- 47. KAPITEL -
Ich bin nicht bereit für das reale Leben. Kaum öffne ich meine Augen strömen die vielen Gedanken über bevorstehende Ereignisse in mein Kopf. Lange kann ich mich nicht mehr vor Aydens Rettung drücken. Seufzend schlürfe ich zum Bad, um verträumt mich auf den Tag vorzubereiten.
"Guten Morgen, Per", begrüßt mich Mom mit einem Kuss auf die Stirn. Ich grummle nur vor mich hin und trinke einen Schluck des heißen Kaffees, den sie mir gerade in die Hand drückte. "Werden wir heute nach der Schule uns dem Thema Ayden widmen?", fragt sie weiter, jedoch klingt es mehr als eine Feststellung als eine Frage. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, sie könnte meine Gedanken lesen. Zaghaft nicke ich, da ich mich eigentlich noch nicht dafür bereit fühle, aber ich weiß, dass ich es nicht länger herauszögern kann. "Prima! Das kriegst du schon hin."
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Je näher ich meinem Zuhause komme, desto mehr verspüre ich den wachsenden Widerstand in mir. Widerwillig öffne ich die Haustür, hinter der Mom mich bereits mit offenen Armen empfängt. Sie spürt sofort, dass ich mich unwohl fühle, weshalb sie mich fest in den Arm nimmt. Ich hätte nie gedacht, dass es mir danach so viel besser gehen würde. "Bist du bereit?", fragt sie mich provisorisch, obwohl wir bereits auf dem Weg ins Wohnzimmer sind. Der Anblick lässt mich für einen Moment erstarren. Die Rolläden sind heruntergelassen und das Licht von zahlreichen Kerzen hüllt den Raum in gedämpftes Licht. Der Duft von Sandelholz lässt mich schon nach der ersten Sekunde zur Ruhe kommen. "Setz dich hierhin", flüstert Mom und zeigt auf die Decke, die sie in der Mitte des Raums platziert hat. Ich fühle mich, als würde ich tief in mich hineinfallen. Solch ein Gefühl hatte ich nicht während der zahlreichen Meditationen im Garten, das jetzige Gefühl ist einfach unbeschreiblich. Jedoch will ich mich nicht länger damit befassen, sondern mich einfach dem Moment hingeben. "Schau dir das Bild hier an und versinke darin", weist sie mich weiter an als sie ein Foto von Ayden vor mich hinlegt. Vermutlich hätte ich in jeder anderen Situation darüber gelacht- wie soll ich denn in einem Foto versinken? Doch in diesem Moment weiß ich einfach instinktiv was ich zu tun habe. Vorsicht nehme ich das Foto in beide Hände, streichle mit meinem Daumen über das Abbild und versinke langsam in mir. Als ich meine Augen schließe schießen Gefühle von Angst, Trauer und Wut durch meinen Körper. Ich sehe Männer, die einen gefesselten Jungen vor sich her schubsen. Ich sehe eine steinerne Höhle und einen Jungen, circa so alt wie ich, gefesselt an der Felswand. Der Anblick bringt mich kurz aus der Trance, jedoch reiße ich mich zusammen und versuche meine Energie erneut auf den Jungen zu lenken. Als er den Kopf hebt und ich in seine verschiedenfarbigen Augen schaue gewährt er mir Eintritt in seine Seele. Dankend trete ich ein, noch ein wenig unsicher, was ich tun soll. Als würde es Mom spüren flüstert sie mir zu: "Fühle die Energien um dich herum. Verbinde dich mit ihnen." Noch einmal gehe ich tiefer, spüre vor allem die Erdkraft um mich herum und versuche eine Brücke zu ihr aufzubauen. Das Wichtigste ist jetzt ihn hier raus zu holen. Dazu muss er sich bewegen können. Zuerst muss ich also die Fesseln lösen. Ich nehme alle Kraft zusammen, meine ganze Konzentration liegt auf den Metallketten. Für einen Moment stehe ich der Ohnmacht nahe, als sich die Erdenergie an den Fesseln bündelt und sie zum Reißen bringt. Der erste Schritt ist getan. Gedanklich flöße ich Ayden ein, dass ich ihn retten möchte, dass er zu uns kommen muss und die Steinsplitter mitbringen muss. Wir müssen Elva retten. Es ist schon ziemlich angsteinflößend wie ich ihn nur mit meinen Gedanken durch die Gänge des Felsgefängnisses laufen lasse ohne wirklich zu wissen wo der Ausgang ist. Ich nehme mich wieder ein wenig zurück, um Ayden ein Stück frei zu lassen, sodass er selbst den Weg finden kann, den er sicherlich besser kennt als ich. Jedoch muss ich mich in seinen Gedanken festklammern, um eingreifen zu können, wenn es notwendig wird. Mit wackligen Beinen bahnt sich Ayden den Weg durch den kalten Stein. Immer wieder hält er an, um zu verschnaufen. Er tut mir leid, weil er so lange gefesselt ausharren musste, doch ich treibe ihn an, da ich Angst habe, dass die Kamanas uns begegnen könnten. Und ob ich diesen Kampf schaffen würde steht in den Sternen. Als wir den verbarrikadierten Ausgang erreichen und ich gerade die Erdenergie bündle, um die Steinwand zu sprengen öffnet sie sich von allein. Shit. Welche Energie ist jetzt die Richtige, um den vor Ayden aufgebauten Kamana zu besiegen? Kurzentschlossen wähle ich die friedlichere Variante. Schnell lasse ich eine riesen Liane wachsen, die sich um den Körper des Wachmanns legt und ihn somit fesselt. Ich verspüre Freude und Dankbarkeit, die mir gelten soll. Ich kann es kaum glauben, dass ich geschafft habe. Die Frage, die sich nun stellt ist, wie lange muss ich ihn begleiten oder schafft er selbst den Weg zu uns? Doch als Ayden flüstert: "Danke, den Rest schaffe ich selbst", weiß ich , dass ich mich jetzt zurückziehen kann. Doch eines muss ich noch erledigen. Mit letzter Kraft lasse ich Wasser in sein halb verdursteten Körper fließen und lasse ein paar Obstbüsche und Gemüsepflanzen vor seine Füßen wachsen. "Tschüss. Bis bald", murmele ich und verlasse seine Seele.
Langsam komme ich zu mir. Ich nehme den Geruch des Sandelholzes und das leichte Flackern der Kerzen wahr. Behutsam lasse ich mich auf den Rücken fallen. Ich habe keine Kraft mehr, um mich nur einen Zentimeter zu bewegen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, sondern falle direkt in ein tiefen Schlaf.
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