Kapitel 8

Man sollte meinen, Menschen kämen durch intime Momente oder durch emotionalen Austausch sich näher. Bei uns war das ganz anders. Nach unserer Umarmung hinter dem Club redete Ladislao kein Wort mehr mit mir. Er distanzierte sich. Ebenso sagte ich auch nichts. Ich war generell nicht der gesprächige Typ. Wenn man so lange einsam lebte, dann war es unausweichlich, dass man eher stumm wurde. Die Zeit in dieser Villa veränderte mich, jedoch wusste ich nicht, ob ins Gute oder Schlechte.

Leise zog er sich im Schrank um und machte es sich auf der Couch gemütlich. Sollte das eine stille Geste sein, dass das Bett mir gehörte? Ich sagte nichts zu ihm und zog mich um. Im Bad duschte ich noch. Das, was ich hier am meisten liebte, war das Duschen. Heißes Wasser beruhigte und entspannte mich. Noch nie hatte ich mich über eine so lange Zeit frisch gefühlt. Ich fand es bezaubernd. Die ganzen Düfte der Shampoos und Duschgels. Die Creme und Pflegeprodukte, mit denen mich Camilla bekannt gemacht hatte. Meine Haut fühlte sich ganz anders an, viel seidiger, weicher. Ich ließ einfach so das Wasser auf mich herab prasseln. Es fühlte sich schön an. Was würde passieren, wenn Ladislao mich rausschmeißen würde? Wenn er mich nicht mehr wollen oder brauchen würde? Ich wollte nicht mehr auf die Straßen, nachdem ich das alles gekannt und genossen hatte.

Alte Erinnerungen nahmen meine Gedanken ein. Es war nicht einfach dort draußen zu überleben. Viele Gangs, Gruppierungen oder Leute, die sich Territorien aneigneten. Man durfte ihre Grenzen nicht überschreiten. Diese Plätze gehörten ihnen. Man würde meinen, auf den Straßen lebte jeder Penner da, wo er einen Schlafplatz fand. Nein, so einfach war das nicht. Snake war so etwas wie unser Boss. Ein Kleinganove. Wir klauten und bettelten. Unsere Beute gehörte ihm. Er wusste genau, wie viel man an einem Tag je nach Branche durchschnittlich einkassieren konnte, also konnte auch keiner ihn großartig über den Tisch ziehen. Jeder bekam einen Anteil, wobei natürlich Snake den höheren einnahm. Wenn man nicht mitmachte, dann hatte man auch kein Zuhause. Diese eine Gasse war mein Zuhause. Es gab viele, die mit mir dort lebten, aber ich freundete mich mit niemandem an. Sie waren nicht vertrauenswürdig, denn jeder dachte nur an sich, was in dieser miserablen Lage auch verständlich war. Ich brauchte niemanden, der mir eventuell irgendwann in den Rücken fiel. Die Leute mussten um ihr Leben kämpfen. Keine Gnade, kein Mitgefühl. Teilen oder sowas wie Zusammenleben gab es nicht. Man war auf sich allein gestellt und musste um alles mit seinem Leben kämpfen, wenn man durchkommen wollte.

Diese Erinnerungen erdrückten mich. Wie wertlos unser Leben doch war. Es gab genug Leute, die wegen Unterernährung oder Krankheiten, wie Leichen herumlagen. Keiner tat etwas. Keiner kümmerte sich um sie. Wenn einer starb, schmiss man ihn im besten Falle in eine große Mülltonne, irgendein Jogger fand ihn und die Polizei tat so, als würde sie ermitteln. Was ermittelte sie? Suchte sie nach einem Mörder? Nach einem Schuldigen? Den hätte ich auch gerne kennengelernt. Denjenigen, der Schuld daran war, dass ich heimat- und obdachlos war. Wer war ich wirklich? Konnte man sich diese Frage beantworten? Würden wir ein anderer Mensch sein, wenn wir unter anderen Bedingungen aufgewachsen wären?

Ich bekam allmählich Kopfschmerzen. Nicht mal das Wasser entspannte mich. Ich ging aus der Dusche und cremte mich ein. Bodylotion hieß das. Wenn ich an mein Leben dachte, kam ich mir in dieser Situation dumm vor. Mit was ich mich hier beschäftigte. Aber irgendwie gefiel es mir auch. Dadurch fühlte ich mich wie ein anderer Mensch und blendete mein eigentliches Ich aus. An die Zeit bis vor knapp zwei Wochen wollte ich nicht mehr denken. Mir ging es nun gut.

Meinen Bademantel angezogen lief ich ins Zimmer und setzte mich auf den Boden neben der Couch und blickte auf den Bildschirm. Ladislao sah gerade eine Dokumentation an. Keine Ahnung, um was es in dieser ging. Mein Blick war darauf gerichtet, jedoch war ich mit den Gedanken völlig woanders.

Suchte Snake nach mir? Oder war es ihm egal? Dachte er vielleicht, dass ich tot war? Das wäre das Beste. Ach, was dachte ich mir nur? Wen juckte es schon, wo ich war oder was ich tat? Als ob sich Snake über mich Gedanken machen würde. Er schaute doch nur auf sein Geld und da ich eh nicht mehr dort war, konnte er mir nichts anhaben. Zumindest hoffte ich das.

Ich wollte nicht mehr daran denken und sah hoch auf die Couch. Ladislao schlief bereits. Einen Arm hatte er nach oben gewinkelt, wobei seine Hand unter seinem Kopf lag. Er schnalzte in dem Moment mit der Zunge, was mir ein Grinsen auf das Gesicht zauberte. Ich setzte mich an die Kante des Couchtisches, um ihn besser zu sehen. Um den Mann besser zu sehen, der mich aus meinem erbärmlichem Leben befreit hatte. Es leuchtete mir nicht ein, wieso er mir das alles schenkte. Beim besten Willen konnte ich mir keinen Grund ausdenken. Klar, er hatte einen Eigennutzen, aber dieser war noch lange nicht so groß wie der, den ich genießen durfte.

Er hatte wieder nur eine Schlafhose an und sein anderer Arm hing vom Sofa herunter, den ich wieder hoch legen wollte. Also nahm ich seine Hand in meine und ein wohliges Gefühl breitete sich dabei in mir aus. Dieser Mann hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich wollte seine Hand nicht mehr loslassen, weshalb ich sie fester umschloss, aufstand und mich neben seinen liegenden Körper setzte. Ein bedrängendes Gefühl in mir wollte ihn berühren. Seine Hand legte ich auf meinen Schoß. Ganz zart fasste ich an seine Brust und fuhr weiter hoch. Meine Fingerspitzen liefen den Konturen seines Schlüsselbeins nach. Wie konnte ein Mann so schön sein? Er sah aus wie eine perfekt gemeißelte Statue.

Mich erfasste eine Hitze, als ich seinen Kinn nach fuhr. Oh, mein Gott! Was passierte mit mir? Was machte ich da gerade nur? War ich von allen guten Geistern verlassen? In dem Moment, als ich seine Lippen berührte, fasste er schnell mein Handgelenk und drückte mich mit dem anderen Arm an meinem Hals auf die Rücklehne. Ich erschrak und schnappte nach Luft. Er sah mir eisern in die Augen, als würde er mich erwürgen wollen. Alles passierte so schnell, dass ich nichts realisieren konnte.

"Was sollte das?", knirschte er mit seinen Zähnen.

"Ich... ich.."

Ja, du was? Scheiße, was sollte ich sagen? Wie konnte man sich aus so einer Situation herausreden?

"Was?", fragte er wütend.

"Du... du hattest... äh, du hattest ein Härchen auf deinem... äh deiner", stotterte ich irgendetwas Sinnloses vor mich hin.

"Geh jetzt schlafen und fasse mich nie wieder so an", zischte er leise, wobei sein Atem bei jedem Wort mein Gesicht streifte, was mir eine Gänsehaut bescherte.

Wir sahen uns noch einige Sekunden in die Augen, bevor er mich losließ und ins Badezimmer lief. Erleichtert atmete ich aus. Das war knapp. Was hatte ich nur getan? Was stimmte nicht mit mir? Ich war eindeutig nicht mehr ich selbst. Die ganze Situation war mir extrem peinlich, weshalb ich mir schnell meine Schlafsachen anzog und mich ins Bett legte. Die Decke zog ich mir bis zum Kopf hoch.

Er kam aus der Toilette und legte sich auf die andere Seite vom Bett. Ich blieb mucksmäuschenstill und stellte mich schlafend. Ladislao sagte nichts mehr und nach einer gewissen Zeit hörte ich seinen regelmäßigen Atem, welcher wie ein Wiegenlied mich schläfrig stimmte und ich in Kürze in das Land der Träume versank. Das war ein wirklich komischer Abend gewesen.

Als ich wieder wach wurde bemerkte ich, dass es draußen noch dunkel war. Ich setzte mich auf und Ladislao kam in einem perfekt sitzenden Anzug aus der Garderobe und knüpfte sich seine Ärmel zu. Er bemerkte, dass ich ihn ansah. Mit seinem Blick auf mir blieb er stehen und steckte seine Hände in seine Hosentaschen.

"Morgen", flüsterte ich leise.

"Schlaf noch, es ist ziemlich früh", meinte er daraufhin nur und steuerte auf die Tür zu.

"Wohin gehst du?", fragte ich ihn und realisierte erst im Nachhinein meine Frage.

Oh Mann, war ich blöd. Ich hätte mir auf die Stirn klatschen können.

"Arbeit", sagte er monoton und lief heraus.

Froh darüber, dass er nicht wieder wütend wurde, legte ich mich zurück und versuchte einzuschlafen, aber es gelang mir nicht. Meine Gedanken kreisten umher. Ich dachte an nichts Bestimmtes, aber fand dennoch keine Ruhe. Obwohl ich müde war, konnte ich nicht an den Schlaf denken. Ich wälzte mich unruhig im Bett und so landete ich versehentlich auf Ladislaos Kissen. Sein männlicher Geruch umhüllte mich. Er hatte einen schneidenden Geruch wie Minze. Das Kissen mit meinen Armen umschlossen legte ich meinen Kopf darauf. Irgendwie beruhigte mich das. Seinen Duft inhalierend schlief ich wieder ein.

***

Mein Hals war trocken. Meine Augen brannten. Ich wollte an die Nacht nicht denken und verbot mir, in Trauer zu versinken. Aber wie sollte man sich an so einen Vorsatz halten, wenn man keine Ablenkung hatte?

Marina brachte gerade das Essen. Ich hatte noch nicht gefrühstückt.

"Kannst du mich nach dem Essen in den Garten bringen?", fragte ich sie.

"Aber natürlich. Wir waren lange nicht mehr draußen", erwiderte sie.

Ich nickte daraufhin nur und aß etwas auf. Danach machten wir uns auf den Weg. Im Haus gab es einen Aufzug, mit dem wir einen Stockwerk herunter fuhren. Draußen angekommen sog ich tief die Luft ein und genoss die morgendliche Frische. Der Geruch von Laub und Gras stieg mir in die Nase.

Es gab hier einen riesigen Garten. Ein Pavillon stand weiter hinten. Ein ausgebreiteter Teich nahm den Rasen ein, worüber sogar an einer schmaleren Stelle eine kleine Brücke lief. Früher hatte ich hier sehr oft die Fische im Teich gefüttert. Wegen unseren Feinden durfte ich nie alleine unterwegs sein. Und wenn mich die vier Wände wieder einmal beengten, kam ich hier her und genoss die Natur. In dieser Gegend fühlte ich mich frei und sorglos. Die schönen und vielen Fische lenkten mich damals ab.

Die Wachen musterten mich, wenn ich mit Marina heraus lief. Die meisten erkannten mich nicht wieder und wenn doch, waren sie nicht befugt, Fragen zu stellen. Schließlich sah ich auch damals anders aus und wenn sie mich mit Ladislao sahen, dann war ich immer hübsch herausgeputzt. So elendig wie ich nun aussah, würde mich nicht mal mein Vater erkennen.

Mit Marina hinter mir rollte ich weiter über die kleine Brücke und kam auf der anderen Seite des Teiches an. Heute gab es keine Lebewesen mehr darin. Mit mir sind auch sie gestorben. Der Garten war längst nicht mehr so gepflegt wie er einmal gewesen war. An sich traurig, aber mir war das alles nicht mehr so wichtig.

Das Tor am Zaun zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Von dort aus war ich immer abgehauen, wenn ich zu James wollte. Zwar standen dort auch immer Wachen, aber Marina half mir, indem sie sie ablenkte und ich flüchtete.

Die Erinnerung an den einen Tag fiel über mich ein, als ich dachte, unentdeckt mich heraus geschlichen zu haben. Denn tatsächlich hatte mich einer gesehen. Und was machte dieser eine loyale Untertan? Genau, er erzählte es seinem König, seinem Boss. Hätte ich nur achtsamer sein können. Hätte ich vielleicht mich an einem anderen Tag getroffen. Nicht die geringste Ahnung hatte ich darüber, wie es anders geendet wäre. Wie sollte man auch Möglichkeiten der Zukunft abwägen? Wenn wir nur wissen könnten, was aus unseren Taten resultierte, dann würden wir wahrscheinlich Vieles anders angehen. Aber diese Chance hatten wir nun mal nicht.

Erinnerungen kamen hoch. Ich schloss meine Augen. In dem Moment spürte ich schon fast James bei mir, wie er mich küsste, mich manchmal einfach nur umarmte und mich liebte.

Unsere gemeinsamen Nächte, wie er mir immer wieder aufs Neue seine Liebe gestand. Keiner hatte mich je so behutsam und wertvoll behandelt wie er. Er liebte mich mit jeder Faser seines Körpers und das ließ er mich ebenso auch spüren. Nicht wie Ladislao, der sich selbst etwas vormachte, mich zu lieben und nur aus seinem Sturkopf heraus mich heiraten wollte. Nicht wie Alfonso, der jedes Mal die Situation ausnutzte und mich gegen meinen Willen nahm. Mein Lieber war ganz anders. Er ließ mich fühlen, was wahres Glück war, was Liebe war.

James... Mein Herz entzweite sich, schlug schneller. Pumpte das Blut wie wild. Ich rang nach Atem. Ich hechelte.

"Angelie?", rief Marina panisch. "Angelie, was ist nur los?"

Ich konnte nichts mehr wahrnehmen. Mein Blickfeld verschwamm. Tränen liefen meine Wange herunter. Mein Kinn zitterte. Meine Brust bebte bei jedem Atemzug.

"Los, hilft mir!", hörte ich einen Schrei weit weg von mir.

Ich war nicht mehr bei mir. Schwarze Punkte traten vor meine Augen. Dann fiel ich in die Dunkelheit. Das Letzte woran ich dachte, war James' Gesicht. Mein Lieber, wie gerne würde ich bei dir sein...

***

Von draußen drangen Rufe zu mir. Ich fragte mich, was los war und setzte mich auf. Aus dem Fenster konnte ich in den Garten blicken und bemerkte, dass ein paar Männer in eine Richtung rannten. Diese Marina rief die ganze Zeit nach Hilfe. Was ist denn los?  Ich erkannte neben Marina den Rollstuhl und dass die Frau darauf zur Seite gekippt war. Ihr Kopf hing schlaff nach rechts. Ist sie ohnmächtig? Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber regungslos wollte ich nun auch nicht bleiben. Ich rannte herunter in den Garten und ergriff das Wort. Viele standen ahnungslos da, wussten nicht ganz, wie sie handeln sollten.

"Bringt sie herein!", rief ich zwei Männern zu, die neben mir standen.

Sie gehorchten und der eine nahm die Frau auf seine Arme, wobei der andere den Rollstuhl vor sich her schob. Wir liefen wie eine Karawane in das Haus.

"Schnell, leg sie auf das Sofa", befahl ich dem Mann, der Angelie trug.

Ich erinnerte mich wieder an ihren Namen.

"Bringt kaltes Wasser und ein Tuch vielleicht!", schrie ich die Leute um mich herum an. "Hat sie irgendwelche Medikamente?"

"Nein, sie hat eigentlich keine chronische Krankheit", antwortete mir Marina. "Ich rufe ihren Arzt an."

Jemand brachte mir eine Schüssel voll kaltes Wasser und ein Tuch. Ich tunkte dieses ins Wasser und befeuchtete damit den Nacken und die Stirn von Angelie, damit sie eine Abkühlung bekam. Was war los mit ihr, dass sie umkippte, obwohl es ihr an nichts fehlte?

"Bringt auch noch was zum Trinken", rief ich.

Ich tupfte weiter mit dem kalten Tuch die Frau vor mir ab. So langsam bewegten sich ihre Lider. Zum Glück kam sie zu sich. Ich machte nochmal den Lappen kalt und legte es ihr auf die Stirn.

"James...", flüsterte sie.

Sie tat das so leise, dass gerade mal ich das mitbekam. Die anderen im Raum schienen es nicht gehört zu haben. Wer war James? Immer wieder kam etwas Neues. Bei den Neuigkeiten konnte man nun wirklich nicht mithalten. Ich setzte ihr das Glas an die Lippen, damit sie am Wasser nippen konnte, was sie dann auch glücklicherweise tat. In dieser Sekunde brach ein Mann hektisch durch die Tür.

"Wo ist sie?", fragte er in Eile.

Marina zeigte daraufhin auf uns und der Mann kam her gerannt. Ich stand auf und ließ ihn seine Arbeit machen. Er maß ihren Blutdruck und sonst noch alles. Ich verstand nun auch nicht ganz, was der gute Herr da tat, weshalb ich nur Angelie betrachtete.

Als ich sie das erste Mal von Weitem gesehen hatte, hatte ich nicht bemerkt, wie viele Sorgenfalten sie im Gesicht hatte. Diese Frau hatte viel gelitten. Man sah ihre Last ihr irgendwie an. Sie kam mir damals wunderschön vor, jedoch merkte ich gerade, wie kaputt sie eigentlich war. Sie hatte eine reife Ausstrahlung. Wie verloren wirkte sie auf mich, als hätte sie ihre ganze Lebensfreude verloren oder aufgegeben. Vielleicht war das auch so.

Irgendwie fühlte ich mich etwas fehl am Platz und somit stieg ich die Treppen hinauf. Im Zimmer angekommen lotste ich mich auf das Sofa und starrte die Wand vor mir an.

In diesem Haus passierten eindeutig viele verwirrende Sachen. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top