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Rezo und Sofia waren gleich nach dem Frühstück aufgebrochen, um den Hof zu besuchen, über den sie am Vorabend gesprochen hatten. Mina und ich saßen noch am Frühstückstisch, während die Morgensonne durch die Fenster der kleinen Pension schien. Der Duft von Kaffee und frisch gebackenem Brot hing in der Luft, doch Mina schien davon wenig mitzubekommen. Sie stocherte gedankenverloren in ihrem Joghurt herum, als würde sie versuchen, darin Antworten zu finden.
„Das wird schon werden," sagte ich schließlich und versuchte, sie aufzumuntern. „Und bevor du dich versiehst, wirst du dich totlachen, weil ich mich ständig auf die Nase lege."
Mina hob ihren Blick und sah mich direkt an. Ihre Augen wirkten müde, fast ein bisschen verloren. „Ich hab einfach Angst," murmelte sie leise.
Ich legte die Gabel beiseite und musterte sie. „Wovor?" fragte ich ruhig, obwohl ich ihre Antwort eigentlich schon ahnte.
„Ich weiß es auch nicht," seufzte sie und stützte ihr Kinn in die Hand.
„Du bist ja nicht allein," erinnerte ich sie sanft.
Sie schwieg eine Weile und schob ihren Joghurt beiseite, bevor sie schließlich leise fragte: „Warum machst du das überhaupt?"
Ich lehnte mich zurück und grinste. „Um einmal zu wissen, wie es ist, dein Freund zu sein."
Ihre Augenbrauen hoben sich, und sie sah mich herausfordernd an. „Wenn du mich küsst, schlag ich dich."
Ich lachte und stand auf. „Ich werd's mir überlegen."
Sie schüttelte den Kopf und stand ebenfalls auf. „Hast du jemals mal etwas ohne Hintergedanken gemacht?"
„Aber erstmal," sagte ich und hob meine Jacke auf, „geht's jetzt zum Snowboardfahren."
Die Piste lag vor uns, eine glitzernde weiße Fläche, die im Sonnenlicht funkelte. Die Luft war kalt, aber klar, und man hörte das leise Knirschen des Schnees unter unseren Füßen. Mina schnallte sich routiniert ihr Snowboard an, während ich mich mit dem Ding abmühte, als hätte ich es noch nie gesehen.
„Das sieht bei dir schon nach Profi aus," sagte ich sarkastisch, als ich mich hinsetzte, um endlich die Bindungen zu schließen.
„Weißt du, das wird nicht besser, wenn du dich über mich lustig machst," konterte sie trocken und zog ihre Handschuhe fest.
„Ich mach mich doch über mich selbst lustig," antwortete ich und richtete mich auf. „Jetzt zeig mir mal, wie man das hier überhaupt macht."
Mina musterte mich kritisch und schüttelte dann den Kopf. „Okay, ich erklär dir die Basics. Aber wenn du dich verletzt, ist das nicht meine Schuld."
„Abgemacht," grinste ich.
Sie zeigte mir geduldig, wie ich das Gleichgewicht halten und die Kanten des Boards nutzen sollte, um zu bremsen. Doch als ich mich endlich den ersten kleinen Hang hinunter wagte, ging alles schief. Mein Gleichgewicht war nicht existent, und ich landete mehrmals unsanft auf dem Hintern.
„Das ist schlimmer als ich dachte!" rief ich lachend, während Mina den Kopf schüttelte und sich kaum das Lachen verkneifen konnte.
„Du bist hoffnungslos," sagte sie, als sie zu mir hinunterrutschte. „Aber wenigstens gibst du nicht auf."
Ich saß im Schnee und sah zu ihr hoch. „Natürlich nicht. Du bist doch meine Lehrerin. Wenn ich aufgebe, machst du mich fertig."
Sie lachte, und ihr Lachen war das Beste an diesem Tag. Es war echt, ungefiltert, und für einen Moment schien sie alles andere zu vergessen.
„Komm schon," sagte sie und reichte mir die Hand. „Ich zeig dir, wie man Kurven fährt, ohne sich hinzulegen."
„Deal." Ich ergriff ihre Hand und ließ mich von ihr hochziehen.
Es dauerte nicht lange, bis ich die ersten kleinen Fortschritte machte. Mina gab geduldig Tipps und half mir, wenn ich wieder im Schnee landete. Aber mit jedem Versuch wurde es besser, und irgendwann gelang mir tatsächlich eine Abfahrt, ohne mich komplett zum Affen zu machen.
„Siehst du?" rief ich stolz, als ich am Fuß des Hangs stehen blieb. „Ich bin ein Naturtalent!"
„Du bist gar nichts," konterte Mina grinsend, während sie elegant zu mir hinunterfuhr. „Aber für den Anfang ist es ganz okay."
Ich zog meine Schneebrille hoch und grinste sie an. „Wenn ich so weitermache, kann ich bald mit dir mithalten."
„Das will ich sehen," sagte sie und verschränkte die Arme.
Für einen Moment standen wir dort, mitten im Schnee, und sahen uns an. Es war, als würde die Welt um uns herum stillstehen.
„Danke," sagte sie schließlich leise.
„Wofür?"
„Für alles." Sie lächelte, und es war dieses besondere Lächeln, das mir immer wieder den Atem raubte.
„Kein Problem," antwortete ich, „aber ich glaube, du schuldest mir noch einen heißen Kakao. Ich bin durchgefroren."
Sie lachte leise. „Deal. Aber nur, wenn du morgen auf der Piste nicht wieder die halbe Strecke liegend zurücklegst."
„Keine Versprechen." Ich zog meine Brille wieder runter und grinste.
Wir schnallten unsere Boards ab und gingen zurück Richtung Talstation.
Den heißen Kakao hatten wir nicht mehr geschafft. Es war bereits kurz nach zwölf, als wir die Snowboards beim Verleih abgaben und uns auf den Weg zum Restaurant machten. Schon beim Betreten des Lokals wurde mir klar, dass dies einer dieser Orte war, an denen winzige Portionen zu horrenden Preisen serviert wurden. Es war definitiv kein Ort, an dem ich mich freiwillig länger aufhalten würde, aber das hier war nicht meine Entscheidung.
Ich griff nach Minas Hand, als wir unsere Skisachen einem Kellner überließen. Sie hielt meine Hand so fest, als sei ich der einzige Halt, der sie davon abhielt, umzukippen. Ihre Nervosität war spürbar, und ich drückte ihre Hand leicht, um ihr ein wenig Zuversicht zu geben.
Als wir auf einen der Tische zugingen, sah ich Astrid bereits sitzen. Neben ihr ein Mann, den ich sofort als Minas Vater erkannte. Astrid erhob sich mit einem Lächeln, das ich am Abend zuvor nicht erwartet hätte, und umarmte Mina überraschend herzlich.
„Wie schön, dass es bei euch geklappt hat," sagte sie und hielt mir daraufhin die Hand hin.
„Es freut mich auch," antwortete ich höflich und ergriff ihre Hand.
„Hallo, Mina," grüßte ihr Vater sie, allerdings ohne aufzustehen.
Mina räusperte sich leicht und stellte uns vor. „Das ist Julien ... mein Freund." Bei diesen Worten musste ich lächeln. Es klang so gut, sie das sagen zu hören. Ich könnte mich glatt daran gewöhnen. „Und das ist mein Vater, Kjell."
Ich reichte ihm die Hand, die er mit einem kräftigen Druck schüttelte. „Schön, Sie kennenzulernen."
„Immerhin hat er Anstand," brummte Kjell mit einer Stimme, die nichts von Wärme verriet. Netter Typ, dachte ich sarkastisch und setzte mich neben Mina.
„Deine Mutter sagte, ihr hättet euch bei der Arbeit kennengelernt?"
„Ja, genau," antwortete Mina zurückhaltend. „Julien hat mir die Chance gegeben, ein Praktikum bei ihm zu machen."
„Das kommt mir bekannt vor," sagte Astrid mit einem Lächeln, das die angespannte Stimmung etwas zu lockern schien. „Kjell und ich haben uns auch über die Arbeit kennengelernt."
„Nur warst du nicht meine Praktikantin," kommentierte Kjell trocken und lehnte sich zurück.
Astrid ignorierte seinen Ton und wandte sich an mich. „Erzählen Sie, Julien, wie ist es, in so jungen Jahren schon so erfolgreich zu sein?"
„Toll, auf jeden Fall," antwortete ich ehrlich. „Aber es geht auch mit einer hohen Verantwortung einher. Die Firmen hängen alle von mir ab. Wenn meine Performance nicht stimmt, leiden am Ende alle darunter. Ich habe Mina schon gesagt, dass ich gerade merke, wie sehr ich die letzten Jahre durchgearbeitet habe und wie wertvoll diese Auszeit hier ist."
Während ich sprach, bemerkte ich, wie Mina mich ansah. Es war ein Blick, der von Dankbarkeit und etwas Überraschung zeugte.
„Was für Firmen sollen das denn sein?" fragte Kjell und sah mir direkt in die Augen.
„Zum einen ist es ‚Julien Bam', unter dem mein Hauptkanal bei YouTube läuft – mit über sechs Millionen Abonnenten. Dort produzieren wir vor allem Kurzfilme. Außerdem bin ich als Creative Director in der Firma meines Bruders tätig und arbeite aktuell an der Gründung einer eigenen Modemarke."
Kjell nickte knapp, sein Blick blieb jedoch unverändert kritisch.
Astrid hingegen wirkte beeindruckt. „Kein Wunder, dass Sie so wenig Urlaub machen. Und wie geht es deiner Mitbewohnerin?"
Mina schien von der Frage überrascht. „Lana ist bei ihrer Familie in München über die Semesterferien."
Der Kellner kam und verteilte Suppen an uns, bevor er begann, Wein in die Gläser zu füllen. Als er bei Mina ankam, hob sie schnell die Hand. „Für mich nicht, danke."
Daraufhin ließ Kjell ein bitteres Lachen hören, das Mina sofort verstummen und ihren Blick auf den Tisch senken ließ.
Ich legte meine Hand auf ihre und sprach ruhig, aber bestimmt weiter. „Ich habe gestern bereits zu Ihrer Frau gesagt, dass Sie wirklich Glück haben, so eine talentierte Tochter zu haben. Mina hat gerade ein Marketingkonzept ausgearbeitet, von dem man nur träumen kann."
Astrid sah lächelnd auf unsere Hände, während Kjells Blick schwer auf mir lastete.
„Sie hätte ihr Talent damals sinnvoller nutzen können," sagte er schließlich, seine Stimme hart, „dann würde sie jetzt nicht mit so einem Möchtegern-Unternehmer wie dir hier sitzen."
Die Worte trafen hart, doch ich ließ sie einfach an mir abprallen. Jahre voller Hasskommentare unter meinen Videos hatten mich abgehärtet. Ich lächelte höflich und wandte mich demonstrativ an Mina.
„Das sehe ich anders," antwortete ich ruhig und hielt seinem stechenden Blick stand. „Mina hat aus ihren Fehlern gelernt, sowie wie wir es alle tun sollten. Sie hat Mut bewiesen, sich neu zu orientieren, und jetzt nutzt sie ihre Fähigkeiten auf eine Art und Weise, die sie glücklich macht. Ich finde, das ist viel wertvoller als alles andere."
Minas Hand unter meiner zitterte leicht. Ich drückte sie sanft, in der Hoffnung, ihr ein bisschen Sicherheit zu geben.
„Du kannst das ja gerne so sehen," knurrte Kjell.
„Es ist nicht leicht, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden" wandte ich ein und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. „Aber manchmal muss man Risiken eingehen, um wirklich herauszufinden, was einem wichtig ist. Und Mina hat diesen Schritt gewagt. Sie hat mein volles Vertrauen und meinen Respekt dafür."
Astrid nickte zustimmend und sah Mina mit einem weichen Lächeln an. „Manchmal muss man seinen eigenen Weg gehen, auch wenn er anders aussieht, als man es sich vorgestellt hat."
„Und der Weg führt dann zu einem YouTuber?" fragte Kjell mit einem herablassenden Ton.
Mina öffnete den Mund, aber ich kam ihr zuvor. „Ja, zu einem YouTuber," sagte ich mit einem festen Lächeln. „Zu jemandem, der Millionen Menschen unterhält, inspiriert und neue Möglichkeiten schafft. Zu jemandem, der hart arbeitet, um seine Ziele zu erreichen. Es mag nicht der klassische Weg sein, aber es ist ein Weg, der mich erfüllt. Und ich bin sicher, Mina findet auf ihrem eigenen Weg ebenfalls ihre Erfüllung."
Kjell wollte etwas entgegnen, doch Astrid legte eine Hand auf seinen Arm. „Lass uns das Essen genießen," sagte sie leise, aber bestimmt.
Für einen Moment hing die Spannung in der Luft, dann senkte Kjell den Blick und griff nach seinem Löffel. Mina atmete hörbar aus und sah mich dankbar an.
Während wir die Suppe aßen, führte Astrid das Gespräch in eine leichtere Richtung. Sie fragte Mina nach ihrer Arbeit, ihren Plänen und ein bisschen über unseren Kurztrip. Mina entspannte sich allmählich, und sogar Kjell schien sich etwas zu beruhigen.
Am Ende des Essens, als die Teller abgeräumt wurden und der Kellner den Nachtisch ankündigte, sah Mina zu mir. Ihr Lächeln war zaghaft, aber echt.
Astrid beobachtete uns mit einem nachdenklichen Blick, während Kjell schweigend in seinen Kaffee starrte. Es war keine einfache Situation, aber ich hatte das Gefühl, dass wir einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gemacht hatten.
Manchmal reichten kleine Siege aus, um die Hoffnung am Leben zu erhalten.
Das Restaurant war erfüllt von leisen Gesprächen und dem Klirren von Besteck, doch an unserem Tisch schien die Zeit stillzustehen. Astrid lehnte sich zurück, ihre Augen suchten meine.
„Ich muss sagen, ich war anfangs skeptisch Ihnen gegenüber, Julien," begann sie. „Aber mir gefällt Ihre entschlossene Art und das Lächeln, das Sie Mina entlocken."
„Dankeschön," antwortete ich höflich und spürte Minas Blick auf mir. Ich drehte mich leicht zu ihr und erwiderte ihr Lächeln. „Sie ist wirklich besonders, ebenso wie ihr bisheriger Lebenslauf." Dann wandte ich mich Kjell zu und hielt seinen Blick fest. „Aber ich hoffe, dass man sie nicht nur auf die Fehler beschränkt, die sie gemacht hat. Denn dann verpasst man das Beste an ihr."
Kjell öffnete den Mund, als der Kellner plötzlich mit dem Dessert erschien und die Stille in einem merkwürdigen Moment einrahmte. Der Duft von Schokolade und Beeren füllte die Luft, doch der Nachgeschmack des unausgesprochenen Konflikts blieb bestehen.
Während wir aßen, war das Gespräch stockend. Mina hielt ihren Blick gesenkt, ihre Hand lag still auf der Tischplatte. Es dauerte eine Weile, bis Astrid erneut das Wort ergriff.
„Wie hat er sich denn auf der Piste geschlagen?" fragte sie mit einem schmunzelnden Blick zu ihrer Tochter.
Mina sah auf und lächelte leicht. „Ich denke, er hat den Dreh fast raus."
„Ich hatte es mir leichter vorgestellt," fügte ich hinzu, „weil ich früher viel Longboard gefahren bin. Aber das ist kein Vergleich."
Astrids Augen weiteten sich. „Oh wirklich? Also sind Sie sportbegeistert?"
Ich nickte. „Ich habe Breakdance gemacht und bin mit ein paar Freunden einmal quer durch Deutschland mit dem Longboard gefahren."
„Ach, wie schön." Astrids Lächeln wurde breiter. „Mina hat früher Ballett getanzt und dann noch mit dem Fechten angefangen. Sie war ziemlich gut darin, also bleiben Sie nett zu ihr." Sie zwinkerte mir zu, was Mina dazu brachte, den Kopf zu schütteln, aber ich konnte das sanfte Lächeln auf ihren Lippen erkennen.
„Danke für die Warnung." Ich lächelte zurück. „Ich hoffe doch, dass ich dich niemals verärgern werde." Mit einem spielerischen Ton beugte ich mich zu Mina und küsste sie auf die Wange.
Sie errötete leicht, und für einen Moment schien alles um uns herum in den Hintergrund zu treten. Ihr Lächeln war echt, doch in ihren Augen lag etwas, das ich nicht deuten konnte. Überraschung vielleicht. Oder ein Hauch von Unsicherheit.
„Ach, die Liebe ist schon etwas Schönes," seufzte Astrid mit einer Mischung aus Nostalgie und Wärme.
Das Geräusch eines Stuhls, der über den Boden kratzte, ließ uns alle aufsehen. Kjell stand auf, sein Handy ans Ohr gedrückt, ohne ein Wort des Abschieds. Mina blickte ihm nach, ihre Miene leer.
„Du kennst deinen Vater, Liebes." Astrid griff nach Minas Hand und legte ihre eigene sanft darauf. Ihre Stimme war warm, mit einem Hauch von Bedauern. „Ich freue mich, dass du jemanden gefunden hast, der dir guttut."
Mina nickte stumm, doch ich bemerkte, wie sie hastig die Tränen aus ihren Augen wischte.
„Danke, Mama," murmelte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Astrid lächelte, ein Ausdruck von mütterlichem Stolz und vielleicht auch von Reue.
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