59
Die letzten Tage hatte ich krank im Bett verbracht. Die Klimaanlage im Zug hatte mich wohl komplett außer Gefecht gesetzt. Mein Kopf dröhnte, meine Nase war dicht, und ich fühlte mich elend. Wenigstens konnte ich so mal etwas Netflix nachholen, aber auch das verlor irgendwann seinen Reiz.
Als ich mich endlich besser fühlte, meldete ich mich bei Thomas und teilte ihm mit, dass ich am nächsten Tag wiederkommen würde. Den letzten freien Tag nutzte ich, um mich draußen an der frischen Luft zu erholen. Ich schlenderte über den Markt, kaufte frisches Obst und Gemüse und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen.
Abends kochte ich eine bunte Gemüsepfanne und schnitt das Obst klein, um es für den nächsten Tag mitzunehmen. Thomas hatte das Studio sofort klargemacht, um die fehlenden Szenen nachzudrehen. Krankheit brachte jeden Zeitplan durcheinander, und ich wollte alles so schnell wie möglich wieder ins Lot bringen.
Später kuschelte ich mich mit einem Buch ins Bett und las noch ein paar Seiten, bevor ich das Licht ausknipste. Es war still, und der Tag hatte mich angenehm müde gemacht. Doch irgendwann mitten in der Nacht riss mich ein vibrierendes Handy aus dem Schlaf.
Verschlafen tastete ich nach dem Gerät und nahm den Anruf entgegen. „Ja?" fragte ich mit rauer Stimme und gähnte.
Am anderen Ende der Leitung hörte ich jemanden atmen, aber keine Antwort kam. „Hallo?" Ich zog das Handy ein Stück vom Ohr weg, um auf das Display zu schauen, das mich mit seinem grellen Licht blendete.
„Ju?" fragte ich, als ich den Namen erkannte. Immer noch keine Antwort. „Hallo? Julien?"
Schließlich murmelte er: „Sorry, schlaf weiter."
Ich setzte mich auf, blinzelte gegen die Dunkelheit an und nahm einen Schluck Wasser, um den trockenen Geschmack aus meinem Mund zu spülen. „Warum rufst du mich mitten in der Nacht an?" fragte ich, als ich zurück ins Bett ging.
Pov Ju
Ich schloss die Augen und drehte mich auf den Rücken, das Handy fest ans Ohr gedrückt. „Ich bin aus dem Schlaf geschreckt und kann seitdem nicht mehr einschlafen," erklärte ich schließlich zögerlich.
Am anderen Ende hörte ich ein leises Klappern, dann das Rascheln einer Bettdecke. „Es war dumm, anzurufen," fügte ich hinzu und zog mein Bein an, um meinen Rücken zu entlasten.
„Was hat dich aus dem Schlaf schrecken lassen?" fragte Mina, ihre Stimme war so ruhig, dass sie fast sanft klang.
Ich starrte an die Decke und antwortete leise: „Die üblichen Träume."
Seit unserer Rückkehr aus Berlin war es schlimmer geworden. Die erste Nacht hatte ich kein Auge zugetan, und in der zweiten hatte ich schließlich zu den Tabletten gegriffen, die mir der Arzt verschrieben hatte. Die halfen zwar, mich durchschlafen zu lassen, aber ich war den nächsten Tag über wie betäubt.
„Was für Träume?" hakte Mina nach.
Ich seufzte und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. „Kannst du mir nicht irgendwas erzählen?" fragte ich stattdessen.
„Und was soll ich dir mitten in der Nacht erzählen? Ich war die letzten Tage krank und bin ehrlich gesagt müde," erwiderte sie mit einem leichten Lachen.
Ich ließ meine Hand auf meiner Brust ruhen und schloss die Augen. „Irgendwas, es ist völlig egal."
Ich wollte einfach ihrer Stimme lauschen, um die Stimmen in meinem Kopf loszuwerden, die mich nicht schlafen ließen. Mina zögerte einen Moment, bevor sie zu erzählen begann – irgendwas über ihren Tag, das Obst auf dem Markt, und wie sie das Bett kaum verlassen hatte. Es war unspektakulär, aber genau das, was ich brauchte.
Ihre Stimme war wie ein Anker, der mich zurück in die Realität zog.
Am Ende von Minas Filmgeschichte, die sie mir mitten in der Nacht erzählt hatte, fühlte ich mich tatsächlich etwas entspannter. Ich drehte mich auf die Seite und lauschte ihrer Stimme.
„Naja, und am Ende haben sie die dann von der Insel gerettet. Aber irgendwie klang der Film spannender, als er war," schloss sie ab.
„Danke, Mina," flüsterte ich.
„Geht's dir jetzt besser?" fragte sie sanft.
Ich lächelte schwach. „Ja, danke. Du solltest jetzt wirklich nochmal die Augen zumachen. In ein paar Stunden müssen wir im Studio stehen."
„Du aber auch," erwiderte sie mit ernstem Unterton.
„Mache ich," versprach ich, obwohl ich wusste, dass ich vermutlich keinen Schlaf mehr finden würde.
„Gute Nacht, Ju."
„Gute Nacht, Mina."
Als sie auflegte, ließ ich das Handy einfach neben mich fallen und schloss die Augen. Es war still, doch die Unruhe in mir ließ mich nicht los.
Der Morgen begann mit einem dumpfen Hämmern in meinem Kopf. Mein Nacken war so verspannt, dass ich mich kaum bewegen konnte, ohne dass ein stechender Schmerz mich zusammenzucken ließ. Noch bevor ich mich an den Frühstückstisch schleppen konnte, warf ich mir die erste Ibuprofen ein. Keine ideale Lösung, aber es war die einzige, die ich hatte.
Auf dem Weg zum Studio hielt ich an, um Shawn abzuholen. Er sprang ins Auto, grinste wie immer, als hätte er die Energie von zehn Menschen gepachtet.
„Sie ist nett", meinte er, als wir auf den Parkplatz rollten. Sein Blick fiel auf Thomas und Mina, die gerade das Equipment aus dem Auto holten.
Ich verzog keine Miene. „Warte ab, bis du ihr sagst, was sie tun soll", entgegnete ich trocken und parkte neben Thomas' Wagen.
Shawn lachte nur, sprang aus dem Auto und ging schnurstracks zu Mina, umarmte sie zur Begrüßung.
Wie selbstverständlich erwiderte sie die Geste. Ich beobachtete die Szene aus dem Auto heraus, mein Kopf gegen die Lehne gelehnt. Sie hatten zusammen einen Filmabend gehabt, das wusste ich, aber ich war dennoch überrascht, wie vertraut sie miteinander wirkten. Hatte Mina mich jemals so umarmt? Wahrscheinlich nicht. Aber gut, ich war ja auch eher der Typ, der sie auf die Palme brachte, statt sich um Nettigkeiten zu kümmern.
Das Studio, in dem wir drehten, war mir vertraut. Trotzdem fühlte ich mich heute fremd hier. Während Mina mit Minh Chau verschwand, um sich fertig machen zu lassen, suchte ich mir eine ruhige Ecke. Ich setzte mich auf einen der Tische und ließ meine Beine baumeln. Meine Energie war wie weggewischt, und das bisschen, das noch übrig war, hielt ich mit Gewalt zusammen.
„Alles okay?" Thomas' Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Ja, wieso?" fragte ich zurück, versuchte, beiläufig zu klingen.
„Weil du sitzt und nichts sagst", antwortete er skeptisch.
„Hab halt nichts zu tun. Ist ja nicht mein Projekt", zuckte ich mit den Schultern. Eine schwache Ausrede, das wusste ich. Ich saß nie einfach nur rum.
Es dauerte, bis alles eingerichtet war und Mina endlich bereit war, vor die Kamera zu treten. Shawn erklärte ihr geduldig, was sie machen sollte, während ich mich langsam vom Tisch schälte und näher trat. Mina kletterte auf den grünen Kasten in der Mitte des Greenscreens.
„Leg dich mal bitte mit dem Rücken drauf", forderte Shawn sie auf.
Ihre Position sah alles andere als bequem aus. Ich wusste das aus Erfahrung.
„Du musst gleich die Füße hochnehmen und so tun, als würdest du schweben", erklärte ich und ging die letzten Schritte zu ihr. „Rutsch am besten noch ein Stück runter. So hast du mehr Bewegungsfreiheit."
Mina gehorchte und sah mich dabei fragend an.
„Ja, so ist gut", sagte ich, streckte die Hand aus, um den Stoff ihres Pullovers zu richten. Dabei fiel mein Blick auf meine eigene Hand. Sie zitterte.
„Alles okay?" fragte Mina leise.
„Ja, alles gut", log ich und richtete mich hastig auf. Sie glaubte mir nicht, das sah ich in ihrem Blick. Trotzdem ließ sie es dabei und konzentrierte sich auf die Anweisungen.
"Gut dann probieren wir es" nickte Shawn und sah auf den Bildschirm. Mo kletterte auf die Leiter und richtete die Kamera auf Mina von oben.
"Dann bitte" rief mein Bruder.
Mina hob die Beine an und ruderte mit den Armen wie es jemand machen würde der fiel.
"Stop" rief ich und machte einen Schritt an den Bildschirm ran "Das Gesicht ist zu angestrengt, du bist erschrocken hast angst. Du fällst gerade einen Fahrschulschacht hinunter" erklärte ich und wich wieder zurück. Im gleichen Moment spürte ich ein leichtes Schwindelgefühl und schloss die Augen.
„Ju?", fragte Shawn und legte eine Hand auf meine Schulter.
Ich schüttelte sie ab. „Und bitte", rief ich stattdessen, zwang mich, den Fokus zu behalten.
Doch es half nichts. Der Schwindel nahm zu, und irgendwann ließ ich mich auf den Boden sinken. Mein Blick wanderte zu meiner zitternden Hand, und ich ballte sie zu einer Faust, als könnte ich das Zittern einfach so kontrollieren. Mina warf mir immer wieder besorgte Blicke zu, während Shawn schließlich vor mir hockte und mich eindringlich ansah.
„Fängt das wieder an?" Seine Stimme war leise, fast besorgt.
„Was?" fragte ich, obwohl ich genau wusste, wovon er sprach.
„Ju, ich schwöre, ich rufe Mui an, wenn du nicht auf deinen Körper hörst."
„Mir geht's gut", zischte ich. „Ein bisschen Schwindel, das vergeht wieder."
Shawn ließ sich nicht beirren. „Schwindel, deine Hand zittert, und ich wette, du frierst oder warum trägst du hier drinnen immer noch deine Winterjacke?" Er blinzelte mich an, wartete auf eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte.
Ohne Vorwarnung griff er mir in den Nacken, unter meine Jacke. „Alter, Ju, du bist pitschnass geschwitzt."
Ich schloss die Augen und rieb mir die Stirn, während Shawn aufstand. „Wir haben alles, was wir brauchen. Mina, kannst du ihn nach Hause fahren?"
„Was?" Ich hob ruckartig den Kopf. „Was soll ich zu Hause? Ich hab noch mit Joon und Josh..." Doch der Satz blieb mir im Hals stecken, als mein Magen sich umdrehte. Mir wurde schwarz vor Augen, und Shawn musste mich stützen, damit ich nicht umkippte.
"Genau deswegen" sagte er ernst.
„Klar fahr ich ihn", hörte ich Mina sagen.
Shawn griff in meine Jackentasche und warf Mina den Autoschlüssel zu. Er begleitete mich bis zu meinem Auto und vergewisserte sich, dass Mina den Weg zu meiner Wohnung kannte. Was sie nicht tat, also tippte er die Adresse in ihr Handy ein.
"Versprich mir das du ihn ins Bett verfrachtest, er muss sich ausruhen. Am liebsten wäre es mir, wenn du noch etwas da bleiben könntest" Shawn machte sich mal wieder viel zu viele Sorgen.
"Das kriegen wir schon hin und sonst schreib ich dir" versicherte Mina ihm.
"Nach meinem Termin komm ich rum, Ju"
"Soll das ein versprechen oder eine Drohung sein?" lachte ich bitter und lehnte den Kopf an die Halterung des Sitzes. Ich hatte immer noch das Gefühl mich jederzeit übergeben zu müssen.Mina warf mir einen merkwürdigen Blick zu, bevor sie los fuhr.
„Na komm, Ju." Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass wir in der Tiefgarage angekommen waren. Mina hatte die Tür geöffnet und half mir vorsichtig aus dem Auto. Der Boden fühlte sich wie Pudding an, und ich schwankte, während ich mich an der Autotür festhielt.
„Geht's?" fragte sie leise.
„Ja, übertreibt doch nicht alle", murmelte ich und machte einen Schritt. Mina griff wortlos nach meinem Arm und stützte mich.
Im Fahrstuhl schloss ich die Augen, während das Zittern durch meinen Körper zog. Als wir endlich in meiner Wohnung ankamen, fühlte ich den Boden unter meinen Füßen schwinden. Schwarz. Alles wurde schwarz.
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