Kapitel 1


Jeden Tag ging das Mädchen wie versprochen in den Wald. Und jedes Mal, sobald sie den Wald erreichte, schien sich ein Pfad vor ihr zu öffnen, dem sie folgte.

Nicht allzu weit entfernt fand sie sich auf einer Wiese wieder, wo der kleine Fuchs schon auf sie wartete.

Schweigsam näherte sie sich ihm. Aus irgendeinem Grund freute sie sich, ihn zu sehen.

Barfuß ging sie über den warmen Rasen und ließ sie sich darauf nieder. Es kitzelte zwischen ihren Zehen.

Ihr war nicht klar, was sie tun sollte. Sie hatte nur versprochen zu kommen, jedoch nichts Weiteres. Also saß sie nur da.

Tagelang wiederholte sich das Geschehen. Jedes Mal näherte sich der Fuchs ihr etwas mehr.

Irgendwann brachte das kleine Mädchen einen kleinen Ball mit. Sie hatte ihn selbst gemacht und dafür den Zorn ihrer Eltern gespürt. Doch bevor es weiter ausarten konnte, lief sie schon in den Wald.

Der Fuchs kreiste neugierig um den braunen Ball herum, den sie auf den Boden gelegt hatte. Sie bezeichnete es als ein Geschenk für ihn. Er hatte noch nie eins erhalten.

Das kleine Mädchen stupste den Ball an und rollte ihn. Verwundert davon betrachtete er ihn schräg. Dabei fielen ihm die Kratzer an ihren kleinen Händen auf.

»Ich wollte etwas zum Spielen mitbringen«, sagte sie zu ihm. Mit der kleinen Pfote stieß der kleine Fuchs den Ball an. Er rollte ein Stück und vor Überraschung erschrak er zurück. Mit großen Augen schien er an Ort und Stelle zu hopsen.

Die grasgrünen Augen weiteten sich und richteten sich auf den Ball. Und dann setzte der Fuchs zum Sprung an, doch plötzlich fielen Blätter herab und er verschwand darunter.

Mit einmal war ein Blätterhaufen neben ihr und ein Junge mit wilden oxidorangen Haaren tauchte aus den Blättern auf. In seinem Haar hingen Blätter. Seine mandelförmigen Augen waren grün, leuchtend wie der Rasen. Er hatte eine Stupsnase und wirkte so hell wie eine Gänseblume.

Das Mädchen schaute an die Stelle, wo vorhin noch der Fuchs war und nun ein Junge mit dem Ball herumtollte. Sie war überzeugt, dass der Fuchs der Junge war. Und der Junge der Fuchs.

»Du bist der Fuchs«, stellte sie fest und beugte sich mit dem Gesicht vor. Er schüttelte nur den Kopf und sie legte ihren schief. Ihre Mundwinkel zuckten erfreut.

»Ich bin kein Fuchs«, sagte er. Seine Stimme klang genauso sanft wie das Rascheln von Blättern an einem friedlichen Frühlingstag. Sie hatte keine Angst vor ihm. Es kam ihr vielmehr so vor, als würde sie ihn kennen.

»Und wer bist du dann?«, fragte sie neugierig nach. Er setzte sich in den Schneidersitz. Der Ball lag in seinen Händen. »Ich bin der Wald.«

Sie drehte sich zu ihm um. In seinen Händen befand sich der Ball, von den er seinen Blick nicht abwandte.

»Und wer bist du?«, wiederholte sie erneut, »ich bin Jodelle.«

Er hob den Kopf und neigte ihn schräg. »Jodelle«, flüsterte er ihren Namen. Es fühlte sich an, als würde der Wind es mit sich tragen. Sie wartete, auch wenn der Junge nicht angemessen reagierte.

»Ich habe keinen Namen«, murmelte er mit konzentriertem Blick auf den Ball. »Ich brauche hier keinen. Im Wald gibt es nur mich und die Wesen darin.«

Jodelle konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Es schien, als steckte etwas hinter der Fassade.

»Dann bist du hier allein?« Er nickte, ohne aufzusehen. Seine Art schien befremdlich auf sie - so ruhig, aber angenehm.

»Dann würde ich dir einen Namen geben, schließlich bin ich hier«, meinte sie lächelnd. Der Junge mit den oxidorangen Haaren betrachtete sie. Man konnte seine Verunsicherung erkennen, und das nicht nur, weil das Mädchen die Tatsache, dass er der Wald war, nicht in Frage stellte.

»Ich? Einen Namen?«, murmelte er mit schmalen Augen und geneigtem Kopf. Seine grünen Augen leuchteten.

Jodelle nickte und begann nachzudenken. Dann kam ihr eine Idee.

»Was hältst du von ›Darien‹?«, rief sie fröhlich aus. Bei den Namen regte sich etwas in ihm, das er nicht verstand. Noch nie hatte er einen Namen bekommen, mit dem er angesprochen werden sollte. Man kam und ging einfach, ohne ein Wort. Immerhin war er etwas und kein jemand.

Er ließ den Ball sinken.

»›Darien‹«, flüsterte er den Namen, der ihm gegeben wurde. Jodelle lächelte ihn an. »Gefällt die der Name, ›Darien‹?«

Als er den Namen nochmal hörte, betrachtete er sie eingehend. Ein knappes Nicken bestätigte ihre Frage. Mit Worten konnte er weniger gut umgehen, schließlich hatte er noch nie ein Gespräch mit jemandem geführt.

Jodelle reichte ihm ihre Hand. Unsicherer musterte er sie.

»Danke, dass du mir geholfen hast«, sprach sie mit einem Lächeln aus. Darien schaute auf seine Hand und nahm ihre. Ihre Berührung war warm. Das kannte er nicht.

Sein Blick schweifte zu ihrem Handgelenk, wo das Armband zu sehen war, das er ihr gegeben hatte. Mit den Fingern fuhr er entlang des gewundenen dünnen Astes.

Das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte, hätte sie nicht geben müssen. Das Armband erhielt sie grundlos. Es hatte im Grunde keine Verbindung zum Wald, dennoch half es ihr, zu ihm zu gelangen.

Darien sagte nichts. Er konnte keine Worte finden und drückte nur ihre Hand. Seine Augen wanderten zu ihrem Gesicht. Jodelle wirkte erfreut und er verstand nicht, warum. Es gab so vieles, das er nicht verstand.

Er ließ ihre Hand los und widmete sich dem Ball zu.

»Danke«, wiederholte Darien das Wort, das er nicht kannte. In dem Moment erschien es richtig.

Er hatte noch nie etwas bekommen, es wurde ihm immer genommen. Jetzt hatte er einen Namen und einen Ball.

Seine Mundwinkel zuckten ungeniert. Er versuchte, Jodelles Lächeln nachzuahmen, aber bei ihm wirkte es eher wie eine Fratze. Zumindest dachte das Jodelle und brach bei seinem Gesichtsausdruck in Gelächter aus.

Darien betrachtete das Mädchen verwundert. Er verstand sie nicht, und das lag nicht nur daran, dass sie ein Mensch war, sondern auch daran, dass sie mit ihm sprach, anstatt zu flüchten. Sie kam, anstatt nur zu gehen. Sie gab, anstatt zu nehmen. Sie war da. Und er war da. Vielleicht war das auch das, was ihn am meisten wunderte.


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