Prolog


Meine Mutter steht in der Tür. Ich sehe sie nicht an, das kann ich nicht. Nein, das will ich nicht. Würde ich es tun, wird mir ihr Gesichtsausdruck die pure Enttäuschung entgegen schleudern. Ihre Schultern hängen sicherlich runter, ihre Hände hat sie um den Bauch geschlungen, so wie immer. Sie lehnt kaum merklich am Türrahmen, als würde er ihr den nötigen Halt geben, den sie braucht, das kann ich im Augenwinkel erkennen.
"Du machst dir dein Leben kaputt, mein Junge." Ich weiß, sie meint es gut, doch selber geht sie nicht mit gutem Beispiel voran. Die Alkoholfahne kann ich bis hier zu meinem Bett riechen. Ihre Wangen sind mittlerweile eingefallen, dunkle Schatten zeichnen sich deutlich von der fahlen Haut ab. Ihre Augen zeigen seit Monaten die Müdigkeit und die langen rotbraunen Haare fallen ihr immer unordentlich über die Schultern. Am Ansatz sind sie jeden Tag fettig. Sie macht sich nicht mal mehr die Mühe, gepflegt auszusehen. Von der einst starken Frau, der niemand etwas anhaben konnte, ist längst nichts mehr zu sehen. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern und stecke mir eine gelbe Tablette in den Mund. Das runde Ding rutscht meine Speiseröhre herunter und es fühlt sich gut an. Ich merke, wie jegliches Gefühl zurück in meinen Körper kommt und ich wieder lebendig werde. "Verpiss dich jetzt!", schnauze ich sie an. Ich will alleine sein!

"So kann das nicht weiter gehen!" Ihre Stimme bricht, sie ist den Tränen nahe, nur leider empfinde ich kein Bisschen Reue. Bevor sie geht, dreht sich meine Mutter noch einmal um. "Räum mal wieder hier auf. Das sieht aus wie im Saustall!" Sie klingt erschöpft und zutiefst traurig und ich sollte auf sie eingehen, doch statt ihr zu antworten, bleibe ich regungslos sitzen und starre aus dem kleinen Dachfenster über mir. Wolken verdecken den Himmel, keine Spur von Sonnenschein. Dabei ist es schon Frühling.

Die Tür knallt zu und erst jetzt drehe ich meinen Kopf. Sie hat Recht, hier sieht es beschissen aus. Mag daran liegen, dass sie mir zuvor den Stoff weggenommen hatte und ich daraufhin alles zu Kleinholz verarbeitete. Scherben von der Lampe, die auf dem Nachttisch stand, liegen verteilt auf dem Teppichboden. Der kleine Spiegel an der Wand ist zerbrochen. Scherben sollen ja angeblich Glück bringen. Ich stehe auf, mit dem Vorhaben, tatsächlich etwas aufzuräumen. Doch stattdessen nehme ich lieber die leere Vodkaflasche in die Hand und werfe sie schreiend gegen die weiße Holztür, die mein Zimmer vom Wohnungsflur trennt. Sie zerspringt in viele kleine und große Scherben, die anschließend auf dem versifften Teppich landen. Ich hasse alles. Die Welt, meine Mitmenschen, aber am meisten hasse ich mich selbst.

Ein Gefühl der Befriedigung macht sich in mir breit, doch dieser Moment dauert nicht lange an. Das veranlasst mich dazu, gegen das kleine schon instabile Regal zu treten, sodass es umfällt und mit einem lauten Krachen auf dem Boden landet. Gerade, als ich erneut aushole, um das Regal mit Tritten auseinanderzunehmen, ertönt die Klingel in unserer Wohnung, was mich in meiner Bewegung innehalten lässt. Daraufhin nähern sich meiner Zimmertür Schritte, doch niemand betritt den Raum. Stattdessen entfernt sich die Person wieder.

Gedämpft dringen Stimmen zu mir durch. Eine von ihnen kann ich meiner Mutter zuordnen. Ich gehe zur Tür und drücke mein Ohr dran, um etwas verstehen zu können.
"Ziehen Sie gefälligst die Leine Ihres Kindes enger!" Das muss einer der Nachbarn sein. Missratenes Pack! So perfektionistisch und scheinheilig. Als würden sie in einer perfekten Familie leben.
"Ich bitte Sie um Entschuldigung, der Junge ist doch in der Pubertät." Meine Mutter versucht kläglich, mich vor den Schlappschwänzen zu verteidigen. Dass ich nicht lache!
"Das ist doch keine Entschuldigung! Unsere Kinder waren auch einst in der Pubertät und haben sich niemals so benommen! Entweder Sie bekommen ihren Bengel in den Griff oder wir schalten Polizei und Jugendamt ein!"

Das reicht mir, um die Tür gewaltvoll aufzureißen und in den Flur zu stürmen. Schützend baue ich mich vor meiner schwachen Mutter auf.
"Das Einzige, was Sie jetzt tun, ist folgendes: sich zu verpissen!", brülle ich den Alten Sack vor mir an. Eine Ader wird auf seiner Stirn sichtbar und sein Gesicht läuft rot an. Noch bevor er etwas erwidern kann, spucke ich ihm vor die Füße und knalle die Tür zu. Dann drehe ich mich zu meiner Mutter.
"Genau, greif doch mal durch bei deinem missratenen Balg!", belle ich ihr ins Gesicht und remple sie beim Gehen mit der Schulter an.

"So sprichst du nicht mehr mit mir!" Sie packt mein Handgelenk und umklammert es mit ihren kalten Fingern. Ein Schauer jagt mir den Rücken runter.
"Ach ja? Willst du jetzt wirklich dem nachkommen, was der alte Penner dir gerade gesagt hat? Wie erbärmlich!" Ich entreiße ihr meinen Arm und bringe sie dadurch leicht ins Schwanken.
"Bleib stehen, wenn ich mit dir rede!" Sie kocht vor Wut und wird immer lauter. Beinahe schreit sie mich an. Ich stehe mit dem Rücken zu ihr und lasse den Blick gelangweilt durch den dunklen Flur gleiten.

Überall liegen leere Bierdosen und Weinflaschen. Die Kommode gegenüber der Küchentür ist voll gestellt mit hässlicher Deko, die bald unter dem Müll begraben wird. Auf dem Boden sind braune Flecken zu sehen und die Wände sind vergilbt. Es ist mir vollkommen egal, was meine Mutter mir sagen will oder dass sie plötzlich versucht, autoritär zu sein. Ihre Autorität hat sie schon lange abgestellt. Genau an dem Punkt, als sie regelmäßig Alkohol zu konsumieren begann. Da verlor ich jeglichen Respekt vor ihr.

"Du wirst aufhören mit der ganzen Scheiße hier." Meine Mutter klingt, als würde sie mich mahnen wollen.
"Du warst seit einem halben Jahr nicht mehr in der Schule, du verspielst dein Leben, wenn du so weiter machst, verstehst du das nicht?!" Jetzt schreit sie. Schrill wie eine Furie. Es fehlt nur noch, dass sie wütend mit dem Fuß aufstampft, um ihrem Wutausbruch Ausdruck zu verleihen.
"Du hast mir gar nichts mehr zu sagen, Mutter!" Das letzte Wort betone ich mit allem Hass, den ich nur aufbringen kann. Dann drehe ich mich zu ihr um und schaue ihr fest in die matten grünen Augen.

"Weißt du was? Du kannst mich mal am Arsch lecken! Es ist einzig und alleine deine Schuld, nur deine, dass es uns, nein mir so schlecht geht! Denk mal darüber nach!" Diesmal schubse ich sie mit voller Kraft nach hinten, sodass sie ins Wanken gerät. Reflexartig breitet sie die Arme aus, um Halt zu finden und reißt dabei die kleine, hässliche, blaue Vase von der Anrichte. Ich verziehe keine Miene als das grässlich gefärbte Porzellan mit einem stechenden Klirren auf dem Boden zerspringt.
Ich hätte sie auffangen können, wenn ich gewollt hätte.

 Meine Mutter sitzt nun direkt neben dem Scherbenhaufen, die Augen vor Schock geweitet. Mit genügend Wille und Geduld könnte man sich die Mühe mache, die Scherben aufzusammeln, sich dabei die Finger aufschneiden und schließlich alles wieder zusammenzukleben. Doch diese Mühe würde es nicht wert sein, sie wird eh nie wieder wie früher sein.
Wahrscheinlich werden irgendwelche kleinen Splitter in einer Ritze gelandet sein und sind somit für immer verloren.

Ich gehe an ihr vorbei, den Blick geradeaus in die dunkle Ecke am Ende des Flurs gerichtet. Im Augenwinkel kann ich erkennen, wie sie zitternd ihre linke Hand hebt. Blut tropft auf den Boden und vermischt sich mit den anderen Flecken auf dem widerlichen Teppich.
"Guck dich doch an, du verlangst von mir, mich zu ändern, säufst aber selber den ganzen Tag. Du bist so erbärmlich!"
Ich schaue sie an, Tränen füllen ihre einst so strahlenden Augen, als sie ihre Hand betrachtet. "Geh doch zu deinem Scheißpenner, der dich immer durchgefickt hat, nachdem er mich geschlagen hat! Er wird dich sicher trösten." Bitterkeit und Sarkasmus schwingen in meinen Worten mit, ebenso wie meine ganze angestaute Wut. Ich hasse alles in meinem beschissenen  Leben und daran ist alleine meine Mutter Schuld!                                                                                                               

Zuletzt spucke ich neben ihr auf den Boden und schließe mich in meinem Zimmer ein, die Musik bis auf Anschlag gedreht. Don't Go von Bring me the Horizon dringt in meine Ohren: We all have our horrors and our demons to fight, but how can I win when I'm paralyzed? They crawl up on my bed, wrap their fingers round my throat. Is this what I get for the choices that I made? Ich unterdrücke derweil einen Schrei aus Wut und Verzweiflung.

Hätte ich ein Gewissen oder gar ein kleines Bisschen Empathie, würde ich jetzt wieder zu meiner Mutter raus in den Flur gehen, ihr aufhelfen und ihr behilflich sein, die Schnittwunde an ihrer Hand zu versorgen. Aber so bin ich nicht. Etwas wie Mitgefühl habe ich nicht. Mir ist das alles vollkommen egal. Alle können mich mal am Arsch lecken, besonders die Frau, die sich meine Mutter schimpft. Das Leben, das sie mir einst geschenkt hatte, zerstörte sie binnen weniger Wochen, machte es zur Hölle. Es ist eine Hölle, aus der es kein Entkommen gibt. Was auch immer ich versuche, ich bleibe im ewigen Kreislauf der Qualen gefangen.

Was ist nur aus mir geworden?

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