Kapitel 9
CLINT
Ich nahm Natashas Hand und sie lächelte. Über eine Stunde kraxelten wir nun schon einen ziemlich steilen Abhang hinab – und das auch noch mit dem falschen Schuhwerk!
Doch nach einer halben Ewigkeit, die mir vorkam, als wären wir Jahre unterwegs – ich konnte schon vor meinem inneren Auge den alten Clint mit grauem Haar und vielen Falten sehen – waren wir am Fuß des Berges angekommen.
„Sieh nur! Dort vorne ist ein kleines Dorf!", rief Natasha, die mir ein Stück voraus war und wild winkte und gen Süden zeigte.
Ich folgte ihrem Blick und erblickte ein kleines Village, mit höchstens zehn Häusern. Wenn man sie so nennen konnte, denn es waren eher Hütten als Häuser. Nur aus Holz gebaut. Und nicht sehr stabil wirkend. Aber besser als eine arschkalte Höhle.
Ich seufzte glücklich, nahm Natasha in den Arm und drückte sie an mich. Überglücklich strich ich ihr durch die roten Locken und schloss für einen Moment die Augen, bevor ich sie wieder öffnete.
Da war doch ein Geräusch! Weit entfernt, aber es klang wie ein Motorrad. Die Entführer hatten uns doch nicht gefunden?
„Tasha, wir müssen schnell zum Dorf und uns verstecken, irgendwer kommt und ich befürchte, dass dieser Jemand nichts Gutes von uns will", sagte ich und nahm Natasha an der Hand. Ich zog sie mit mir über die Wiese, auf der viele Steine lagen, denen ich geschickt auswich. Das war eben das, worauf meine Augen und Reflexe trainiert waren.
Plötzlich hörte ich einen dumpfen Aufprall. Sofort wirbelte ich herum und erschrak!
Natasha lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden.
„Tasha", hauchte ich und kniete mich mit zitternden Knien zu ihr.
„Clint", gab sie von sich. „Ich bin über einen dieser Steine gestolpert." Sie versuchte sich aufzusetzen und ich half ihr, dann warf ich einen Blick auf ihren Fuß, den sie sich rieb.
„Ist was gebrochen?"
Sie verneinte. „Aber möglicherweise verstaucht. Tut ziemlich weh. Aber ich schaffe das schon zu den Hütten."
Natasha wollte aufstehen, doch ich schüttelte energisch den Kopf. „Ich riskiere nicht, dass du auch noch mit dem anderen Fuß stolperst und dann gar nicht mehr laufen kannst, Natasha." Vorsichtig hob ich sie in meine Arme und spürte, wie sie zitterte.
„Hey, hat dir doch einen ganz schönen Schreck eingejagt, hm?", fragte ich, während ich sie das letzte Stück zu den Hütten trug.
Natasha nickte langsam und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich spürte ihre Erschöpfung und auch ich war definitiv am Rand meiner Kräfte.
Leise ging ich auf die erste Hütte zu und sah durchs Fenster ins Innere. Niemand zu sehen.
Ich klopfte kräftig gegen die Holztür, doch niemand öffnete.
Nervös sah ich mich um. War das etwa eine Falle? Oder wohnte hier wirklich niemand?
Ich trat ein Stück vom Zaun weg, als mir plötzlich ein Schild ins Auge sprang. Darauf stand: IN VENDITA – ZU VERKAUFEN. Sehr gut! Dann stand dieses Haus wirklich leer!
Ich ging zurück zur Tür und drückte diese herunter. Erstaunlicherweise schwang die Tür mit Leichtigkeit auf und ich runzelte die Stirn. Hatte man es nicht nötig, die Tür zu verriegeln, damit keiner eindrang?
Doch in unserem Fall war es ein Geschenk Gottes, dass diese Tür nicht verschlossen war.
Ich trat mit Tasha im Arm ein und schloss die Tür hinter uns. Es war kühl, aber nicht so kühl, dass man es nicht aushalten konnte.
Die Hütte bestand aus drei Räumen. Ein Ess- und Wohnbereich mit einem kleinen Esstisch, einer Küchenzeile, einer Couch und einem Karmin – über den ich mich sehr freute! Dann gab es ein Schlafzimmer mit einem schmalen Bett und ein Badezimmer. Es war alles nicht das modernste Zeug, doch für uns würde es reichen. Bestimmt gab es hier auch irgendwo ein Telefon, mit dem man bei Fury anrufen konnte.
Doch zunächst legte ich Natasha sanft auf dem Bett ab. Sie hatte ihre Augen halb geschlossen und die Schmerzen schienen ihr zu schaffen zu machen.
Ich suchte im Bad nach einem Verbandskoffer, den ich nach kurzem Suchen auf einem Regalbrett fand. Auch er war nicht mehr auf dem neuesten Stand, doch für das, was ich benötigte, reichte es.
In einem Kühlschrank fand ich außerdem Eiswürfel, die ich in ein Geschirrhandtuch legte, bevor ich es um Natashas verletzten Fuß legte.
Dann kümmerte ich mich um die Handgelenke. Ich desinfizierte die Wunde, was Natasha sehr weh tat, bevor ich Verbände um ihre Handgelenke wickelte.
„Ruh dich aus, ich sehe mich mal um, okay?", sagte ich und deckte sie mit der Decke, die auf dem Bett lag, zu.
Wundern tat es mich schon, warum der Kühlschrank Strom hatte, so stand dieses Haus doch zum Verkauf. Und normalerweise war der Strom dann ausgeschaltet, wenn niemand hier war.
Ich ging zum Herd, den man mit etwas Feuer anzünden konnte. In einem Schrank fand ich Feuerhölzer.
Komisch. Dieses Haus war eingerichtet, als würde jemand hier wohnen. Ich fand sogar Nahrung, die noch haltbar war, die ich in einem Topf kochen konnte. Etwas zu essen würde mir und Tasha sicherlich guttun.
Ich entfachte ein Feuer auf dem Herd, stellte den Topf darauf und gab eine Suppe, die nur noch aufgewärmt werden musste, hinein. Mit einem Löffel rührte ich die Suppe gelegentlich um, bis sie heiß war.
Aus einem weiteren Schrank holte ich zwei Teller, wischte sie zur Sicherheit einmal mit einem Tuch ab und gab dann die Suppe auf die Teller.
Schließlich ging ich ins Schlafzimmer, wo Natasha an die Decke starrte. Sie schlief also nicht. Ich hatte gehofft, sie sei eingeschlafen, vor allem wegen den Schmerzen.
„Hey, ich habe Suppe gekocht, du hast doch bestimmt Hunger", sagte ich leise und strich ihr sanft übers Haar.
Natasha nickte und setzte sich mit meiner Hilfe auf. Ich hob sie in meine Arme und trug sie zum Esstisch, wo ich sie auf einen Stuhl setzte.
„Wie geht es deinem Fuß?", fragte ich.
„Er tut weh", brachte Natasha heraus. „Ich kann gar nicht richtig laufen."
Ich seufzte. Hoffentlich würde es ihrem Fuß schnell besser gehen.
Schweigend setzte ich mich zu ihr an den Tisch und wir aßen schweigend unsere Suppe.
Nachdem wir die Suppe gegessen hatten, fühlte ich mich etwas wohler. Zumindest hatten wir jetzt etwas Warmes im Magen und einen Ort, an dem wir uns vorerst verstecken konnten. Doch die Ungewissheit darüber, wer oder was draußen auf uns wartete, nagte an mir.
Ich beschloss, nach einer Möglichkeit zu suchen, Kontakt mit Nick Fury aufzunehmen. Vielleicht gab es hier ja tatsächlich ein Telefon oder sogar einen Computer mit Internetzugang – an zweiteres glaubte ich aber weniger. Die Idee, einfach hier zu bleiben und abzuwarten, bis uns jemand fand, war keine Option.
„Natasha, ich werde mich kurz umsehen, ob ich hier irgendein Kommunikationsmittel finde", erklärte ich leise, während ich die leeren Suppenteller wegräumte.
Sie nickte verständnisvoll, aber ich konnte den Anflug von Besorgnis in ihren Augen sehen. Sie wollte nicht alleine gelassen werden, besonders nicht in dieser Situation.
„Hey, ich sehe mich nur kurz draußen um, ob es ein Telefon gibt. Ich bin in ein paar Minuten zurück, okay? Ich lass dich nicht allein." Damit verließ ich das Haus, auf der Hut vor möglichen Feinden. Doch finden tat ich nichts. Es gab hier einfach kein Telefon.
Sicherheitshalber überprüfte ich mein eigenes Smartphone. Kein Netz. Und nur noch zehn Prozent. Scheiß Mobilgeräte. Wenn man sie einmal brauchte, gaben sie ihren Geist auf. Ich musste mir diese zehn Prozent gut einteilen.
Frustriert kehrte ich zu Natasha in die Hütte zurück und berichtete ihr von meinem ernüchternden Ergebnis.
„Was machen wir denn jetzt?", fragte Natasha, in ihrer Stimme lag ein Hauch von Angst.
Ich kniete mich vor sie und nahm ihre Hand. „Alles wird gut, Tasha, okay? Ich werde alles tun, um dich in Sicherheit zu bringen, und wenn ich dafür sterbe."
„Nein, du darfst nicht sterben", sagte sie schnell. „Ohne dich ist mein Leben sinnlos."
„Du bist süß." Ich musste tatsächlich schmunzeln. Dann erhob ich mich und befasste mich mit dem Karmin. Hinter dem Haus fand ich Brennholz, und mit den Feuerhölzern aus dem Küchenschrank hatte ich bald ein Feuer im Karmin entfacht und es wurde mollig warm im Raum.
Ich trug Natasha zum Sofa und setzte mich neben sie.
„Warum läuft auf dieser Mission eigentlich alles schief?", fragte sie schließlich und lehnte sich gegen mich, schloss die Augen.
Ich strich ihr beruhigend über den Rücken, während ich über ihre Frage nachdachte.
„Manchmal sind Dinge einfach außerhalb unserer Kontrolle, Tasha", antwortete ich schließlich leise. „Aber das Wichtigste ist, dass wir zusammenhalten und einen Ausweg finden. Wir haben schon Schlimmeres überstanden."
Natasha seufzte und nickte leicht. „Ich weiß, aber es fühlt sich an, als wäre das alles zu viel."
Ich drückte sie sanft an mich. „Wir werden einen Weg finden, das verspreche ich dir. Aber jetzt sollten wir erstmal etwas Schlaf bekommen. Morgen werden wir klarer denken können."
Sie nickte zustimmend und lehnte sich an meine Schulter, ich strich ihr weiter über den Rücken.
Ich schreckte aus dem Schlaf. Scheiße! Wie spät war es? Ein Blick auf mein Handy verriet mir: Es war mitten in der Nacht. Kurz nach drei.
Warum war ich aufgewacht? Tasha schlief friedlich in meinen Armen und das Feuer war längst ausgegangen.
Ich sah mich um – und erschrak. Draußen schlichen Personen um die anderen Hütten! Sie hatten Taschenlampen und suchten nach etwas.
„Tasha, wach auf!", flüsterte ich sofort und schüttelte sie sanft an den Schultern.
Müde rieb sie sich die Augen und richtete sich auf. „Was ist los?"
„Da draußen sind Leute. Wir müssen hier weg. Kannst du laufen?", wisperte ich und sammelte alle Sachen, die wir noch brauchen können, zusammen und stopfte sie in eine Tasche, die ich unterm Bett gefunden hatte.
Natasha testete währenddessen, ob sie laufen konnte, doch als ich sie ansah, schüttelte sie den Kopf. Tränen traten in ihre Augen.
„Hey, süße, nicht weinen!", flehte ich und nahm sie fest in den Arm.
„Ich bin nur eine Last für dich, lass mich hier. Ich kann nicht laufen, wie sollen wir fliehen?"
„Hey. Erstens: Ich würde dich nie allein lassen, und zweitens: Kannst du wirklich nicht laufen?"
Natasha schüttelte kräftig ihren Kopf. „Es tut so furchtbar weh, ich brauche mich auch nur ganz leicht darauf zu stützen. Es geht nicht." Sie weinte stark und vergrub ihr Gesicht in meinem Pullover.
Ich sah hinunter zu ihren Füßen. Sie hatte den verletzten Fuß nicht mal auf den Boden gestellt, hielt ihn etwas in die Luft. Es musste wirklich weh tun. Was sollte ich denn jetzt machen? Da draußen waren möglicherweise Leute, die uns suchten, und sie würden sicherlich auch diese Hütte durchsuchen.
Ich drückte Natasha fest an mich, um sie zu trösten. Sanft strich ich ihr durchs rote, lockige Haar und grübelte und grübelte.
Wir saßen in der Falle!
Geschrieben von Alexandra
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top