechselt souverän wie immer das Thema. Ich nicke nur. Er hat Recht, die Luft in dem Raum ist schlecht und schwer. "Lass uns nach draußen gehen und uns dort weiter unterhalten." Skeptisch sehe ich ihn an. "Ich weiß nicht, ob wir das dürfen", lege ich ihm meine Bedenken offen. "Keine Sorge, ich hab mit deinem entfernten Verwandten gesprochen."  Er zwinkert wieder grinsend. "Es ist ein kleiner Vorteil, seine Kontakte zu haben, nicht wahr?" Ich kann nicht glauben, dass er das tatsächlich ausnutzt.

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