Vergangenheit und Gegenwart

Song: Blue - Curtain Falls

Noah

Ich sitze auf seinem Bett, der einzige Ort in seinem Zimmer, das sauber und ordentlich ist. Hier fühle ich mich ihm nahe. Es tut sehr weh, dass er mir nichts über sein Vorhaben gesagt hat, sondern einfach wieder gegangen ist. Damals hat er genau dasselbe getan. Ohne ein Wort hat er sich aus dem Staub gemacht, niemand wusste, wo er sich aufhielt, was er machte oder wie es ihm ging. Nur durch Zufall hab ich ihn am Bahnhof der nächsten Großstadt gesehen. Er saß auf den Stufen, guckte apathisch vor sich auf die Stufen, seine Arme von ausgefransten Ärmeln des dreckigen Pullovers bedeckt. Ich wusste direkt, wieso er trotz warmer Temperatur lange Ärmel trug. Er wollte nie, dass es irgendjemand sieht, wie kaputt er innerlich wirklich ist. Doch spätestens an diesem Tag konnte man es sehen.

Er saß da nicht alleine, sondern in einer Gruppe von Leuten, dich sich Nadeln unter die Haut jagten und sich Drogen spritzen. Es hat mich verletzt, Mika so kaputt zu sehen. In diesem Moment war mir klar, dass er den inneren Kampf gegen sich selbst verloren hatte. Mein Herz hat sich zusammengezogen, ihn so heruntergekommen zu sehen. Ich bin zu ihm hingegangen, habe mich neben ihn gesetzt und gewartet, bis er mich wahrnimmt. Von den anderen kamen verwirrte Blicke, einer fragte: "Ey, was will denn dieses Muttersöhnchen von dir, Mika?" Erst da hat er mich bemerkt. "Halt die Fresse!", bellte er dem anderen entgegen, stand auf und ging weg von der Gruppe. Ich hatte im Gefühl, ich sollte ihm folgen. Er ging weg vom Bahnhof und führte mich in eine Gasse, in der nicht viele Menschen unterwegs waren. "Was willst du hier, Noah?", fragte er mich. "Ich war auf dem Weg in die Stadt und hab dich gesehen." Skeptisch blickte er mich an. "Du hättest einfach weitergehen können. Du hast hier nichts verloren." Seine Stimme war kalt, doch seine Augen zeigten seine Verzweiflung. Sie waren matt und traurig. "Wie könnte ich weitergehen, wenn ich meinen besten Freund da am Bahnhof unter all den Junkies sitzen sehe?!" Ich war sauer auf ihn, dass er sich so gehen ließ und mich von sich stieß. Ich war aber auch wütend auf mich, dass ich es so weit kommen ließ.

"Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, sind das meine Freunde." Er schaute mir nicht in die Augen, sondern suchte immer die Umgebung ab, doch ich kann bis heute nicht sagen, wieso er dies tat. "Das sind doch keine Freunde, Mika! Wach auf!" Sein Blick schnellte zu mir und fest schaute er mir in die Augen. "Was weißt du denn schon von Freundschaft?!Sie sind wenigstens für mich da gewesen und haben mir geholfen, als ich Hilfe brauchte! Und wo warst du, Noah? Sag mir, wo warst du, als ich dich am meisten gebraucht habe?" Geschockt war ich wie erstarrt. Er warf mir an den Kopf, ihn verlassen zu haben, doch er war abgehauen. "Mika, komm von deinem hohen Ross runter! Du bist abgehauen, ich hatte keine Ahnung, wo du dich aufhältst! Glaubst du für mich ist das einfach, wenn mein bester Freund einfach von der Bildfläche verschwindet und kein Lebenszeichen von sich gibt?" Ich war verzweifelt, wütend aber am meisten war ich traurig. Ich dachte, ich hätte ihn damals für immer verloren.

Dasselbe Gefühl habe ich auch jetzt. Es fühlt sich nicht richtig an, dass er nicht hier ist und ich nicht bei ihm sein kann. Ich hätte mich gerne noch von ihm verabschiedet, ihm alles Gute gewünscht und ihm gesagt, dass er das schafft und ich an ihn glaube. Es zerfrisst mich, dass ich keine Ahnung habe, wie es ihm geht, was er gerade durchmacht und kann nur hoffen, dass er stark bleibt. Ratlos blicke ich mich in seinem Zimmer um. Als ich vor ein paar Tagen hier rein gegangen bin, traf mich der Schock. Dass Mika ein unordentlicher Mensch ist, weiß ich, doch seine Sachen waren zertrümmert. Das Zimmer glich einem Schlachtfeld. Überall lagen Scherben und Splitter. Das Regal lag auf dem Boden. Ein paar Bretter waren zerbrochen, andere lagen ausgebrochen unter dem massiven Holz. Reparieren konnte ich es nicht mehr, dafür war es zu demoliert.

Der kleine Spiegel an der Wand war in tausend Teile zersplittert. Der Blutspur nach zu urteilen, musste Mika dort reingeschlagen und sich die Hand aufgeschnitten haben. So wie ich ihn kenne, hat er wieder all seine Sorgen in sich hinein gefressen, bis der innerliche Druck zu stark wurde und er sich selbst verletzt hat. Das tat er immer, wenn er sich leblos vorkam. Ich hoffe, dass ihm der Klinikaufenthalt auch bei dieser Baustelle helfen wird und nicht nur bei seinem Drogenproblem.

Ich lasse mich erschöpft in das Kissen fallen, das nach ihm riecht und fühle mich direkt geborgen. Alleine sein Geruch hat mich immer trösten und meine Sorgen vergessen können. Doch heute ist es anders. Es sticht in meiner Brust, seinen Geruch um mich herum zu haben. Tränen brennen in meinen Augen und laufen kurz darauf mein Gesicht runter. Ich drehe mich auf die Seite und rolle mich ein, mein Gesicht in das Kissen gepresst. Leise Schluchzer bahnen sich ein Weg aus meiner Kehle. Seine Abwesenheit tut einfach zu sehr weh, auch wenn ich die Nähe zu ihm gerade brauche. Es schmerzt einfach, wenn er da und doch so fern ist.

"Möchtest du auch etwas essen?" Ellie steckt ihren Kopf zur Tür herein. Ich muss ein paar Male blinzeln, bis sich meine Sicht wieder klärt. "Ja gerne. Soll ich dir ein wenig beim Zubereiten helfen?", frage ich sie. Meine Stimme bricht dabei kurz weg. "Nein, das musst du nicht. Es ist schon fertig." Sie lächelt leicht. Ich schenke ihr ein Lächeln zurück und stehe auf, ehe ich ihr durch den Flur in die Küche folge. Verdutzt bleibe ich in der Tür stehen. Die Arbeitsplatte ist nicht nur aufgeräumt, sondern auch sauber gewischt. Der Boden ist wieder sichtbar und auch die Fliesen wurden gewischt. Ein zitroniger Geruch hängt in der Luft, weshalb ich die Augen schließe und einen tiefen Atemzug nehme. Als ich die Augen wieder öffne, grinst Mikas Mutter mich an und erst jetzt im Licht fällt mir auf, dass ihre Haare gewaschen und noch ein wenig feucht vom Wasser sind. Sie stellt zwei volle Teller mit Tortellinis auf dem kleinen Tisch ab, der ebenfalls vor Sauberkeit glänzt. "Ist irgendwas passiert, das ich verpasst habe?", frage ich verblüfft, als ich mich an den Tisch setze, auf dem sonst immer der volle Aschenbecher stand. Doch statt einer Antwort erhalte ich nur ein Kichern.

"Ellie, sei ehrlich, was ist in den letzten paar Stunden passiert?" Sie zuckt lächelnd mit den Schultern. "Du bist hier und gibst mir Kraft, Noah. Ich habe wieder die Aufgabe, mich um ein Kind zu kümmern." Ihr Lächeln erstirbt, als sie das letzte Wort ausgesprochen hat. "Du hattest vorher Mika und Chiara." Ich greife nach ihrer Hand. Sie ist kalt und zittert kaum sichtbar. "Sie wollten nur nicht, dass ich mich um sie kümmere. Chiara ist weggelaufen und Mika verachtet mich." Ellies Augen glitzern leicht im Licht. Ich drücke leicht ihre Hand. "Nein, er verachtet dich nicht, er wünscht sich nur seine fürsorgliche Mutter zurück. Er ist wie ein kleiner Junge, der seine Eltern mehr denn je braucht, besonders seine Mutter. Er fühlt sich schutzlos der Welt ausgeliefert und hat sich anderswo Hilfe gesucht, als er merkte, dass er diese bei dir nicht finden konnte. Du warst damals selber am Boden zerstört, das kann dir niemand verübeln." Ich atme kurz durch, das Gefühl der Atemnot drängt sich in meinen Brustkorb. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob das wirklich stimmt. Ich kann nicht sicher sagen, ob Mika seine Mutter mittlerweile nicht doch verachtet. Ich weiß es nicht.  Ich kann nur versuchen,  ihr Mut zuzusprechen. 



Ich lebe tatsächlich noch und das hier hat richtig lange gedauert, was mir leid tut! Ich hofe, ihr hattet Spaß an dem Kapitel und habt den Einblick in Noahs Gedanken genossen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top