Das Eis bricht
Song: Lorna Shore: Pain Remains I: Dancing like Flames
Mika
Valerian hat mich aus dem Bett gezerrt und ein blaues Auge davongetragen. Als er gemeint hat, mich anfassen zu müssen, hab ich ihm mit der in Gips gewickelten Hand ins Gesicht geschlagen und dummerweise sein Auge getroffen. Ich finde, er ist selbst schuld.
Der Weg durch die endlos langen Gänge kommt mir jeden Tag aufs Neue unendlich vor. Vor dem Musikraum angekommen, will ich gerade kehrt machen, als ich in den Therapeuten rein laufe, der scheinbar direkt hinter uns gewesen sein muss. Scheiße! "Schön, dass du auch wieder teilnimmst, Mika." Er legt beim Lächeln den Kopf schief und schließt die Augen. Ekelhaft.
Ich unterdrücke einen Würgen. Auch wenn ich ihm zu gerne auf die weißen Crocs kotzen möchte, allerdings bin ich es satt, ständig Schmerzen und Krämpfe zu haben.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit geschlossenen Augen einmal tief durchzuatmen und mich dann schließlich genervt umzudrehen.
"Komm, ist doch gar nicht so schlimm!" Valerian ist im Begriff, mir seine Hand auf die Schulter zu legen, doch hält ganz kurz inne. Ich wäre doch sehr verblüfft, wenn er vergessen hätte, was vorhin passiert ist. Schief grinsend zieht er seine Hand wieder zurück und lässt sie dann zur Seite hinabsinken. Ich gebe ihm keine Antwort, sondern gehe einfach an ihm vorbei.
Nach kurzem Umsehen im Raum nehme ich den freien Platz an der linken Tischreihe. Meine Wahl beinhaltet weit weg von allen zu sein. Und trotzdem muss dieser blonde Penner-Zwerg sich direkt neben mich setzen! Wut entflammt in meinem Magen. Schnell sehe ich nach links und betrachte die löchrige, weiß gestrichene Wand. Bestimmt hingen dort einmal hässliche Poster.
Vorne räuspert sich der Therapeut, um unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. "Deine Aufmerksamkeit hätte ich auch gerne, Mika", richtet er sich direkt an mich. "Nen Scheiß bekommen Sie!", antworte ich ihm schon fast patzig. Ich höre nur ein Seufzen von vorne.
Alle tun immer so, als sei ich freiwillig hier.
Ich fange an, die Löcher in der Wand zu zählen. Sowohl kleine als auch jene, die ausgebrochen sind. Als ich beim zweiundvierzigsten Loch angekommen bin, tippt mir jemand auf die rechte Schulter und unterbricht mein wichtiges Unterfangen, alle Schäden in der Wand zu erfassen. Mein Blick gleitet langsam nach rechts und ich sehe in die blauen Augen von Möchtegern-Justin Bieber. Einen Augenblick erwidere ich seinen Blick genervt, bevor ich ihn kurzerhand von seinem Stuhl schubse. Er versucht noch vergebens sich an meinem Pullover festzuhalten, doch ich schlage direkt seine Hand weg. Er greift ins Leere und landet mit einem lauten Knall und verdutztem Gesichtsausdruck auf dem Gesicht auf dem Boden. Schockiert reißt er seine Augen auf. Der Anblick lässt mich kurz grinsen und komischerweise fühlt es sich nicht falsch an.
Ich kann nicht sagen, ob es daran liegt, dass der Zwerg mich tierisch nervt oder an etwas anderem, daher schiebe ich es auf die erste Option. Eigentlich möchte ich meinen Blick abwenden, doch es sieht zu gut aus, wie er da liegt. Es hat schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Schildkröte, die auf dem Rücken liegt.
Nach Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen reiße ich meinen Blick los und sehe nach vorne. Alle Aufmerksamkeit ist auf uns gerichtet. Sie alle schauen mich fassungslos an, selbst der Therapeut blinzelt mehrfach, als müsse er erst verstehen, was gerade passiert ist. Nur Valerian ist rot angelaufen und versucht in seinen aufgeblähten Wangen ein Lachen zurückzuhalten.
Lange kann er es nicht halten und bricht in Gelächter aus, haut mit der flachen Hand auf den Tisch vor sich und hält mit der anderen seinen Bauch. Es sieht aus, als wolle er etwas sagen, doch er bekommt kaum Luft vor lachen. Blondie steigt kurz darauf mit ein, bevor er sich am Tisch hochzieht und aufsteht. Ich merke, wie meine Mundwinkel zucken und sich in meinem Inneren etwas anbahnt. Ein Kribbeln im Unterbauch. Ich kenne das Gefühl. Vor Jahren habe ich es verloren. Damals, als Juli vor zwei Jahren leblos in meinem Arm lag, starb dieses Gefühl mit ihm.
Ich sollte mich freuen, dass es wieder da ist und es sich nicht fehl am Platz anfühlt und dennoch fühle ich mich schuldig. Meine Freude hat er mit in sein Grab genommen, sie gehörte schon immer nur ihm. Er war der Grund für meine Lebhaftigkeit.
Am Rande bekomme ich mit, wie ein kleines, leeres Blatt vor mir und da drauf ein Bleistift auf den Tisch gelegt wird.
Ohne einen Plan was genau ich damit machen soll, stehe ich auf und gehe zur Tür. Dabei bemerke ich die stechenden Blicke der anderen. "Wo willst du hin?", höre ich jemanden fragen, doch ich ignoriere es und drücke die Klinke nach unten.
Ich gehe ein paar Schritte den Gang entlang, bis sich rechts und links zwei weitere Wege befinden. Ich bin überfragt. Bis heute ist es ein Rätsel, von wem in meiner Familie ich diesen miserablen Orientierungssinn geerbt habe. Intuitiv schlage ich den linken Weg ein und streife durch die Gänge an der Treppe vorbei, bis ich hinter mir schnelle Schritte höre. "Mika, warte!" Ich kann es nicht erklären, doch ich bleibe stehen. Als Blondie mich eingeholt hat und neben mir zum Stehen kommt, bückt er seinen Oberkörper und stützt seine Hände auf seine Oberschenkel, währen er japsend Luft holt. Seine Haare sind durcheinander und auf seiner Stirn kann ich eine dezente Narbe erkennen, die sich vom Haaransatz seitlich zur Schläfe zieht. "Was willst du?", frage ich ihn ohne Rücksicht auf seine Luftnot zu nehmen. Zur Antwort hebt er nur dem rechten Zeigefinger.
Ich drehe mich um und setze meinen Weg fort. "Wo gehst du hin?"
"Ich kundschafte aus, wo ich nervige Leute aufknüpfen kann", entgegne ich ihm schulterzuckend. "Du machst Witze!" Er hat zu mir aufgeschlossen und klingt danach, dass er sich erholt hat und kein Sauerstoffzelt mehr benötigt. "Oder?", setzt er ungläubig hinten dran. "Ich suche den Weg zur Chefetage", antworte ich ihm in der Hoffnung, dass er ablässt. Langsam komme ich mir vor wie Shrek und Blondie ist mein Esel.
"Dann musst du umdrehen. Die befindet sich eine Etage über uns und an der großen Treppe bist du blind vorbeigelaufen." Ich sag ja, mein scheiß Orientierungssinn!
Wortlos drehe ich mich um und gehe den ganzen Weg zurück. Kurz schließe ich genervt die Augen und unterdrücke einen Seufzer. "Ich wusste gar nicht, dass du auch lächeln kannst." Blondie folgt mir immer noch. "Ich hätte nicht gedacht, dass du eine Klette bist", gebe ich zurück. Auch wenn er mir bezüglich des Weges eine Hilfe ist, ist seine Gegenwart nicht förderlich. Ich will keine Freude spüren, das habe ich nicht verdient.
Nach einigen vielen Stufen der massiven Treppe nach oben, komme ich vor den Büros der Therapeuten stehen. Geradeaus vor mir befindet sich Timos, mein Herz klopft mir zum Halse. "Was willst du hier eigentlich?" Ich verdrehe die Augen. "Hat man dir nicht beigebracht, dass man nicht alles wissen muss?" Damit trete ich an die Tür, klopfe einmal und warte nervös auf das "Herein!" von dahinter.
Ich drücke mit zitternden Fingern die Klinke nach unten und öffne die Tür. Als ich eintrete, schließe ich sie hinter mir wieder.
Timo sitzt mit hochgezogenen Augenbrauen hinter seinem dunkelbraunen Schreibtisch, das Kinn auf den linken Handrücken abgelegt, in der rechten Hand einen schwarzen Kugelschreiber. Bevor ich etwas sage, drehe ich mich wieder um und lege meine Hand auf die Klinke. Es war eine beschissene Idee, hier her zu kommen. Und dennoch hat es mich hierher gezogen. Also lasse ich meine Hand wieder sinken. "Wie geht es deinem Arm, Mika?"
"Besser", murmle ich mit gesenktem Kopf, doch er scheint mich gehört zu haben. "Das ist schön." Ich kann hören, wie er lächelt.
Ich drehe mich langsam um und mein Blick bleibt bei dem aufgebauten Schachspiel hängen. Es besteht aus Holz, die Figuren von Hand geschnitzt. Tränen brennen in meinen Augen. "Woher hast du das?" Flüsternd höre ich mich diese Frage stellen. "Das hat man mir zugesendet. Ein anonymer Absender." Er steht auf und stellt sich neben mich.
"Möchtest du es haben? Natürlich erst, wenn du genesen meine Einrichtung verlässt." Als ich ihn ansehe verschwimmt meine Sicht und weitere Tränen brennen in meinen Augen. In meinem Bauch macht sich der altbekannte Schmerz breit.
Ich bekomme kein Wort raus, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Eigentlich hasse ich ihn doch.
"Ich möchte, dass du es bekommst. Wahrscheinlich hast du sonst keine Andenken an deinen Vater." Ich nicke. Diese Figuren hat er geschnitzt als ich sechs war. Wir saßen abends am Lagerfeuer, als er sich einen Holzscheit aus dem Holzschuppen geholt und zu schnitzen begonnen hat.
"Er wurde überfahren", kommt es aus mir heraus. "Direkt vor unserer Haustür." Meine Stimme bricht. Ich merke einen Arm auf meiner Schulter liegen. Doch diesmal habe ich nicht das Verlangen, ihn loszuwerden. "Juli und ich haben gewartet, dass er heim kommt." Tränen brechen aus meinen Augen und rollen meine Wangen runter. "Er... er war fast bei uns... dieses Auto..." Ein starker Schluchzer durchzuckt meinen ganzen Körper, mein Magen krampft zusammen. Meine Knie drohen nachzugeben, daher kralle ich mich an Timo fest. "Man hat ihn einfach von hinten überfahren!" Es ist das erste mal in sieben Jahren, dass ich es laut aussprechen. Nicht einmal Noah habe ich es erzählt.
Ich drehe mich zu Timo und kralle beide Hände in sein Sweatshirt, als er seine Arme um mich legt und mich an sich drückt.
Ich bette meinen Kopf auf seiner Schulter und weine. Die Tränen fließen unaufhörlich, Schluchzer lassen meinen Körper zucken und beben. Kälte übermannt mich und sorgt dafür, dass ich mit den Zähnen klappere.
Ich kann nicht sagen, wie lange wir dort schon so stehen, als er flüstert: "Das tut mir so unglaublich leid." Ich blicke auf und sehe sein tränennasses Gesicht. Zum ersten mal glaube ich ihm. In diesen vier Wochen, die ich nun hier bin und die Timo versucht hat, Kontakt zu mir herzustellen, habe ich ihm kein Wort geglaubt.
Er lotst mich zu dem kleinen grünen Sofa an der gegenüberliegenden Wand und deutet mir, mich zu setzen. Er selbst nimmt gegenüber auf einem gleichfarbigen Sessel platz. Ich schlinge meinen Arm um mich. Mir ist kalt.
Timo reicht mir eine blaue Wolldecke, die ich mir direkt um die Schultern lege. "Danke." Als Antwort lächelt er nur und legt eine Packung Taschentücher vor mich auf den Glastisch.
"Ich muss mich bedanken, Mika. Zwar würde ich wirklich gerne wissen, wieso du zu mir gekommen bist, in erster Linie bin ich aber froh drüber." Jetzt bin ich es der lächelt. "Keine Ahnung. Ich hatte den Drang dazu."
Lange sitze ich auf diesem Sofa und dämmre vor mich hin während Timo einfach auf seinem Sessel sitzt und in einem Buch über Pinguine blättert.
Irgendwann wird es dunkel draußen, weshalb Timo die kleine Fernbedienung vom Tisch nimmt und eine Knopf drückt. Daraufhin erhellt sich der Raum. Er schaut auf seine Uhr am linken Handgelenk. "Schon nach acht",stellt er erstaunt fest. "Ich schätze, das Abendessen muss ich jetzt leider sausen lassen", gebe ich sarkastisch von mir. "Es ist besser, wenn du das nicht jeden Tag tun würdest", ermahnt er mich. "Wenn du neue Köche einstellst, denke ich drüber nach." Damit streife ich mir die Decke vom den Schultern und stehe auf. Auf Timos Gesicht sehe ich ein Schmunzeln. "Ich finde das Essen gar nicht mal so übel." Er streicht sich mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn. Fassungslos sehe ich ihn an. "Ich hätte nicht gedacht, dass du schon mal Verdautes gerne isst." Damit drehe ich mich zur Tür.
Ich spiele mit dem Gedanken wieder zu kommen.
"Gute Nacht, Mika", höre ich, als ich die Tür öffne. "Nacht", antworte ich und trete auf den dunklen Flur. Augenblicklich geht das Licht durch den Bewegungssensor an. Mein Blick fällt auf den blonden Haarschopf gegenüber auf einem der Stühle. Er sitzt im Schneidersitz und hat seinen Kopf mit der Wange auf seine rechte Hand abgelegt. Der Mund steht dabei offen und ich bin mir sicher, dass er schläft. Ich gehe auf ihn zu und klopfe ihm einmal auf die Schulter. Er zuckt zusammen und gibt ein Grunzen von sich.
"Wo bin ich?"
"In einer Klapse", antworte ich ihm und wende mich zum Gehen. Ich weiß ganz genau, dass er aufspringen und mir folgen wird.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top