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Ich hatte die gesamte Kleidung vom Ständer genommen und sorgfältig auf dem Boden ausgebreitet. Jedes Motiv, jedes kleine Detail hatte ich mir angesehen, bevor ich die zugehörigen Beschreibungen auf der Homepage durchlas. Eternal God war mehr als nur eine Marke – es war eine Welt. Eine Welt voller selbst erdachter Charaktere mit komplexen Hintergrundgeschichten, die erklärte, warum sie so waren, wie sie waren.
Es war faszinierend. Aber auch komplett überwältigend.
Seufzend ließ ich mich zwischen all den Stoffen auf den Boden sinken. Namen wie Marry oder Koya prangten auf den Etiketten, jeder Name ungewöhnlicher als der andere. Diese Aufgabe erwies sich als deutlich schwieriger, als ich erwartet hatte. Ich hatte gehofft, mit ein wenig Recherche voranzukommen, aber es war, als müsste ich mich erst durch eine Doktorarbeit arbeiten, bevor ich überhaupt anfangen konnte.
Ich brauchte Julien. So sehr ich es hasste, das zuzugeben – ohne seine Hilfe würde ich hier nicht weiterkommen.
Um wenigstens etwas Inspiration zu sammeln, konzentrierte ich mich darauf, die bisherigen Videos anzusehen, die für die Marke gemacht worden waren. Aber auch da gab es keine klare Linie. Es gab kurze Clips für den Instagram-Account der Marke, längere Einspieler auf Juliens Zweitkanal, und dann diese genialen, fast versteckten Sequenzen in den Videos seines Hauptkanals. Jede Kategorie war für sich beeindruckend, aber es machte die Sache nicht gerade einfacher.
Frustriert ließ ich mich nach hinten fallen, legte das iPad zur Seite und starrte an die Decke.
„Ich hasse dich, Julien Bam", murmelte ich leise.
„Lass ihn das besser nicht hören", ertönte plötzlich eine amüsierte Stimme. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah Joon, der mich grinsend beobachtete. Bevor ich etwas sagen konnte, legte er sich einfach neben mich auf den Boden.
„Ganz ehrlich", begann ich, „ich dachte, ihr habt ein bisschen Merch, und das war's. Aber das hier ist ja wie eine wissenschaftliche Arbeit – und dann studiere ich ja nicht mal Marketing." Meine Stimme klang genervt, aber ich hatte keine Energie, mich dafür zu entschuldigen.
„Ich glaube, Ju weiß gar nicht, was du studierst. Ihn interessiert sowas nicht", meinte Joon schulterzuckend. „Du bist ein kreativer Kopf, das reicht ihm. Aber ja, das hier ist wirklich eine beschissene Aufgabe."
„Danke, jetzt geht es mir gleich viel besser", entgegnete ich sarkastisch, aber ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht.
„Das hab ich mir gedacht. Schön, dass ich helfen konnte." Er drehte den Kopf zu mir und grinste. „Im Ernst, Mina, du musst nicht alles machen, was er sagt. Gerade Ju braucht Grenzen. Auch wenn es so aussieht, als würden wir alle nach seiner Pfeife tanzen – du glaubst gar nicht, wie oft hier die Fetzen fliegen. Vor allem, wenn er es wieder übertreibt mit der Arbeit."
„Ach ja?" Ich hob eine Augenbraue.
„Morgen ist Samstag", erklärte Joon. „Mach dir ein schönes Wochenende. Es steht kein Dreh an, wir haben keine Frist, die morgen endet, und es gibt absolut keinen Grund, morgen arbeiten zu müssen. Das hab ich Ju auch schon gesagt."
Überrascht sah ich ihn an. Seine Worte fühlten sich an wie ein warmer Lichtstrahl in der kühlen Distanz, die ich bisher gespürt hatte. Thomas war immer nett gewesen, aber Joon ... Joon schien sich tatsächlich für mich einzusetzen.
„Danke", lächelte ich. „Kannst du ihm vielleicht auch noch das Essen später ausreden?"
„Ich fürchte, das steht nicht zur Debatte", hörte ich plötzlich Juliens Stimme hinter uns. Ich zuckte zusammen und setzte mich halb auf.
„Joon, ich hab dich gesucht", sagte Julien, während er auf uns zuging.
Joon richtete sich ebenfalls auf. „Ich hab Mina nur gut zugeredet. Du bringst die Arme ja völlig zum Verzweifeln."
„So verzweifelt sieht sie gar nicht aus", erwiderte Julien und verschränkte die Arme. Seine Augen musterten die ausgebreitete Kleidung um mich herum. „Eher so, als würde sie überlegen, aus allen Hoodies eine Bettwäsche zu machen."
Ich hob meine Hand und zeigte ihm ohne zu zögern den Mittelfinger.
Julien lachte noch immer, während Joon sich aufrichtete.
„Curly hat einen neuen Text geschickt", sagte Julien, diesmal mit einem ernsthafteren Tonfall.
„Ach cool! Mina, komm doch mit", meinte Joon und streckte mir seine Hand hin. An Juliens Körpersprache konnte ich erkennen, dass ihm dieser Vorschlag nicht besonders gefiel.
„Gerne", erwiderte ich mit einem Lächeln und ergriff Joons Hand.
Wir gingen nach unten in einen kleinen Raum neben dem Wohnzimmer. Eine große Glasfront erlaubte einen Blick in den Garten und auf den Pool. Der Garten hatte definitiv Charme, auch wenn er an manchen Stellen etwas Pflege vertragen könnte. Trotzdem gefiel mir die Atmosphäre.
„Ist das für Zahnfee?" fragte Joon, während Julien etwas am Computer öffnete.
„Quatsch", erwiderte Julien mit einem ernsten Gesichtsausdruck. „Das ist dein Song, wenn Ju und Joon im Wald vom Osterhasen angegriffen werden."
Ich biss mir auf die Lippe, um nicht laut loszulachen. Ohne Kontext klang das einfach nur absurd.
„Und welche Bohne nehme ich?" fragte Joon, der offenbar längst in dieses Chaos eingetaucht war.
„Nicht du nimmst sie", korrigierte Julien dramatisch, „sondern das Zepter gibt sie dir." Selbst er schien Mühe zu haben, ernst zu bleiben.
„HDGDL? Alter, das ist doch wieder so ein ‚Ich bin der Fanboy vom Osterhasen'-Kram." Joon stöhnte laut auf.
„Genau!" presste Julien hervor, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Er ließ sich direkt auf das kleine Sofa neben mir fallen und lachte, bis ihm die Tränen kamen.
Nun konnte auch Joon nicht mehr ernst bleiben. „Das ist so dumm, Ju." Kopfschüttelnd las er den Text durch.
Julien verstummte allmählich, während Joon leise vor sich hinmurmelte. Zu meiner Überraschung klang das, was er vortrug, gar nicht so schlecht.
„In der Vollversion steige ich dann ab hier mit ein", erklärte Julien plötzlich, sprang auf und deutete auf eine Textstelle. „‚Hab dich verteidigt bei 'nem Diss, ja, ich war immer loyal.'" Er summte die Zeile, wobei er kaum die Zähne auseinanderbekam.
„Ja, find ich gut", stimmte Joon schließlich zu. „Können wir dann Montag versuchen zu recorden."
„Oder jetzt", schlug Julien vor und warf mir einen schelmischen Blick zu. „Dann bekommt Joon endlich mal ein weibliches Feature."
„Wir haben doch nie..." begann Joon, bis er Juliens Blick folgte und mich ansah.
„Oh nein, ganz sicher nicht!", sagte ich fast panisch. „Ich werde mich hier ganz sicher nicht zum Affen machen."
„Ach komm, nur so zum Spaß", drängte Julien und betonte das letzte Wort absichtlich übertrieben.
„Ich verzichte auf den Spaß", antwortete ich und schüttelte entschieden den Kopf.
Julien verschränkte die Arme und sah mich an. „Dann treffen wir uns morgen für Eternal God. Deine Entscheidung."
„Ju, morgen ist Samstag!", mischte sich Joon mit einem deutlich schärferen Tonfall ein.
„Gut, dann lass ich mir etwas außerhalb der Arbeit einfallen", zuckte Julien mit den Schultern.
„Dann viel Spaß dabei, vor meiner Wohnungstür zu versauern", entgegnete ich fest. „Ich werde dir nicht öffnen – und schon gar nicht werde ich hier singen."
„Erstmal machen wir jetzt Feierabend und gehen hübsch was essen. Dann kannst du deine Meinung wegen morgen natürlich noch ändern", lächelte Julien, bevor er lässig aus dem Zimmer ging.
Joon beugte sich zu mir rüber und flüsterte: „Erwürg ihn bitte nicht, der zahlt manchmal mein Gehalt."
Trotz meines Ärgers konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. „Ich glaube, das macht sich nicht so gut, wenn ich den Chef meines Praktikums erwürge."
Wir verließen gemeinsam den Raum. Julien war bereits damit beschäftigt, seine Sachen zusammenzusammeln und seine Schuhe anzuziehen.
Ich folgte seinem Beispiel und zog meinen Autoschlüssel aus der Jackentasche.
„Ich fahre", sagte Julien bestimmt, nahm mir den Schlüssel kurzerhand aus der Hand und steckte ihn in seine Jackentasche.
Ich starrte ihn perplex an. Wann genau hatte ich eigentlich „Ja" zu diesem Essen gesagt? Und warum konnte ich mich nicht an diesen Moment erinnern?
Mit einem selbstzufriedenen Grinsen hielt Julien mir die Haustür auf und rief ins Haus hinein: „Schönes Wochenende! Joon sagt, dass wir alle frei haben."
Ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie er dieses Grinsen irgendwann noch bereuen würde. Aber fürs Erste ergab ich mich meinem Schicksal, denn ich hatte allmählich hunger.
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Einfach mal danke an dieser Stelle, dass ihr so fleißig hier am lesen und kommentieren seid. Es macht gerade richtig Spaß an dieser Story zu arbeiten :)
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