60

Pov Mina

Ich schloss die Tür zu Juliens Wohnung auf und trat hinter ihm in den Flur. Die Wohnung war mir nicht völlig fremd, doch bei meinem letzten Besuch war ich selbst so neben der Spur gewesen, dass ich kaum etwas wahrgenommen hatte. Jetzt fiel mir auf, wie aufgeräumt und strukturiert alles wirkte, ganz anders als Julien selbst gerade. 

Ich ließ die Tür leise ins Schloss fallen, und in der gleichen Sekunde hörte ich ein dumpfes Geräusch. Ich drehte mich um und sah, wie Julien plötzlich zu Boden sackte. 
„Oh Gott, Ju!“ rief ich erschrocken und war im nächsten Moment bei ihm. Er lag reglos da, sein Gesicht blass, die Augen geschlossen. 

„Hey, Ju!“ Ich kniete mich neben ihn und rüttelte vorsichtig an seinen Schultern. Seine Lider flatterten, ein schwacher Hauch von Bewusstsein blitzte auf, nur um gleich wieder zu verschwinden. Panik stieg in mir auf, doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben. „Julien, komm schon!“ 

Ich rutschte zu seinen Füßen und hob sie an, damit sein Kreislauf in Schwung kam. „Julien, wach auf!“ flehte ich, meine Stimme bebend. Langsam begann er, die Augen zu öffnen, sein Blick glasig und verwirrt. 

„Was…?“ Er versuchte sich aufzurichten, doch ich legte eine Hand auf seine Schulter und hielt ihn sanft zurück. 
„Stopp. Bleib noch einen Moment liegen“, sagte ich bestimmt. Zu meiner Erleichterung gehorchte er. 

„Was ist passiert?“ murmelte er schwach. 
„Du bist umgekippt“, erklärte ich und beobachtete ihn genau. „Soll ich einen Arzt rufen?“ 

„Nein.“ Die Antwort kam schnell und entschieden, zu schnell. 

„Ju, was ist los? Erst der Anruf mitten in der Nacht, jetzt das…“ Meine Stimme war voller Sorge, und als ich ihm schließlich half, langsam aufzustehen, sah ich, wie sehr es ihn anstrengte. Seine Beine schienen unter ihm nachzugeben, doch ich hielt ihn fest und führte ihn zum Bett. 

Er ließ sich auf die Bettkante fallen, und ich begann, ihm die Jacke auszuziehen. „Scheinbar haben wir die Rollen getauscht“, murmelte er schwach, ein Hauch von einem Lächeln auf seinen Lippen. Er spielte auf die Nacht an, in der ich betrunken und hilflos hier gelegen hatte. 

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, was los ist“, sagte ich und betrachtete das klatschnasse Shirt, das an seiner Haut klebte. Sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, als hätte er Probleme, Luft zu bekommen. Ohne zu zögern ging ich zu seinem Kleiderschrank und zog ein frisches Shirt heraus. 

„Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen“, begann Julien schließlich, doch seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Das macht mein Körper manchmal, wenn der Stress zu viel wird… oder wenn ich nicht genug schlafe.“ 

Ich schüttelte den Kopf, während ich das Shirt in den Händen hielt. „Ju, dein Körper bekämpft sich selbst, weil du ihn quälst.“ Ich trat wieder vor ihn, griff nach dem Saum seines Shirts und zog es hoch. 

„Was wird das?“ fragte er und runzelte die Stirn, doch ich ließ mich nicht beirren. 
„Du musst das ausziehen. Sonst erkältest du dich noch“, sagte ich entschlossen und zog das nasse Shirt über seinen Kopf. Darunter war seine Haut warm, fast heiß, mit Schweißperlen übersät. 

„Warte hier“, murmelte ich, verschwand im Bad und kam mit einem feuchten Handtuch zurück. Ohne zu fragen begann ich, den Schweiß von seinem Rücken, den Schultern und schließlich seiner Brust wegzuwischen. 

„Ich fürchte, das hätte eine Wirkung auf mich, die du nicht erzielen wolltest“, murmelte Julien plötzlich mit einem schwachen Grinsen und nahm mir das Handtuch aus der Hand. Seine Finger zitterten leicht, doch er wischte seine Brust selbst ab, während ich versuchte, meinen Blick abzuwenden, um meine Fassung zu bewahren. 

„Ich hol dir ein frisches Glas Wasser“, sagte ich schließlich und verschwand in die Küche. Als ich zurückkam, lag Julien bereits im Bett, seine Augen halb geschlossen. Ich reichte ihm das Glas. „Brauchst du noch etwas?“ 

Er nahm einen Schluck, stellte das Glas auf den Nachttisch und sah mich an. Sein Blick war müde, erschöpft. „Kannst du dich zu mir legen?“ Seine Stimme war leise, fast schüchtern, als hätte er Angst, mich zu vertreiben. 

„Wenn du mir versprichst, künftig auf deinen Körper zu hören. Das ist echt kein Spaß, Ju. Du bist zusammengebrochen!“ Ich schob die Decke zurück und legte mich neben ihn, sah dabei an die Decke. 

„Das Gespräch habe ich schon mit so vielen Leuten geführt, Mina“, seufzte er und rutschte näher zu mir. Bevor ich reagieren konnte, legte er einen Arm um meinen Bauch, legte seinen Kopf auf meine Brust und zog mich fest an sich. 

„Dann nimm es dir doch endlich zu Herzen“, flüsterte ich ruhig, spürte, wie er zitterte. 

„Können wir bitte aufhören, darüber zu reden?“ nuschelte Julien, seine Stimme schwach. Sein Atem wurde langsamer, gleichmäßiger, während seine Hitze spürbar blieb. 

Ich bemerkte, dass Gänsehaut seine Arme bedeckte, also griff ich nach der Decke und zog sie über uns beide. Julien rührte sich nicht, hielt mich nur fest, als wäre ich der einzige Halt, den er gerade finden konnte. Ich legte eine Hand auf seinen Rücken und wartete, bis sich seine Anspannung langsam löste.

Gedankenverloren strich meine Hand durch Juliens Haare, die sich überraschend weich anfühlten. Die einzelnen Strähnen glitten unter meinen Fingerkuppen hindurch, und die beruhigende Bewegung schien auch ihn zu entspannen. Ein leises Brummen drang aus seiner Kehle, fast wie ein zufriedenes Schnurren. 

Trotz der Ruhe, die er ausstrahlte, war sein Körper noch immer in Aufruhr. In seinem Nacken sammelten sich wieder kleine Schweißperlen, die im Licht schimmerten. Meine Hand glitt weiter durch seine Haare, eine einfache Geste, die ihn zu beruhigen schien – oder vielleicht auch nur mich. 

Sein gleichmäßiger Atem begann, meine eigene Müdigkeit hervorzurufen. Ich gähnte leise und fühlte, wie die Anspannung der letzten Stunden nachließ. Der Schlaf, den ich durch seinen Anruf in der Nacht verloren hatte, holte mich langsam ein. 

Trotzdem ließen mich meine Gedanken nicht los. Ich sah ihn an, wie er da lag, fest an mich geklammert, als wäre ich das Einzige, was ihn gerade hielt. Schon in Kitzbühel hatte Julien mir angedeutet, wie wenig Zeit er für sich hatte. Sein Terminkalender war unbarmherzig, und während seines Praktikums hatte ich selbst miterlebt, wie sehr er sich für seine Arbeit aufopferte. Alles schien sich um Projekte, Deadlines und seine Perfektion zu drehen. Sein Körper rebellierte, aber er ignorierte die Warnsignale konsequent. 

Schließlich glitt ich selbst in den Schlaf. 

Als ich aufwachte, bemerkte ich, dass sich nicht viel verändert hatte. Julien hielt mich noch immer fest an sich gedrückt, sein Atem war tief und gleichmäßig – er schien endlich wirklich zu schlafen. Vorsichtig versuchte ich, mich aus seinem Griff zu lösen, und es gelang mir, ohne ihn zu wecken. 

Ich stand auf, richtete die Decke über ihm und ging leise ins Wohnzimmer. Dort ließ ich mich aufs Sofa sinken und griff nach meinem Handy. 

Kaum hatte ich es entsperrt, ploppte eine Nachricht auf. 
„Wie geht’s ihm?“ stand da. Die Nachricht kam von Shawn – er hatte seine Nummer bei mir eingespeichert, als er vorhin die Adresse von Julien eintippte. 

Ich seufzte leise und begann, eine Antwort zu tippen: 

„Er schläft endlich, denke das hilft. Er war im Flur bewusstlos geworden, aber meinte, er bräuchte keinen Arzt?! Passiert das öfter, dass es ihm so geht? Er rief letzte Nacht an, meinte, ihn würden irgendwelche Träume plagen und er könne nicht schlafen.“

Ich hielt kurz inne, bevor ich die Nachricht abschickte, und las sie noch einmal durch. Es fühlte sich seltsam an, Shawn diese Sorgen anzuvertrauen, aber wer kannte Julien besser als er? 

Die Antwort kam schneller, als ich erwartet hatte. 

„Ja, passiert leider öfter. Er hört nicht auf seinen Körper. Ich hab ihn in letzter Zeit öfter so erlebt. Vielleicht kannst du ihn überreden, mal einen Gang runterzuschalten? Ju hört eher auf dich als auf mich. Und wenn ich Mui, unserer Mom bescheid sage, redet er wieder Wochenlang nicht mit mir“

Ich las die Nachricht und seufzte erneut. Julien auf mich hören? Es war schwer vorstellbar, dass er sich von irgendwem sagen ließ, was gut für ihn war. Trotzdem konnte ich nicht anders, als es zumindest zu versuchen. 

Für einen Moment ließ ich das Handy sinken und sah mich im Wohnzimmer um. Die Wohnung war ordentlich, fast steril, und sie spiegelte die Fassade wider, die Julien so gerne aufrechterhielt. Nach außen war er der Perfektionist, der alles im Griff hatte. Aber hier, in dieser stillen Wohnung, war er einfach nur ein Mensch, der gegen seinen eigenen Körper kämpfte und sich immer weiter verausgabte. 

Ich drückte das Handy an meine Brust, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Was konnte ich tun, um ihm zu helfen?

Julien hatte sich in den zwei Stunden, die ich bei ihm geblieben war, nicht gerührt. Sein Schlaf schien tief, aber auch rastlos, wie ein Kampf um Erholung. Ich entschied mich kurz ein paar Sachen von zu Hause zu holen.

Unsicher blickte ich auf seinen schlafenden Körper. Hatte ich überhaupt das Recht, mich hier so einzumischen? Noch vor Kurzem hatte ich mich beschwert, dass wir die professionelle Distanz nicht wahren konnten. Jetzt saß ich in seiner Wohnung, plante, über Nacht zu bleiben, und hatte das Gefühl, dass er ohne mich verloren wäre. 

Schließlich griff ich zu einem Zettel, kritzelte ihm eine Nachricht: 
„Bin kurz weg, bin bald zurück. Leg dich wieder hin, falls du aufwachst.“

Ich nahm mir seine Autoschlüssel und fuhr los. 

In meiner Wohnung schnappte ich mir das Nötigste: eine bequeme Jogginghose, ein Shirt, mein Kulturbeutel. Schnell leerte ich den Briefkasten, schnappte die Briefe und steckte sie achtlos in meine Tasche. Ich würde sie später durchsehen. Jetzt wollte ich nur zurück. 

Als ich wieder bei Julien ankam, hatte sich nichts geändert. Er schlief noch immer in derselben Position, das Gesicht halb in das Kissen gedrückt. Ich fühlte kurz seine Stirn – immer noch warm, aber nicht mehr so fiebrig wie zuvor. Wenigstens das. 

Ein Blick in seinen Kühlschrank ließ mich seufzen. Wie konnte man so wenig in der Küche haben? Ein paar Bier, ein Glas Marmelade, ein halbes Stück Butter – das war es im Grunde. Scheinbar lebte Julien wirklich ausschließlich von To-go-Gerichten oder auswärts Essen. 

Ich ließ mich ins Wohnzimmer aufs Sofa fallen, legte meine Sachen zur Seite und zog die Briefe aus meiner Tasche. Rechnungen, Werbung, nichts Ungewöhnliches – bis mein Blick auf einen Umschlag fiel, bei dem ich schon anhand der Handschrift wusste, dass ich ihn nie öffnen würde. 

Er war von meinen Eltern. 

Mein Herz setzte kurz aus, und ich spürte, wie sich ein Knoten in meinem Magen bildete. Seit Monaten hatten wir keinen Kontakt mehr, und ich hatte auch kein Verlangen, das zu ändern. Jedes Mal, wenn ich etwas von ihnen hörte, brachte es nur Schuldgefühle, Streit oder alte Wunden mit sich. 

Der Umschlag schien mich zu verhöhnen, als wollte er sagen: Du kannst mich nicht ignorieren. Ich legte ihn zur Seite, schob ihn unter die anderen Briefe, als könnte ich ihn damit auch aus meinen Gedanken verdrängen. 

Doch selbst als ich den Fernseher einschaltete, um mich abzulenken, blieb mein Blick immer wieder an diesem einen Brief hängen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top