Kleiner Zwischenfall

In den folgenden zwei Stunden nach der Gruppensitzung bin ich durch die endlosen Gänge geirrt, hab mein Zimmer gesucht, doch nicht gefunden. Bin Menschen begegnet, die mir verwirrte Blicke zuwarfen, andere schauten mich spöttisch an. Ihre Blicke kleben noch immer auf meiner Haut, fühlen sich unerträglich schmutzig an. Irgendwann wurde ich von Timo gefunden, der wieder einmal versuchte, mit mir in Kontakt zu treten, doch ich blockte ab, beleidigte ihn und schmiss ihm blind Vorwürfe an den Kopf. Was genau er darauf erwidert hat oder was ich ihm an den Kopf schmiss, weiß ich schon gar nicht mehr, sondern nur, dass er mich in den Musikraum begleitete und anschließend wieder verschwand.

"Hallo Mika, schön, dass du hier bist." Ein Mann mit Glatze lächelt mich an und legt ein Blatt vor mir auf den Tisch, bevor er weitergeht und dasselbe bei meinen Sitznachbarn macht. Als ich mich nach links drehe, sehe ich den Blonden wieder. Er sieht mich argwöhnisch und doch interessiert an. Schnell wende ich den Blick ab und starre auf das Blatt vor mir. Es ist ein Notenblatt, das gefühlt alle vorhandenen Noten zeigt, die es gibt. "Wir fangen heute mit dem Seemannslied Drunken Sailer an", verkündet der Glatzkopf vorne. Mehr als eine Augenbraue hochzuziehen bringe ich nicht zustande. Braucht man dafür wirklich Noten? Bei den vielen Punkten und Strichen beginnt mein Kopf wieder an zu pochen. Doch es fühlt sich nicht so an, als würde mir jemand mit einem Lastwagen über den Schädel fahren. Nein, diesmal könnte mir jemand bei vollem Bewusstsein die  Gedärme herausreißen und ich würde es nicht merken. "Alles in Ordnung, Neuling?" Jemand tippt mich an der rechten Schulter an, die Stelle beginnt zu brennen. Ein loderndes Feuer mit blauer Flamme verbrennt meine Haut. Schicht für Schicht. "Lass den, der will nur Aufmerksamkeit!", ruft jemand aus den Reihen vor mir. Ich halte mir die Schläfen, während ich versuche, die Stimmen um mich herum auszublenden. Es missglückt mir. Nichtmal das Zukneifen meiner Augen lässt die Stimmen aus meinem Kopf verschwinden.

"Wach auf." Ein Flüstern dringt in mein Ohr. Es ist eine Kinderstimme."Du musst aufwachen." Die Stimme kommt von weit her. "Wach auf!" Ich schrecke hoch, mein Herz pulsiert schnell. Zu schnell, als gesund sein sollte. Jeder Schlag jagt Schmerzen in meinen Brustkorb, es zerreißt mich beinahe von innen heraus. Panisch reiße ich die Augen auf, sehe mich um. Versuche, mich zu fokussieren, mich daran zu erinnern, was mein letzter Psychologe zu mir sagte. Konzentriere dich auf deine Umgebung. Seine Stimme hallt in meinem Kopf wider. Was hörst du?  Lachen, ich höre sie lachen. Gut, was hörst du noch? Ein Ticken, es kommt von der Wanduhr. Zähl die Schläge bis 60. In meinen Gedanken fordert er mich dazu auf, ich zähle. Eins. Zwei. Drei. Immer weiter, bis mein Atem sich beruhigt. Und nochmal! Ich zähle wieder. Mein Herzschlag normalisiert sich allmählich. Kurz schließe ich die Augen, atme tief durch. Einmal, zweimal.
Als ich sie wieder öffne, starren mich alle in dem Raum an. Viele Augen, die mich anstarren. Sie bohren sich unter meine Haut. Ihnen ausgesetzt fühle ich mich nackt, möchte meinen Körper verdecken, will meine Wunden und Narben verdecken. Niemand darf das Scheusal sehen, das sich auf meinem Körper befindet! Sie werden Fragen stellen, mich nicht in Ruhe lassen und alles wissen wollen. Doch es geht sie nichts an, sie sollen sich um ihr eigenes Leben kümmern. "Geht es wieder?" Der Blondschopf zu meiner Linken, dessen Namen ich längst wieder vergessen habe, beäugt mich besorgt. Ich schnaube nur. "Was interessiert dich das?", blaffe ich in an und wende meinen Blick wieder dem Notenblatt zu. Doch die Blicke enden nicht, sie schauen mich noch immer an. "Was glotzt ihr so?!" Es macht mich aggressiv, all die neugierigen Menschen um mich herum zu haben. "Kümmert euch um euren eigenen Scheiß!"

Ich kann absolut keine Noten lesen, ich konnte es noch nie, wollte es nicht können. "Da du kein Instrument spielen kannst, wirst du erst mal alles auf deinem Notenblatt mitverfolgen." Ich hebe den Blick, als sich ein Schatten über den Tisch vor mir legt. Ich nicke und starre wieder vor mich. Mein fehlendes Interesse an Noten sorgt dafür, dass ich in meinen Gedanken das Lied mitsinge.

What will we do with a drunken sailor?
What will we do with a drunken sailor?
What will we do with a drunken sailor?
Early in the morning

Es weckt Erinnerungen in mir. Schöne wie Traurige.

Shave his belly with a rusty razor
Shave his belly with a rusty razor
Shave his belly with a rusty razor
Early in the morning

Tränen brennen in meinen Augen.

Put him in a long boat till he's sober
Put him in a long boat till he's sober
Put him in a long boat till he's sober
Early in the morning

Es war sein Lieblingslied, wir haben es immer zusammen gesungen, gelacht und uns in den Armen gelegen. Nichts konnte uns in diesen Momenten trennen, wenn wir uns diesem Song hingaben, sangen, durch das kleine Zimmer tanzten. Wir waren unbeschwert. Vor meinem inneren Auge ziehen Erinnerungen an ihn vorbei. Wie er lacht, sich in meine Arme schmeißt. Ich höre, wie er mich abends darum bittet, noch einmal das Lied mit ihm zu singen. Eines Tages werde ich auch Matrose auf einem Piratenschiff! Ich hatte immer geschmunzelt, ihm gesagt, dass er alles werden könne, das er möchte. Ich las ihm aus Büchern vor, weil er nicht schlafen konnte. Zu dritt lagen wir in meinem kleinen Bett, haben darüber gesprochen, welchen Beruf wir später mal lernen möchten. Er wollte immer Pirat werden. Ich sagte ihm nie, dass es keine Piraten oder Vikinger mehr gibt, dass sie mittlerweile nur noch Legenden der Vergangenheit sind, denn ich wollte ihm seinen Traum nicht zerstören. Wir redeten so lange, bis Papa uns für die Nacht trennte, jeder hatte sein eigenes Zimmer, in dem er schlafen sollte. Wir wollten es nie, doch Papa war streng, legte Wert auf Disziplin und Tugend. Trotzdem liebte er uns mehr als sein eigenes Leben, das sagte er uns tagtäglich. 

Ich merke, wie sich eine Träne aus meinem linken Augenwinkel löst. Die Erinnerungen an meine Familie, als sie noch heile war, schmerzt. Sie erwecken eine gähnende Leere in meinem Herzen, eine Lücke so tief wie ein schwarzes Loch. Kein Licht dringt hindurch, es entweicht nicht. Das Loch verschlingt alles, gibt nichts mehr her und jeglich Eingedrungenes bleibt auf ewig verloren.

Die letzten Töne von Drunken Sailer verklingen und kurz darauf kehrt eine erdrückende Stille ein. "Heute möchte ich mit euch über die Bedeutung von Musik sprechen." Hellhörig hebe ich meinen Kopf und sehe den Glatzköpfigen an. Ist er wohl Psychologe oder lediglich ein Lehrer? "Elias, was bedeutet Musik für dich?" Der Blonde neben mir beginnt zu sprechen: "Musik heißt Rhythmus und Taktgefühl. Sie verleitet zum Tanzen." Ich sehe den Jungen an. Hat er tatsächlich eine solch beschränkte Auffassung, was Musik bedeutet oder tut er nur so? "Also empfindest du Musik als Anleitung für Bewegung und Spaß?" Ich kann nicht fassen, dass der Mann auch noch darauf anspringt. "Was empfindest du bei Musik, Mika?" Mein Kopf schnellt herum, überrascht, dass ich angesprochen werde. "Gefühle", antworte ich schlicht. "Kannst du das ein wenig ausführen?" Ich verdrehe die Augen. Scheinbar sind die hier auf den Kopf gefallen. "Musik drückt Gefühle aus und wir verbinden bestimmte Lieder mit bestimmten Lebensabschnitten", erläutere ich gereizt. "Das ist ein schöner Punkt, den du da nennst. Empfindet es noch jemand so wie Mika?" Er wendet sich an die Gruppe, doch niemand sagt etwas oder bewegt sich. Langsam überkommt mich das Gefühl von Vollidioten umgeben zu sein.

"Wer glaubt denn so einen Mist?" Mein Kopf schnellt zur Seite, wütend funkle ich meinen blonden Sitznachbarn an. "Deine Schaukel stand früher scheinbar zu nah an der Hauswand oder?" Mir reicht es langsam mit dem Zwerg. "Spinnst du, was bildest du dir ein?" Er steht auf, schubst seinen Stuhl dabei um. "Deiner Ansicht nach zu urteilen stand sie sogar beidseitig zu nah dran." Auch ich stehe auf, überrage ihn um mindestens einen Kopf. "Das reicht!" Ich zucke zusammen. Der Leiter dieser Gruppe hat seinen Blätterstapel, den er gerade noch in der Hand hielt, auf den Tisch vor sich geworfen. Mit einem lauten Knall kollidiert der Stapel mit dem Holztisch. Es hallt unerträglich lärmend in meinen Ohren wider, sorgt dafür, dass sie zu schmerzen beginnen. Ich halte mir meine Ohren mit den flachen Händen zu, kneife die Augen zusammen, doch es klingt nicht ab. Gedämpft höre ich meinen neuen Zimmernachbarn sagen. "Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen mit deinem Aufmerksamkeitsdefizit. Oder wieso willst du so viel Beachtung von allen haben?" Wütend reiße ich die Augen auf, trete energische einen Schritt nach vorne und packe den Jungen am Kragen. Ich hätte ihm gerne jeden seiner Knochen gebrochen, sein Schreien dabei gehört. Ich will ihn leiden sehen. Er soll für das leiden, das er gesagt hat. Keine Entschuldigung, lediglich seine Qual. "Was weißt du schon von mir, du Zwerg? Kümmre dich um deinen eigenen Scheiß, bevor du dir ein Bild von mir machst!"
"Lass mich los, du Psycho!" Er versucht, sich aus meinem Griff zu befreien, doch in diesem Moment bin ich wie ein Dackel, der den Dachs in dessen Bau nicht mehr loslässt, wenn er ihn gepackt hat. Wenn dieser Hund loslässt, ist das sein sicherer Tod. Ich habe mich in dem Blonden verbissen.

"Auseinander!" Die Stimmen der anderen dringen wie in Watte zu mir durch, ich nehme sie kaum wahr, zu sehr konzentriere ich mich auf meinen Gegner, den ich mit eisernem Griff festhalte. "Du bist ein Psychopath, sieh dich doch an! Mit dir ist doch nicht mehr alles richtig, du brauchst entweder Hilfe oder solltest dich am besten direkt umbringen!" Seine Worte treffen mich mehr, als sie sollten. Blind vor Wut hole ich aus, schlage ihm ins Gesicht. Ein kleiner Funke der Befriedigung keimt in mir auf, doch es reicht nicht. Ich schlage ihn ein weiteres mal, so lange, bis er ins Wanken kommt. In diesem Moment ist mein Kopf wie leergefegt. Keine Gedanken an die möglichen Folgen, kein Gedanke an Juli oder meinen Papa. In meinem Kopf befindet sich rein gar nichts. Mein Körper fühlt sich betäubt an, ich spüre nicht einmal die Schmerzen meines gebrochenen Arms, mit dem ich den Jungen vor mir festgehalten habe und nun auf ihn einschlage. Ich fühle mich wie in Trance, nichts dringt zu mir durch. Nicht einmal die Nässe seines Blutes auf meiner Haut.

Jemand packt mich am linken Arm, reißt mich von dem Blonden weg. Ich hole aus, wehre mich gegen den Griff und treffe den Magen desjenigen. Noch jemand packt mich am rechten Arm, doch diesmal werde ich festgehalten, die Arme hinter meinem Rücken verdreht. Ich trete um mich, stoße einen Schrei aus Wut aus. Im nächsten Moment spüre ich einen stechenden Schmerz oberhalb meiner Hüfte. Jeder einzelne Muskel meines Körpers zuckt wild, meine Arme verkrampfen, die Beine geben nach. Kurz darauf merke ich den Aufprall meines Körpers auf dem Boden. Etwas blitzt vor meinen Augen blau auf, als ich versuche zu atmen, ringe nach Luft. Meine Lider fühlen sich schwer an, sie wollen zufallen. Doch mein Instinkt sagt mir, dass ich es nicht tun darf. Ich darf dem Impuls nicht nachgeben. Meine Gliedmaßen zucken im Takt meines Herzschlages. Gleichzeitig überkommt mich eine Welle der Eiseskälte, sie scheint mich zu umringen. Als wolle sie mich gefangen halten.

Bewegen kann ich mich nicht, langsam schwindet auch meine Kraft. Ich bekomme alles um mich herum nur am Rande mit. Sie heben mich hoch, tragen mich weg, die langen Gänge entlang und bringen mich in einen kalten Raum. Ich werde auf kalte Fliesen abgelegt und spüre lediglich die Müdigkeit über mich hereinbrechen, der ich mich hingeben muss, auch wenn ich es nicht will. Ich will dagegen ankämpfen, wach bleiben und wissen, was mit mir passiert. Doch schließlich gleite ich weit weg. Weg von diesem Ort, weg von den Schmerzen bis hin zu meiner Familie, zu meinem Papa. Er hat die Arme ausgestreckt, lacht und fängt mich auf, als ich auf ihn zurenne und nicht mehr stoppen kann. Er hält mich fest, sein Griff um mich ist fest und er drückt mir einen Kuss auf den Haaransatz. Ich grinse ihn breit an, fasse nach seiner Hand, nehme sie in meine und ziehe ihn aus dem Garten in das Haus, möchte mit ihm auf dem Sofa sitzen und seinen Geschichten von Früher lauschen.

Ich vermisse ihn!

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