17
Der Alkohol vom Vorabend hatte bewirkt, dass ich so tief und fest geschlafen hatte wie schon lange nicht mehr. Als ich meine Augen aufschlug, war es kurz vor neun – genau die Zeit, zu der ich am Wochenende immer wach wurde. Die Wohnung war still, was nicht ungewöhnlich war, da Lana bei irgendeinem Typen übernachtet hatte. Sie hatte mir lediglich die Adresse geschickt – unsere eiserne Regel, um sicherzugehen, dass die andere wusste, wo man war.
In der Küche bereitete ich mein Frühstück zu. Heute nahm ich mir ausnahmsweise die Zeit, mein Porridge ordentlich mit Obst zu dekorieren. Das Ergebnis war so hübsch, dass ich ein Foto für Instagram machte, bevor ich es mir auf dem Sofa schmecken ließ. Während ich nebenbei Fernseh schaute, beschloss ich, den Vormittag sinnvoll zu nutzen: Das Bad und die Küche mussten dringend geputzt werden.
Nach ein paar Stunden war die Wohnung endlich sauber, und ich war zufrieden mit mir. Doch dann klingelte es an der Tür. Ich nahm den Hörer der Gegensprechanlage.
„Hallo?"
„DHL, ich hätte hier ein Paket für Ihre Nachbarn. Familie Börner. Würden Sie es annehmen?"
„Ja, bringen Sie es hoch", antwortete ich automatisch und drückte den Summer. Es überraschte mich, dass die Börners ein Paket erwarteten. Mit Mitte achtzig waren sie definitiv keine Internet-Shopper, aber vielleicht stand ja ein Geburtstag bevor.
Ich öffnete die Wohnungstür und wartete. Schritte hallten auf der Treppe, während ich gedankenverloren auf den Fußabtreter vor mir starrte. Der war wirklich abgenutzt; es war höchste Zeit, einen neuen zu besorgen. Vielleicht könnte ich später zu IKEA fahren.
„Ich glaub, ich hab das Paket unterwegs verloren."
Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Mein Kopf schoss nach oben, und mein Blick traf auf Julien – mit seinem unverschämten Grinsen.
„Was machst du hier?" fragte ich entsetzt und spähte gleichzeitig an ihm vorbei zur Treppe, um nach dem vermeintlichen Paketboten Ausschau zu halten. Da war natürlich niemand.
„Ich hab doch gesagt, ich komme vorbei", antwortete Julien und schob mich mit einer Selbstverständlichkeit zur Seite, als wäre er hier zu Hause.
„Wie hast du das gemacht?" stammelte ich, zu perplex, um ihn aufzuhalten.
„Was?" fragte er unschuldig, während er in der Wohnung seine Schuhe auszog.
„Das mit der Stimme. Du klangst eben wirklich wie ein DHL-Bote."
„Ich synchronisiere Figuren. Muss ich dir wirklich erklären, dass man seine Stimme verstellen kann?" Er lächelte, als hätte er mich gerade in einem Kartenspiel ausgetrickst, und lief einfach in den Flur hinein. Sein Blick wanderte neugierig in die Küche.
„Was willst du hier?" fragte ich und folgte ihm, langsam begreifend, dass er genau das tat, was er angekündigt hatte – und zwar auf die Julien-artigste Weise überhaupt.
„Nichts tun." Seine Antwort war so lässig, als hätte ich ihn gefragt, ob er noch einen Kaffee wollte.
„Das kannst du auch bei dir tun", entgegnete ich, wobei ich nun endlich verstand, worauf das Ganze hinauslief.
„Es war dein Wunsch. Ich führe ihn nur aus. Und du hast nicht gesagt, wo ich nichts tun soll." Mit einem zufriedenen Grinsen ließ er sich aufs Sofa fallen, legte die Füße hoch und zog sein Handy heraus.
„Du kannst hier nicht einfach nichts tun!" rief ich, doch er zuckte nur mit den Schultern.
„Doch, ich glaube, das geht hier ganz gut", antwortete er und legte sich noch ein Kissen unter den Kopf.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stemmte mich gegen die aufsteigende Frustration. „Julien, ich meine es ernst. Lana kommt irgendwann nach Hause. Was soll sie denken, wenn Julien Bam plötzlich auf unserem Sofa liegt?"
Er warf mir einen schnellen Blick über sein Handy zu. „Ich kann dir sagen, was sie nicht denken wird."
„Und das wäre?" fragte ich, obwohl ich es besser hätte wissen müssen.
„Dass wir miteinander geschlafen haben. Denn dann würde ich in deinem Bett liegen ... außer ..."
„Stopp!" rief ich hastig und hob warnend eine Hand.
Julien grinste nur breiter. „Du machst es einem auch zu einfach."
Ich massierte meine Schläfen, während ich mich fragte, ob ich ihn einfach rauswerfen oder doch in eine Diskussion verwickeln sollte. Julien hatte eine Gabe dafür, mir gleichzeitig den Verstand zu rauben und mich zu faszinieren – und heute Morgen schien er besonders motiviert, beides zu tun.
„Das hier ist kein Witz, Julien. Ich meine es ernst", sagte ich schließlich und blickte ihn an, doch er schien nicht im Geringsten beeindruckt.
„Weißt du, was dein Problem ist?" fragte er.
„Erleuchte mich."
„Du bist viel zu streng mit dir selbst. Vielleicht solltest du dich einfach mal entspannen."
„Ich bin entspannt", entgegnete ich sofort, auch wenn ich wusste, dass es gelogen war.
Er hob eine Augenbraue, als wollte er sagen: Ja, klar. Dann legte er sein Handy zur Seite, lehnte sich noch weiter zurück und sah mich mit einem Blick an, der mir sagte, dass er so schnell nicht gehen würde.
Ich wusste, dass ich diesen Kampf verlieren würde, aber irgendwie war da ein Teil von mir, der das gar nicht so schlimm fand.
Dennoch wollte ich Julien nicht zu leicht davonkommen lassen. Also ignorierte ich ihn einfach, griff nach meinem Putzlappen und kehrte in die Küche zurück, um dort weiter zu putzen. Wenig später hörte ich, wie er die Fernbedienung fand und den Fernseher einschaltete.
Währenddessen nahm ich mein Handy und schrieb Lana eine Nachricht: „Wenn du dich auf den Weg machst, sag bitte Bescheid."
Ich zögerte kurz, ob ich noch erklären sollte, warum. Doch genau das würde sie erst recht dazu bringen, früher nach Hause zu kommen.
Als die Arbeitsfläche blitzte, schnappte ich mir den Staubsauger und begann die Küche zu saugen. Der alte Discounter-Sauger war laut wie ein Düsenjet – aber das störte mich gerade nicht. Mit einem Plan im Kopf marschierte ich ins Wohnzimmer und begann in aller Ruhe direkt vor dem Fernseher zu saugen, auf den Julien konzentriert schaute.
„Das Ding ist ganz schön laut!" rief er über den Krach hinweg und lachte.
„Sorry, verstehe dich leider nicht!" rief ich zurück und zuckte absichtlich mit den Schultern.
Ich saugte unter dem Tisch und bewegte mich weiter Richtung Sofa. Julien folgte meinen Bewegungen – und als ich nah genug war, schnappte er sich mit einem schnellen Griff mein Haarband.
Ich schaltete den Staubsauger aus und funkelte ihn an. „Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle rauswerfen sollte."
„Ich bin zu schwer." Julien versuchte, ernst zu bleiben, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch.
„Und was tust du, wenn ich gehe? Hier liegen bleiben? Das erklär mal Lana, wenn sie kommt." Mein Triumph war unüberhörbar, und ich hob demonstrativ den Staubsauger, um ihn wegzustellen.
Zum ersten Mal schien Julien keine direkte Antwort parat zu haben. Er starrte mich an, als überlege er ernsthaft, was er tun würde.
Als ich den Staubsauger verstaut hatte, lehnte ich mich in den Türrahmen und musterte ihn.
„Dann komm ich eben mit."
Ich verschränkte die Arme. „Geht nicht. Du musst ja nichts tun. Und ich wollte zu IKEA – das ist eindeutig etwas tun." Ich lächelte ihn herausfordernd an und verschwand in mein Zimmer, um mich umzuziehen.
Vor dem Spiegel flocht ich meine Haare zusammen und tauschte meine Jogginghose gegen eine Jeans. Als ich gerade mein Shirt über den Kopf zog, bemerkte ich eine Bewegung im Türrahmen. Julien stand da – grinsend, selbstverständlich.
„Wie lange stehst du da schon?" fragte ich alarmiert.
„Leider nicht lang genug", sagte er und klang dabei viel zu unschuldig.
„Ich hatte die Tür doch zugemacht."
„Und ich habe sie aufgemacht. Krasse Erfindung, diese Türklinke."
Ich stöhnte genervt und schloss die Augen. „Gott, erschieß mich."
„Lieber nicht. Ich hab mich gerade darauf eingestellt, mit dir zu IKEA zu fahren."
Ich öffnete die Augen und sah ihn kopfschüttelnd an. „Was muss ich tun, damit du mir wenigstens einen Tag Ruhe gönnst?"
„Du hast doch morgen Ruhe von mir. Oder haben wir da auch was vor?" Sein breites Grinsen machte mich misstrauisch.
„NEIN!" sagte ich entschieden.
„Cool." Julien grinste triumphierend und schlüpfte in seine Schuhe, als wäre es längst beschlossene Sache, dass er mitkam.
Ich fühlte mich mit dem Gedanken noch nicht ganz wohl, mit Julien zusammen zu Ikea zu fahren, aber er sah das scheinbar anders. So selbstverständlich wie er sich die Schuhe anzog."Du musst aber fahren, ich darf ja nichts tun" lächelte er und drückte mir seinen Autoschlüssel in die Hand.
"Ich fahr dein Auto nicht" sagte ich sofort und suchte nach dem Schlüssel vom Mini.
"Warum? Da passt mehr rein und außerdem" ich sah wie er den Autoschlüssel vom Mini aus der Jackentasche zog "Hast du gerade kein anderes Auto"
Er hatte mir gestern den Schlüssel abgenommen und nicht wieder gegeben.
"Du solltest lieber anfangen zu beten, dass den Auto nicht den nächsten Laternenpfeiler persönlich kennenlernt" zischte ich und öffnete die Haustür.
Im Auto setzte Julien sich entspannt auf den Beifahrersitz, während ich alles verstellen musste, um überhaupt an die Pedale zu kommen. Sein Auto war geräumiger als mein kleiner Mini, aber das war der einzige Vorteil.
„Entspann dich", sagte er gelassen, als ich vorsichtig aus der Parklücke rollte. „Da sind schon Kratzer im Lack."
Mit dieser Bemerkung legte er seine Hand auf mein Bein. Ich zuckte zusammen und trat reflexartig auf die Bremse – ein Glück, dass wir noch immer auf dem Parkplatz waren.
„Fass mich nicht an, wenn ich Auto fahre!" schnauzte ich.
„Oh, kann dich das etwa ablenken?" Er grinste und ließ seine Hand weiterhin auf meinem Oberschenkel liegen.
„Nein, das tut es nicht!" Ich fuhr wieder an, doch die Hitze seiner Hand brannte förmlich durch den Stoff meiner Jeans. Sie blieb die ganze Fahrt über an Ort und Stelle, und ich zwang mich, das zu ignorieren.
Als wir endlich bei IKEA ankamen, sprang ich förmlich aus dem Auto. Julien folgte mir in aller Ruhe, setzte seine Kapuze auf und schob die Hände in die Taschen.
Selbst im Laden ließ er die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ich konnte nicht anders, als zu sticheln. „Angst, erkannt zu werden, Julien Bam?" fragte ich absichtlich laut.
„Pssst!" Er stieß mich mit dem Ellbogen an und sah sich um, bevor er warnend die Augen verengte.
„Was ist denn, Juli—" Ehe ich den Satz beenden konnte, hielt er mir den Mund zu.
„Mina, wirklich. Sag meinen Namen nicht so laut", zischte er und ließ seine Hand sinken.
Ich grinste triumphierend. „Wenn du dich an meine Spielregeln hältst, ist das kein Problem, Karl."
Er zog eine Augenbraue hoch, als wollte er fragen, ob das mein Ernst war.
„Wir brauchen einen Wagen. Holst du einen?" fragte ich mit einem übertrieben freundlichen Ton.
„Natürlich." Julien drehte sich um und ging los.
„Ach, Karl!" rief ich laut hinter ihm her. Er hielt inne, drehte sich langsam um und sah mich genervt an.
„Du bekommst nachher auch ein Eis von mir!" lachte ich, woraufhin er mir wortlos den Mittelfinger zeigte.
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