Kapitel 14 - Schwankungen
Der Wind wehte mir durch meine offenen braunen Wellen, ich konnte das Salz in der Luft riechen. Ich lehnte mich gegen die Reling, während das Boot über das Wasser fuhr, dabei leicht hin und her schaukelte. Selten hatte ich mich freier gefühlt, als in diesem Moment. Ich war alleine hier, nur ich und die Natur. Okay, innerhalb des Bootes selbst befanden sich ca. 50 weitere Hochzeitsgäste, mein Ex und seine Verlobte und mein Mitbewohner, für den ich wohl scheinbar doch immer noch mehr empfand, als ich mir eingestehen wollte.
Adrian hatte ursprünglich auch mit aufs Deck kommen wollen, aber ich hatte ihm erklärt, dass ich einen Moment allein brauchte. Wahrscheinlich saß er jetzt irgendwo im Salon, gefangen zwischen einem Glas Champagner und dem unermüdlichen Gespräch zweier älterer Damen, bei denen ich ihn zurückgelassen hatte. Es tat mir fast leid, ihn so sitzen zu lassen, aber ich brauchte einfach diesen Augenblick. Diese Abgeschiedenheit.
Noah hatte sich sofort auf Amber konzentriert; seit wir abgelegt hatten, schienen ihre Münder förmlich miteinander verschmolzen zu sein. Ein Teil von mir wollte nicht ständig zusehen müssen, wie sie so mühelos Nähe und Intimität teilten—etwas, das ich jahrelang verloren geglaubt hatte. Also war ich wohl die Einzige gewesen, die sich mutig (oder vielleicht leicht verrückt) genug fühlte, hinaus in die Kälte zu flüchten. Die Gischt vermischte sich mit dem feinen Regen, der mir ins Gesicht schlug und mir jede Frisur ruiniert hatte. Mein Pony klebte bereits feucht an meiner Stirn, aber das war mir egal. In dieser rauen Frische, unter dem trüben Himmel, fühlte ich mich freier als je zuvor.
Manchmal vergaß ich in London, wie befreiend und wohltuend diese Art von Stille sein konnte. In Cornwall aufgewachsen, war ich die weiten Landschaften, das Rauschen des Meeres und die stillen, dämmernden Abende gewöhnt gewesen. Es hatte mir immer Trost gespendet, dieser Duft von Salz und Freiheit in der Luft.
Doch irgendwann war die Stille zu laut geworden; meine Gedanken hatten begonnen, sich darin zu vervielfachen, unerbittlich lauter zu werden, bis die kleinen Dinge nicht mehr ausreichten, um mich zu beruhigen. Ich war nach London gegangen, dorthin, wo das Leben niemals innehielt, wo immer etwas passierte und die Stadt nie wirklich zur Ruhe kam. Doch jetzt hier, mit nichts als den Wellen und der weiten, grauen See, erinnerte ich mich daran, dass diese Stille – diese echte, lebendige Stille – auch Heilung bedeuten konnte.
Ich atmete tief ein, spürte, wie die kalte, salzige Luft meine Lungen erfüllte und sich meine Gedanken für einen Moment ordneten. Langsam schwenkte ich meinen Tee in der Tasse und spürte die angenehme Wärme gegen meine kalten Finger. Mein Blick wanderte über die schroffen Klippen, die mit jeder Sekunde ein Stück weiter in die Ferne rückten. Die Felsen waren vom Wind gezeichnet, zerklüftet und schroff, aber auch in ihrem wilden Charakter seltsam beruhigend.
Es war ein Bild, das ich noch aus meiner Kindheit kannte, und es erfüllte mich mit einem bittersüßen Gefühl von Zuhause und einem Hauch von Abschied.
"Ist es nicht kalt?"
Die Stimme holte mich aus meiner Gedankenwelt zurück und riss die wohltuende Stille entzwei, die ich bis dahin im Alleinsein genossen hatte. Ich drehte mich um und entdeckte Becca, die mich mit einem freundlichen Lächeln begrüßte. Sie zog sich gerade ihren dicken, braunen Schal fester um den Hals, während sie sich an die Reling stellte und zu mir trat.
"Ich dachte, ich bin die Einzige, die verrückt genug ist, in dieser Kälte hier draußen zu stehen," sagte sie leise mit eine Grinsen und blickte hinaus aufs Wasser.
„Die Zwiebel-Taktik hält mich warm", scherzte ich. Becca folgte meinem Blick über die Klippen.
„Fast wie in Cornwall", meinte sie mit einem sanften Lächeln, und ich nickte, während ich an meinem heißen Tee nippte.
„Als ich dorthin gezogen bin, war alles neu für mich. Die weite Natur, die stille Abgeschiedenheit", erklärte sie, und ihre Augen nahmen einen fernen Ausdruck an, als ob sie zu Erinnerungen zurückwanderte.
„Vermisst du London manchmal?", fragte ich, während mein Blick auf meinen Händen ruhte, die die Tasse fest umklammerten.
„Oft", gab sie lachend zu, „und besonders, wenn es um einen guten Friseursalon geht."
„Oh Gott, ja!", lachte ich zustimmend.
„Die Friseure in Cornwall haben die Jahrhundertwende nicht miterlebt", fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Allein dafür würde ich nach London fahren", erwiderte ich lächelnd.
„Vielleicht mache ich das mal", meinte sie, und drehte sich mir zu. „Dann zeigst du mir deinen Lieblingsfriseur." Ihre Augen funkelten warm, und ihre Lachfältchen traten sanft hervor.
„Sehr gern", sagte ich und spürte, wie mir das Herz ein wenig leichter wurde.
Becca's Blick richtete sich wieder auf die Klippen, und ihre Miene wurde etwas ernster. „Vermisst du Cornwall manchmal?", fragte sie dann leise.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. „Manchmal", flüsterte ich schließlich. „Aber ich glaube, das, was ich vermisse, ist nur ein Trugbild von dem, was ich mir immer erhofft hatte."
Sie nickte, als ob sie die Worte nachvollziehen konnte, und legte behutsam ihre Hand auf meinen Arm. „Deine Mum schlägt sich gut", sagte sie dann leise.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Worte fielen mir nicht ein, also blieb ich stumm.
„Ich weiß, dass es für dich das Richtige war, wegzugehen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es auch für mich so schwer sein würde. Du warst wie eine Tochter für uns", fügte sie hinzu, und ihre Augen begannen zu glänzen. Auch meine wurden feucht, als ich ihren Blick erwiderte.
„Ich habe euch sehr vermisst", hauchte ich schließlich und blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an.
Becca atmete zitternd ein und schüttelte sanft den Kopf. „Ich hatte wirklich gehofft, dass Noah es wenigstens versuchen würde", seufzte sie leise.
„Wir waren noch so jung", entgegnete ich, während ich einen Anflug von Schutz für ihn verspürte.
„Ja, das stimmt", murmelte sie und schmunzelte nun. Dann legte sie den Arm um mich und drückte mich sanft an sich. „Ich hoffe, du weißt, dass wir immer für dich da sind. Auch wenn es mit dir und Noah nicht geklappt hat. Ich wollte dich anrufen nach der Trennung, aber es fühlte sich nicht richtig an. Doch jetzt, wo du hier bist, will ich, dass du das weißt – unsere Tür steht immer für dich offen."
„Danke, Becca", flüsterte ich, während mir heiße Tränen über die Wangen liefen. Ich ließ mich in ihre Umarmung sinken, und sie strich mir behutsam über den Rücken.
Sie ließ mich los und strich mir sanft über die Wange, ehe sie sich mit einem Lächeln wieder abwandte. „Es wird kalt hier draußen, bleib nicht zu lange", sagte sie fürsorglich und wandte sich wieder dem Innenraum des Bootes zu. Ich lächelte ihr nach und spürte, wie mein Herz von Wärme durchflutet wurde.
Ich blieb noch eine ganze Weile draußen, genoss das sanfte Rauschen der Wellen, das beruhigend gegen das Boot schlug. Der salzige Wind spielte mit meinen Haaren, und ich atmete tief die frische Meeresluft ein. Die Gedanken an die Tränen, die ich gerade verdrückt hatte, schoben sich in den Hintergrund, und ich sorgte dafür, dass man mir nicht mehr ansah, was ich gefühlt hatte.
„Ich weiß, du wolltest alleine sein—"
Adrian trat neben mich und lehnte sich entspannt an die Reling, während er seine Arme verschränkte und mich mit einem Lächeln anschaute.
„Allein mit dir klingt auch gut", sagte ich grinsend und wackelte spielerisch mit den Augenbrauen.
„Gut, denn ich konnte mir wirklich nicht mehr die Probleme von Tante Elenors Hüfte anhören", lachte er und ließ den Kopf in den Nacken fallen.
„Oh, ist es so schlimm?" fragte ich gespielt besorgt.
„Sie wird wohl dieses Wochenende das zweite Mal operiert. Scheinbar hat der Doktor gar keine Ahnung", zitierte er und rollte dabei die Augen.
„Verstehe." Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich seine Übertreibungen genoss.
„Es ist schön hier draußen", sagte er dann, und seine Miene wurde ernster, während er mich mit seinen grünen Augen anschaute.
„Ja, das ist es", stimmte ich ihm flüsternd zu und hielt seinen Blick fest. Ich bemerkte, dass wir uns näher gekommen waren, so nahe, dass ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte, während wir uns an die Reling lehnten.
Seine Augen, tiefgrün und voller Intensität, wanderten für einen Moment auf meine Lippen, und ich musste schlucken. Ein Knistern lag in der Luft, das meinen ganzen Körper durchströmte. Mein Herz schlug schneller, und ich fragte mich, ob er das auch spürte. Die Nähe zwischen uns war fast greifbar. Wir kamen uns langsam immer näher.
„Hey! Hier draußen seid ihr!" Noahs Stimme riss uns abrupt aus diesem Moment, und wir zogen uns hastig voneinander zurück.
„Oh, ich wollte euch nicht stören. Ich wollte mit Elly sprechen", sagte er beiläufig und sah uns an.
Meine Wangen wurden warm.
„Alles gut", winkte Adrian ab, seine Stimme klang dabei jedoch leicht genervt, was mich aufhorchen ließ.
Noah lächelte schief und schaute zu mir. Ich zog meinen dunkelbraunen Mantel ein wenig enger, als eine kalte Brise über das Deck wehte.
„Ich geh wieder rein", brummte Adrian und ließ mich alleine mit Noah stehen. Besorgt schaute ich ihm nach, während er sich entfernte.
„Hey, konntest du dich befreien?", fragte ich scherzend, um die angespannte Stimmung aufzulockern.
Noah rollte gespielt theatralisch die Augen.
„Okay, okay, du hast ja Recht", sagte er, ohne dass ich ausgesprochen hatte, dass das vielleicht ein wenig viel gewesen war.
„Ich freue mich für dich, ehrlich", meinte ich dann ernst. Sein Gesicht wurde ebenfalls ernst, und er blickte aufs Meer hinaus, bevor er tief einatmete. Seine Kiefermuskeln mahlten, als würde er einen inneren Kampf führen.
„Ich wünschte, ich könnte das auch für dich", murmelte er und vergrub seine Hände in den Hosentaschen.
„Was meinst du?", fragte ich verwirrt lächelnd und zog die Augenbrauen zusammen.
„Ach, vergiss es", sagte er dann abwinkend und lachte.
"Nein, sag ruhig", beharrte ich weiter und trat auf ihn zu. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um zu ihm hochzuschauen. Seine blauen Augen trafen meinen.
"Ich", er haderte damit, die richtigen Worte zu finden, "ich weiß bloß nicht, ob er gut genug für dich ist."
Ich hob meine Augenbrauen.
"Gut genug? Meine Güte, Noah. Nicht gut genug?", sagte ich dann lachend und kopfschüttelnd.
"Wenn jemand nicht gut genug für den anderen ist, dann bin ich das wohl für Adrian", stellte ich direkt richtig.
"Ihr seid zusammen und doch hab ich das Gefühl, dass er dich gar nicht wirklich begehrt", sagte er dann.
"Begehrt? Sollen wir etwa so rumknutschen, wie du und Charlize Theron dahinten?", fragte ich.
Er wirkte angespannt und fuhr sich durch die Haare.
"Er begehrt dich nicht so wie...", stockte er, während er mich durchdringend anschaute.
"Wie?", fragte ich verwirrt und verschränkte meine Arme vor der Brust. Er schwieg, schaute mich bloß intensiv aus seinen blauen Augen heraus an.
"Ich glaube, du solltest besser wieder rein gehen", murmelte ich dann kopfschüttelnd.
"Ja, ja das sollte ich", stimmte er mir murmelnd zu und ging zerstreut wieder hinein. Mein Blick folgte ihm und ich sah bloß, wie Amber mit verschränkten Armen am Fenster stand und mich böse anfunkelte, ehe sie zu Noah lief. Ich seufzte.
Von wegen Ruhe und Frieden, dachte ich frustriert.
Die Bootsfahrt verlief nicht weiter spannend. Das was draußen geschehen war, konnte wohl ohnehin nicht übertroffen werden. Und das obwohl wir Seerobben sahen.
Adrian ging mir aus dem Weg, er schaffte es tatsächlich, auf so kleinem Raum stets nicht dort zu sein, wo ich mich gerade befand. Noah und Amber waren seitdem, was auf dem Deck geschehen war, nicht mehr zu sehen. Daher saß ich die restliche Bootsfahrt zwischen Tante Elenor und Tante Holly, die sich immer noch über ihre Hüften und Knien beklagten. Meinen Tee hatte ich mittlerweile gegen Wein getauscht, den ich in großen Schlucken leer trank.
Umso glücklicher war ich, als das Boot wieder anlegte. Mir war übel, was wohl mehrere Gründe haben konnte – zu viel Wein, eine wilde See oder emotionale Gespräche. So oder so, war ich froh wieder Boden unter meinen Füßen zu haben. Auf dem Weg ins Hotel mit dem Taxi, welches nicht allzu weit entfernt war, schwiegen Adrian und ich uns an. Ich fragte mich, ob er bloß nicht über den Beinahe-Kuss reden wollte, oder ob er wieder böse auf mich war. Ich schielte zu ihm rüber, er schaute aus dem Fenster.
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