13th

Ehrlich gesagt hatte ich es noch nie verstanden, warum die meisten Menschen es als langweilig erachteten, sich irgendwo hinzusetzen und andere Leute zu beobachten. Als Kind hatte ich kaum etwas anderes getan. Es war verblüffend, wie viel man durch bloßes Beobachten von dem Leben anderer erfahren konnte. Man konnte häufig sehen, in welcher Branche die Vorbeigehenden arbeiteten, ob sie Kinder hatten, in welcher Beziehung sie zu denjenigen standen, die sie begleiteten, oder einfach nur wie sie sich in diesem Moment fühlten. Als ich älter wurde, hatte ich mich oft gefragt, ob irgendjemand vielleicht mich genauso musterte wie ich es bei anderen tat. Ob mir jemand ansehen konnte, dass ich keine Freunde hatte, dass ich innerlich genauso krank war wie mein Vater und meine Mutter die Existenz ihrer eigenen Tochter versuchte zu ignorieren. Konnte jemand sehen wie kaputt ich war? Das war es, was mich häufig beschäftigte. Und als Luzifer in mein Leben trat, war mir irgendwie bewusst, dass er zumindest jemand war, der mich wenigstens ein Mal angesehen und sich gefragt hatte, was für ein Mensch ich war. Und welches Leben ich wohl leben würde. 

Aus Gründen, die ich nicht ganz verstand, gingen mir diese Gedanken durch den Kopf, während ich starr auf der Couch saß und nicht mal bemerkte wie mein Blick langsam zu einer Schublade des Wohnzimmerschrankes glitt. In meinem Kopf tauchte das Bild vor mir selbst auf wie ich noch vor wenigen Jahren in diesem Moment aufgestanden wäre, um hinüber zu gehen. Einfach weil ich es gehasst hatte, alleine zu sein. Denn ich war fast immer allein. Und es gab nichts, was ich mehr gehasst hatte, als den Fakt, dass mich jemand interessant fand. Mein Leben interessant fand. Interesse hieß nämlich nichts Gutes. Meistens war es nur eine Verlängerung, eine Steigerung der vorherigen Situation gewesen. Deshalb hätte ich die Schublade geöffnet und dann ganz langsam meine Hand von dem Griff gelöst, um zu dem Besteck im Inneren zu greifen. Immer hatte ich gewusst wie ich es machen, welches Messer ich nehmen müsste. Als wäre es ein mir ureigener Instinkt, so etwas zu wissen. 

Das Messer wäre klein gewesen, vermutlich eins der Sorte, die mein Vater immer benutzt hatte, um sein noch blutiges Rindfleisch Steak zu schneiden. Er hatte immerzu behauptet, man bräuchte ein scharfes Messer dafür, weil es eine Schande wäre, so etwas köstliches zu zerpflücken. Ich hätte es in die linke Hand genommen, meinen rechten Ärmel hoch geschoben und ganz leicht und sanft die Klinge auf meine Haut aufgesetzt, ohne diese zu verletzen. Allein das Gefühl, die Kühle des Metalls auf einen Teil meines Körpers zu spüren, war für mich bereits der Schritt gewesen, der einen Abbruch unmöglich machte. Dieses Gefühl, nur eine kleine Bewegung machen zu müssen, um sein eigenes Blut, sein Leben, zu sehen, war berauschend gewesen. Oftmals berauschender als alles andere. Und nie hatte ich es geschafft, das Messer zurück zu legen, ohne die rote Flüssigkeit aus meinen Körper entweichen zu sehen. Es hatte mich beruhigt. So unendlich beruhigt. 

Erst als ich eine Berührung an meinem linken Handgelenk spürte, bemerkte ich, dass ich, ohne es zu bemerken, die Handlung, die sich in meinen Gedanken abspielte, unbewusst auch in der Realität vollzogen hatte. Ich fühlte das Gewicht eines Messers in meiner Hand, spürte an meinem eigenen Körper die Klinge auf meiner Haut. Und den schraubstockartigen Griff um mein Handgelenk. >Was tust du da?!< Seine zischende, von Wut zerfressende Stimme ließ mich meinen Kopf heben, bis ich ihm in die grünen Augen sehen konnte. 

>Ich weiß es nicht< Er schien mit meiner Antwort alles andere als zufrieden zu sein, doch es stimmte. Ich wusste nicht, wann ich aufgestanden und mir das Messer genommen hatte. Ich wusste nicht wie es auf meinem Arm gelandet war. Es war als hätte irgendwer mich ausgeknockt, meinen Körper übernommen und diesen das alles machen lassen. Aber das konnte nicht sein. Ich musste es selbst getan haben. So viel war mir klar. 

>Gib mir das Messer< Er legte seine Hand über meine und wartete darauf, dass ich den Griff des Messers losließ. Ich zögerte. >Gib mir jetzt sofort das Messer, Angel!< Seinen bedrohlichen Unterton nahm ich sehr wohl wahr, dennoch rang ich mit mir selbst, ob ich seiner Aufforderung nachkommen sollte. Es wäre so einfach gewesen. Ich hätte lediglich meinen rechten Arm nach oben pressen müssen, der Klinge entgegen. Sie würde durch die Haut hindurch sofort die Hauptschlagader treffen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich das getan hätte. Die Frage war nur, ob das Blut schnell genug meinen Körper verlassen würde, bevor Luzifer etwas zur Erhaltung meines Lebens unternehmen konnte. Vermutlich nicht. Das war der Ausschlag dafür, dass ich meinen Griff lockerte, sodass Luzifer mir mit einer schnellen Bewegung das Messer abnehmen konnte. Ich hörte das leise Aufschlagen des Metalls auf den Wohnzimmerteppich, bevor ich an den Schultern herum gerissen wurde. 

Vermutlich hätte ich in diesem Moment Angst haben müssen. Luzifers Blick war mehr als nur mörderisch. Doch mit Sicherheit wäre ich nicht einmal ängstlich geworden, wenn ich sowas wie Angst überhaupt noch spüren hätte können. Dafür konnte ich zu sehr seine Enttäuschung und seine Sorge erkennen. >Ich dachte, damit hättest du aufgehört. Du hast versprochen, keinen neuen Versuch zu unternehmen< Vorwurf schwang in seiner Stimme mit. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Immerhin hatte er ja recht. Ich hatte versprochen, nein geschworen, mir selbst nie wieder ein Leid zuzufügen, solange unser Vertrag bestand. Seit nun fast zwei Jahren hatte ich nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, mir ein Messer zu nehmen und mein Leben damit zu beenden. Blieb also die Frage, warum ich ausgerechnet jetzt kurz davor gewesen war, genau das zu tun. 


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